Der vergessene Literaturkritiker

Christoph von Ungern-Sternberg recherchierte für seine Willy-Haas-Biografie auf drei Kontinenten

Von Marion HulverscheidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marion Hulverscheidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Willy Haas (1891-1973), der Gründer und Herausgeber der "Literarischen Welt" ist heutzutage fast in Vergessenheit geraten, sieht man davon ab, dass sein Name einen Filmpreis und den Literaturpreis des Springer-Verlages schmückt. Die von Ungern-Sternberg vorgelegte Arbeit erklärt, warum dieser Literaturkenner in Vergessenheit geraten konnte. Die Biografie dieses Wanderers zwischen den Welten ist schwerlich fassbar. Haas war nicht nur kriegsbedingt ein globalisierter Kultureller, dessen Spuren sich von Prag über Berlin bis nach Indien und von dort zurück nach London und Hamburg verfolgen lassen.

In sechs Kapiteln stellt Ungern-Sternberg das Leben und Werk Willy Haas' dar. Als Quellen dienen ihm nicht nur die (wenige) Sekundärliteratur und editierte Briefwechsel, sondern vornehmlich unbekanntes Archivmaterial und Interviews mit Zeitzeugen. Die Archivrecherche führte den Autor über Prag und Berlin sowie das Literaturarchiv in Marbach nach London und Cambridge bis hin zu Archiven in den USA und Indien. Ziel der Arbeit ist es die Bedeutung der Person und des Wirkens und Schaffens von Willy Haas in das kollektive und literarische Bewusstsein zu rufen. Dies wird unter der Fragestellung von Kontinuitäten und Brüchen in chronologischer Folge dargestellt. Die Frage der politischen und ideologischen Positionierung, der in der Betrachtung der Exilliteratur so lange unverhältnismäßig viel Bedeutung beigemessen wurde, wird auch behandelt. Doch ist es das Hauptziel des Autors, die Person Haas in ihrer literarischen Schaffenskraft, nicht in seiner politischen Positionierung darzustellen.

Willy Haas wuchs in Prag, der drittgrößten Stadt Österreich-Ungarns, als ein Kind der deutsch-jüdischen Enklave auf; seine gebürtige Nationalität war Österreich-Ungarisch, seine Muttersprache Deutsch, die Sprache der Kinderfrauen Tschechisch und die Religion Jüdisch. Franz Werfel lernte er schon in der Schule kennen, mit Franz Kafka einte ihn die Freundin - war es doch Haas, der die Briefe an Milena erhielt, aufbewahrte und sie nach Ende des Zweiten Weltkrieges editierte.

Die Situation der Prager Juden scheint paradigmatisch für Haas' Lebenssituation zu sein: Sie gehörten dazu, weil sie insbesondere das kulturelle Leben in Prag prägten, waren aber zugleich Außenseiter. Die Eltern von Haas waren wohlhabend, gehörten zur so genannten Stadtparkgesellschaft, verbrachten die Sommerfrische eher auf Sylt als im Prager Umland. Willy war, so wurde es kolportiert, ein leicht kränkliches Kind, folglich überbehütet, das die Bibliothek des Vaters früh entdeckte und rasch zu schätzen wusste. Die Bibliothek der Familie Haas war in den Prager Kreisen bekannt, Willy Haas pflegte sie, doch konnte er es nicht verhindern, dass Nationalsozialismus und Systemwechsel in der Tschechoslowakei zu deren Verlust führten.

Das Leben von Willy Haas stellt, ebenso wie sein Werk, kein einzelnes Narrativ dar. Er erfindet sich - oft gezwungenermaßen - immer wieder neu. Auch wenn es in seinen späteren Jahren scheint, als sei er den 1920er- und 1930er-Jahren am treuesten geblieben, beschrieb er diese Zeit auch als "das Glück meines Lebens". 1925 wurde ihm von Ernst Rowohlt die Chefredaktion einer neuen Literaturzeitung angeboten. Zuvor hatte er als Filmkritiker sein Geld verdient und auch Drehbücher geschrieben. Die 1925 erstmals erschienene "Literarische Welt" war sein Leben und sein Schwerpunkt, der 1933 mit dem nationalsozialistischen Regime ein jähes Ende fand. Haas wurde als Chefredakteur abgesetzt, er floh in seine Geburtsstadt Prag. Hier versuchte er sich erneut an der Herausgabe einer Literaturzeitschrift, "Welt im Wort", die von den Kritikern jedoch als unpolitisch und harmlos dargestellt wurde. Ungern-Sternberg setzt dem entgegen, dass Haas' Kritik am nationalsozialistischem Regime sehr wohl vorhanden war, jedoch nicht so klar ausgedrückt, wie es von einem Exilemigranten erwartet wurde.

Nach dem Münchner Abkommen von 1938, das die Annektierung der Tschechoslowakei durch das Deutsche Reich besiegelte, wurde Haas persönlich viel Solidarität entgegengebracht. Es war aber auch deutlich, dass er in Prag nicht sicher war und seine Geburtsstadt verlassen musste. Über Frankreich emigrierte er nach Indien, um dort literarisch tätig zu sein und auch Drehbücher zu schreiben. Ungern-Sternberg zeigt aber auch, dass Haas in Indien antifaschistische Artikel schrieb, die deutsche Literatur hochhielt und das Gebaren der Nationalsozialisten stark kritisierte.

Für die Verfilmung des Werkes "Wege zur guten Ehe" des Berliner Sexualwissenschaftlers Theodor van der Velde schrieb Haas das Drehbuch. Ihm selbst scheint die gute Ehe kaum geglückt zu sein: "Ich habe eigentlich von der Liebe zwischen Mann und Frau nicht viel mehr verstanden, als dass man durch sie unglücklich macht oder unglücklich wird", schrieb er 1960 in seinen Erinnerungen. Während des Ersten Weltkrieges war Haas mit einer Ungenannten verlobt, in erster Ehe heiratete er 1920 Jarmila Ambrožová, deren Gatte sich in suizidaler Absicht vergiftet hatte, als er von der Affäre der beiden erfuhr. Gemeinsam mit ihr ging Haas nach Berlin, doch die Ehe verlief unglücklich und wurde 1924 geschieden. Im Jahr darauf ehelichte Haas die Kommunistin Johanna Helene Waldeck, der gemeinsame Sohn Georg Michael kam drei Monate nach der Hochzeit zur Welt. 1936 wurde auch diese Ehe geschieden. Begründet wurde die Scheidung mit der Tatsache, dass Haas eine Affäre mit Gertrude Urzidil hatte. Mitentscheidend war auch der Umstand, dass Haas so genannter Volljude war. Auch in Indien war Haas verliebt, doch eine feste Liaison ergab sich nicht. 1947 heiratete Haas erneut, wie er es ausdrückte "seine Buchhandlung". Herta Haas, geborene Doctor, war eine jüdische Deutsche, die vor dem Nationalsozialismus geflohen war und bei Blackwell's Bookshop in Oxford die Auslandsbestellungen besorgte. Aus der rein geschäftlichen Korrespondenz wurde eine persönliche und Haas stellte einen Heiratsantrag noch bevor er seine Verlobte leibhaftig gesehen hatte. Diese Ehe hielt bis zum Tode Haas' im Jahre 1973.

Auch zu Männern hatte Haas oft ein schwieriges Verhältnis. Sein ehemaliger Bibliothekar, Sekretär und Hauslehrer in Berlin von 1929 bis 1933, Rolf Italiaander, suchte auch in den 1950er-Jahren in Hamburg wieder Kontakt zu Haas. Wegen seiner obskuren Positionierung im Nationalsozialismus war die freundschaftliche Beziehung dauerhaft getrübt. So verwehrte sich Herta Haas gegen Italiaander als Trauerredner bei Haas' Beerdigung.

Haas, der in Hamburg zunächst als Controller für die britischen Besatzungsmächte arbeitete, wurde als britischer Staatsbürger Redakteur des Feuilletons der "Welt". In dieser Position wirkte er nicht nur als "Oberhirte der gesamten literarischen Welt seiner Zeit" (Italiaander), er verfasste auch die Caliban-Glossen, in denen er sich mit tagesaktuellen Themen wie der Sterbehilfe und der Verleihung des Literatur-Nobelpreises auseinandersetzte. Siegfried Lenz, der als Volontär bei der "Welt" tätig war, wurde von Haas zum Schreiben ermuntert.

Haas wurde vom Tschechen, der er richtig war, zum Deutschen, der er nicht war, zum Engländer in Indien, der er nicht war, kehrte dann wieder nach Deutschland zurück. Zwar gab er nicht an, dass die Religion prägend für ihn gewesen sei, dennoch verbrachte er in seinen letzten Jahren viel Zeit im israelitischen Krankenhaus.

Ungern-Sternberg ist es gelungen, das Leben und Wirken von Willy Haas aufgrund einer profunden Literaturanalyse und ausgiebigen Archivstudien detailreich und präzise darzustellen. Somit ist ein wichtiger Knoten im Netz der Literaten und Kulturschaffenden der Weimarer Zeit besser ausgeleuchtet.

Der schaffende Haas, der Drehbuchschreiber, Kolumnist und Kritiker wird gut deutlich und fassbar in diesem Werk, gleichwohl bleibt der private Mensch blass, nur schwach konturiert. Über sein Seelenleben, seine Befindlichkeit und seine Liebesbeziehungen kann aufgrund der wenigen gegebenen Informationen nur spekuliert werden.

Warum wird diese bemerkenswerte Biografie nicht von einer Literaturwissenschaftlerin, sondern von einer Medizinhistorikerin und Ärztin rezensiert? Um auch nur dem Aufkommen eines Verdachts einer Gefälligkeitsrezension zuvorzukommen: Nicht nur Literaturwissenschaftler lesen und interessieren sich für die Entwicklung der Literatur. Die Rezensentin kannte die Witwe von Willy Haas, Herta. Auch wenn sie nicht eben viel über ihren Gatten erzählte, so war sein Porträt doch immer präsent, ebenso die Spuren, die er in der Welt der Bücher und in den Biografien von anderen hinterlassen hat. Kafka, Werfel, Kokoschka und Lenz, Kulturschaffende, die einem schon in der Schule begegnet waren, im Spiegel einer Biografie eines Zeitgenossen wiederzuentdecken, war neu, ungewohnt und bereichernd, und zeigt, wie nah "die Welt von Gestern" (Stefan Zweig) doch sein kann. Herta Haas, die ihren Mann um 34 Jahre überlebte und die immer mehr war als seine Gattin oder Witwe, hat die Dissertation von Ungern-Sternberg im Entstehen begleitet und mit Material unterfüttert. Sie hat sie noch gelesen, bevor sie im Mai 2007 im Alter von 99 Jahren starb.

Ein Namens- und Ortsregister sowie eine tabellarische Kurzbiografie wären hilfreich gewesen, obschon diese Arbeit auch durch ihre Kürze besticht und sich langes Suchen eher nicht einstellt.


Titelbild

Christoph von Ungern-Sternberg: Willy Haas 1891-1973. "Ein grosser Regisseur der Literatur".
edition text & kritik, München 2007.
328 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783883778587

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