Stichpunkte des Augenblicks

Egon Gramers zweiter Roman "Zwischen den Schreien" ist ein lesenswertes Buch über die Kriegs- und Nachkriegszeit

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Man schreibt nicht auf, was man gesehen oder gehört oder erlebt hat oder glaubt gesehen, gehört, erlebt zu haben. Man schreibt mit tausend Schwingungen den Schlag und die Schläge, die man erhalten hat. Es sind einzelne Einschläge, Punkte in einer Landschaft, Löcher, Krater, von oben gesehen wären es Inseln in einem Ozean. Kein zusammenhängender Kontinent, kein die Orte und Personen verbindendes Erinnerungs- und Erzählstraßennetz, kein Zusammenpassen ohne Lücken. Leuchtpunkte sind es. Dunkelpunkte. Mehr Dunkelpunkte. Dunkelpunkte, die leuchten. Und in die Augen stechen. Stichpunkte des Augenblicks", notiert Egon Gramer in seinem dreiteiligen Roman "Zwischen den Schreien". Zu diesem Zeitpunkt hat er schon die ersten "Einschläge" im Leben des jungen Georg Schramm verzeichnet. Denn mit der Nachricht vom Tod des geliebten Onkels Josef setzt der Roman ein: "Und jetzt schrie die Großmutter, schrie einen hohen lauten Schrei, einen überlauten Schrei, der nicht aufhören wollte. [...] Emma hatte sich gesetzt, die Hände auf den Tisch gelegt und schrie mit der Schwester, beide so hoch wie kleine Kinder schreien, die nichts als schreien wollen. Der eine Schrei der Frauen hörte nicht auf."

Und mit der Beerdigung des Vaters endet Georgs "Erinnerungsnetz", das an und über Tote und Gefallene geknüpft ist. So bilanziert das letzte Kapitel unter dem Titel "leben... lauf!" bitter: "Georgs Vater war beim Tod seines Vaters zwei Jahre und fünf Tage alt. Neun Jahre nach dem Tod des einen und sechs Jahre nach dem Tod des anderen Großvaters kam er auf die Welt. Georgs Vaters hatte, wie sein zwei Jahre jüngerer Bruder Josef, schon nach den unteren Klassen in der Volksschule keine Großväter mehr. Georgs Onkel Josef kannte keinen Vater. Er wurde zwei Monate vor dem Tod seines Vaters geboren. Josef starb mit fünfundzwanzig Jahren am 27. Februar 1942 in Polen, Georgs Großvater starb am 6. Oktober 1916 durch Gasvergiftung in Libercurt, bei Carvin (Nordfrankreich). Die Toten sind die jüngsten."

Dennoch weist der letzte Satz des Textes in die Zukunft. Denn kurz vor dem Tod des Vaters überlässt dieser seinem Sohn bei einer Ausfahrt mit dem neuen Auto zum ersten Mal das Steuer mit den Worten: ",Fahr, Georg, fahr!'", wie Georg nach der Beerdigung erinnert. Der alles durchdringende Schrei der Großmutter bleibt beim letzten Tod jedoch aus, wie Gramer bereits zu Beginn des Romans vorwegnimmt: "Bei der Todesmeldung ihres Sohnes Josef hat die Großmutter den langen und hohen Schrei geschrien, beim Tod des ältesten Sohnes, sechzehn Jahre später, kam kein Schrei, kamen keine Tränen mehr, nur noch ein Stöhnen, das nicht aufhören konnte".

Egon Gramer, der 2005 als fast 70-Jähriger mit "Gezeichnet: Franz Klett" als Romancier ein glänzendes Debüt feierte, erzählt in seinem zweiten Roman in kurzen Kapiteln die Geschichte einer Kindheit in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs und zu Beginn der 1950er-Jahre. Georg, der gleichsam mit den Toten aufwächst, sammelt zunächst Sterbebildchen von Gefallenen aus dem Dorf und sortiert sie in den ersten Kriegsjahren im Gesangbuch unter dem Lied "Wann wir mit dem Tode ringen" ein. Doch spätestens ab 1943 reicht das Gesangbuch nicht mehr. Eine kleine Schachtel musste her, "damit er nicht die Übersicht verlor". Und irgendwann nach Kriegsende kommt auch der Vater magenkrank nach Hause: "Ein Verlierer. Der Vater kam kleiner aus dem Krieg zurück."

Für Georg beginnt bald die Schulzeit im Internat. Es ist die Adenauer-Ära, die Zeit eines Pater Leppich, die Zeit, als die ersten Musikboxen in den Cafés und Kneipen aufgestellt wurden, aber es ist auch die Zeit von Charlie Parker, Louis Armstrong und Chuck Berry, zu deren Musik Georg sich immer wieder flüchtet.

Egon Gramers "Zwischen den Schreien" mit seiner Lakonie und Poesie ist ein starkes Stück Literatur über eine Kindheit und Jugend in Kriegs- und Nachkriegszeiten auf einem schwäbischen Dorf und in einem Schwarzwälder Internat. "Zwischen den Schreien" ist auch ein Roman über die Nähe und Ferne zwischen den Generationen in den ersten Jahren der Bundesrepublik, ein Roman, der viele Leser verdient.


Titelbild

Egon Gramer: Zwischen den Schreien. Roman.
Piper Verlag, München 2007.
294 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783492050388

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