Warte auf die Antwort aus dem Hexenkessel

"Zehn Wahrheiten" der Allround-Künstlerin Miranda July

Von Christina LangnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Langner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Kurzgeschichtenband "Zehn Wahrheiten" ist Miranda Julys literarisches Debüt. Zuvor hat sie sich bereits in vielen möglichen Kunstformen ausgedrückt und das immer mit so großem Erfolg, dass man doch geneigt ist, zu fragen, welche geniale Marketingstrategie wohl dahinter steckt. Der Öffentlichkeit wurde July vor ein paar Jahren als Performance- und Videokünstlerin bekannt, es folgte ihr Spielfilmdebüt "Ich und du und alle, die wir kennen", für das sie nicht nur das Drehbuch schrieb, sondern bei dem sie auch noch Regie führte und in dem sie die Hauptrolle spielte. 2005 wurde der Film in Cannes mit der Caméra d'Or ausgezeichnet. Der Bildband "Learning to Love You More" dokumentiert ihr gemeinsames Internet-Kunstprojekt mit Harrell Fletcher, an dem sich jeder beteiligen konnte und dies auch weiterhin tun kann.

"Zehn Wahrheiten" erschien im vergangenen September in Amerika unter dem Titel "No One Belongs Here More Than You" und wurde sogleich mit dem höchstdotierten Kurzgeschichtenpreis, dem Frank O'Connor Award, bedacht. Die eigens für diesen Band eingerichtete Website ist ebenso zu empfehlen wie die Seite der Künstlerin selbst.

Wir dürfen dankbar sein, dass die deutsche Übersetzung von Julys Erzählungen nicht lange auf sich warten ließ. Die Autorin ist ein kleines Talentwunder und gehört wohl zu den Menschen, die für alles, was sie tun, wie geschaffen sind. Mit ihren großen, blauen Augen und der zarten, blassen Haut ist sie von derselben irritierend-charmanten Aura umgeben wie ihre Kurzgeschichten: kühl und liebenswürdig, schön und verschroben, tieftraurig, aber immer mit einem haarscharfen Timing für Humor.

"Instant-Kakao ist BEDEUTUNGSLOS." Das erfahren wir in der Geschichte "Mon Plaisir". "BEDEUTSAM sind Buddhismus, richtige Ernährung und die Seelenlandschaft." Die Ich-Erzählerin und ihr Mann sind sich nicht nur in diesen Punkten einig. Die Nachbarn, die kunstvolle Figuren in ihre Hecken schneiden, sind ihnen suspekt, den Rasen mäht das Paar nur, damit sich keiner beschweren kann - sympathisch! So unkonventionell und modern, und doch haben sie ein Problem: Sie haben keinen Sex mehr. Sie nuckeln nur noch: "Mein Kopf will Sex, aber meine Vagina wartet nur darauf, das nächste Mal pinkeln zu gehen. Sie glaubt, ihre einzige Aufgabe im Leben sei pinkeln."

Trotz ihrer ewig langen Selbstanalysen, erkennen die Ich-Erzählerin und ihr Mann den Grund ihrer innerlichen Verzweiflung erst, als sie bei einem Filmdreh ein verliebtes Paar spielen, das sich in einem französischen Nobelrestaurant gegenübersitzt. Sobald die Kamera läuft, flirten sie ungehemmt und erkennen plötzlich, was Liebe, Lust und Leidenschaft eigentlich bedeuten, und eben dass es zwischen ihnen keine Liebe, keine Lust und keine Leidenschaft mehr geben wird. Das mitreißende und bestürzende Ende einer schrecklich unglücklichen Ehe.

Auch die Figuren in Julys anderen Geschichten sind einsam, gelangweilt und überfordert. Und alle sind sie getragen von dieser "Sehnsucht nach neuen Ungewohnheiten", dieser "unausgesprochenen Wut auf nichts Konkretes", diesem "Gefühl, dass es eine 'nächste Ebene' gibt", auf der man sich befinden sollte, es aber nicht tut. Ihre Sehnsucht oder einfach der Versuch, das Leben irgendwie auszuhalten, treibt sie zu den seltsamsten Fantasien und Handlungen an. Ihre Träume dominieren dabei zumeist die Realität. Die Ich-Erzählerin von "Majestät" etwa überlegt ernsthaft, wie sie es schaffen könnte, Prinz William zu treffen und ihn zu überzeugen, seinen Kopf zwischen ihre Pobacken zu drücken. Eigentlich wissen sie alle, was zu tun wäre, um das eigene Leben in die richtige Richtung zu lenken, und alle machen sie immer wieder denselben Fehler: Sie rufen zwar "Hallo" in den Hexenkessel Welt hinein, doch sie warten die Antwort nicht ab.


Titelbild

Miranda July: Zehn Wahrheiten. Stories.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann.
Diogenes Verlag, Zürich 2008.
272 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783257066050

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