Von Schuld und Scham und wie es dazu kam

J. M. Coetzee über die Zeit nach der Apartheid

Von Heiko SeibtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heiko Seibt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits 1983 für den Roman "Leben und Zeit des Michael K." mit dem englischen Booker Prize ausgezeichnet, wurde dem 1940 in Kapstadt geborenen Autor J. M. Coetzee nun für sein jüngst erschienenes Buch "Schande" diese Ehrung als erstem Schriftsteller zum zweiten Mal zuteil.

Der Roman spielt, wie Coetzees bisherigen Bücher, in seiner Heimat Südafrika. Der Protagonist David Lurie ist ein Mann, der ein ähnliches Leben führt wie der Autor. Auch Lurie ist ein Literat in mittleren Jahren und Professor an der Universität von Kapstadt, ein Einzelgänger und Außenseiter. Nach zwei gescheiterten Ehen vertreibt er sich die Einsamkeit mit kleinen Affären und Prostituierten. Sein Leben ändert sich jedoch schlagartig, als die Beziehung zu einer seiner Studentinnen an die Öffentlichkeit dringt. Anstatt sich vor dem Universitätsausschuss zu verteidigen, legt Lurie ein Schuldbekenntnis ab und quittiert den Dienst. Er verlässt die Stadt, um sich für einige Zeit zu seiner Tochter Lucy aufs Land zurückzuziehen, was wohl die wichtigste Entscheidung in seinem Leben darstellt.

Lucy hat keinerlei Ambitionen in der Welt ihres Vaters. Sie lebt auf einem einsam gelegenen Stück Land und versucht dort, eine Farm und eine Hundepension aufzubauen. Anfangs scheint es, als könne David durch Lucys Einfluß und das ruhige Farmleben Halt finden, doch dann werden Vater und Tochter Opfer eines grausamen Überfalls von drei schwarzen Landbewohnern. Dieser Vorfall lässt entscheidende existentielle Konflikte zwischen den beiden zutage treten, durch die die Geschichte in eine gänzlich neue Richtung gelenkt wird. Während David die drei Verbrecher vor Gericht bringen und zur Rechenschaft ziehen will, lehnt Lucy eine Anklage strikt ab.

Die Unterschiede zwischen Vater und Tochter im Zugang zu dieser Tat werfen ein moralisches, philosophisches und politisches Problem auf, das im Zentrum des Romans steht - ein Problem, das aus den verschiedenen Auffassungen der Figuren über die südafrikanische Gesellschaft resultiert. David Lurie stammt aus der Zeit der Apartheid und scheint die Veränderungen im Land noch immer zu ignorieren. Seine Tochter dagegen versucht, sich in der neuen Situation, mit neuen Machthabern, zurechtzufinden: Die Unterdrückten von einst sind nun die Herren der ländlichen Gegenden. Im Gegensatz zu ihrem Vater gelingt es Lucy, die neuen Machtverhältnisse zu akzeptieren und sich darauf einzulassen. Trotz Davids Bemühungen, seine Tochter umzustimmen, will diese ihre Farm und das ländliche Leben nicht aufgeben, wissend, dass der dafür zu zahlende Preis die Demütigung durch die neuen Eigentümer sein wird.

Coetzee erweist sich als ein Autor, der ein außerordentlich feines Gespür für die Atmosphäre und Probleme seiner Heimat besitzt. Er versteht es, eine beunruhigende, kompromisslose Geschichte daraus zu entwickeln.

Obgleich die Distanz zwischen Vater und Tochter an keiner Stelle der Geschichte deutlicher wird als hier, schafft Coetzee es gleichzeitig, die Gemeinsamkeiten der beiden Figuren zu verdeutlichen. Denn so wie Lucy bereit ist, sich für ihr Leben auf der Farm demütigen zu lassen, erniedrigt sich auch der aller Ämter und Würden enthobene Literaturprofessor so weit, dass er die unehrenwerteste Arbeit übernimmt, die die Gesellschaft in seinen Augen zu bieten hat: Die Entsorgung von Hundekadavern.

Titelbild

John Maxwell Coetzee: Schande. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
285 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3100108159

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch