Lehren und Lernen

Die Didaktik des Thomas von Aquin

Von Patrick MenselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Mensel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gestresste Schüler, denen auf dem Weg zum Abitur ein Jahr gestrichen wurde; gestresste Studenten, denen aufgrund ihrer reglementierten Bachelor-Studiengänge keine Luft mehr zum Atmen bleibt - umfangreiche Stoffmengen, die in kurzer Zeit verarbeitet und gelernt werden müssen: Der Leistungsdruck hat in Schulen und Universitäten mehr denn je das Sagen. Doch wie sind diese ehrgeizigen Pläne der aktuellen Bildungsreformen zu verwirklichen? Muss die Qualität zugunsten der Quantität zwangsläufig geopfert werden?

Mögen die Fragen sich im Laufe der Zeit auch ändern, die Antworten bleiben dieselben. Ein Umstand, der das Werk Thomas von Aquins "Über den Lehrer" im Lichte der heutigen Zeit aktueller denn je erscheinen lässt. Zunächst einmal hängt die Beantwortung der Fragen vom Standpunkt des Betrachters ab. Der Fokus, der zu oft auf die Schüler gerichtet wird, sollte zuerst einmal auf die Lehrenden selbst justiert werden. Denn von ihnen nimmt das Wissen zwar nicht seinen Ursprung, aber seine Verbreitung. Wie muss der Lehrer beschaffen sein? Welche Aufgaben gilt es wahrzunehmen und vor allem auf welche Weise? Die Antworten auf diese und weitere Fragen finden sich im vorliegenden Buch, das den Text der "Quaestio XI" aus den "Quaestiones disputatae de veritate" sowie den ersten Artikel der "Summa theologiae", Teil 1, "Quaestio 117" mit deutscher Übersetzung und Kommentierung nebst Einleitung bietet.

Wie das Sein ausgehend von der Lehre der Analogia entis einen unterschiedlichen Sinn besitzt, abhängig davon, auf welche Dinge es bezogen wird, so hat auch das Lernen unterschiedliche Bedeutungen. Das diesbezüglich entscheidende Kriterium ist zum einen, wer lernt, und zum anderen: von wem. Konsequent angewandt kommen dabei folgende Konstellationen in Betracht: Der Normalfall ist sicherlich, dass der Schüler vom Lehrer lernt. Aber kann man auch von sich selbst lernen? Eine Frage, die sowohl Schüler als auch Lehrer betrifft, wenn man in dieser autodidaktischen Perspektive überhaupt eine Unterscheidung zwischen beiden Gruppen aufrechterhalten will. Der zweite Artikel in "De magistro" behandelt genau dieses Problem. Vom hierarchischen Lehrer-Schüler-Verhältnis ausgehend, werden die letzten beiden in Frage kommenden Fälle, nämlich das Lernen von Gott und Engeln im ersten und dritten Artikel von "De magistro" und im ersten Artikel der "Summa theologiae", Teil 1, "Quaestio 117" - beleuchtet.

Die Einleitung von Heinrich Pauli nimmt den Leser an die Hand und führt ihn durch die Gedankenwelt Thomas von Aquins. Bereits zu Anfang wird anschaulich auf das Verständnis von Lehren und Lernen eingegangen. Die Didaktik geht in Thomas von Aquins Ausführungen mit der Motivation des Schülers einher. Dem Lehrer stehen zur Vermittlung des Wissens zwei Wege offen: Zum einen existiert die augenfällige Demonstration, zum anderen die mündliche Unterweisung, die von Aquin favorisierte Form der Lehre. Bedeutender als die Wahl der richtigen Form ist aber das Ziel der Unterweisung, die Entwicklung der selbstständigen Erkenntnis des Schülers in Bezug auf seinen eigenen Lernstoff. Der Lehrer selbst kann kein eigentliches Wissen vermitteln, sondern lediglich äußerlich als instrumentelle Ursache wirken. Seine Aufgabe besteht darin, die geistige Aktivität seines Schülers anzuregen, so dass dieser selbstständig dasjenige lernt, was es zu lernen gilt. Wenn es dem Lehrer gelingt, die Motivation des Schülers auf den Grund des Lernens, nämlich sein Eigeninteresse, zu richten, so ist sein Ziel erreicht. Dies wird durch das Lernbeispiel Paulis illustriert, bei dem es inhaltlich um die Errechnung der Quersumme einer Zahl geht, um zu entscheiden, ob sie durch Drei teilbar ist oder nicht. Die Unfähigkeit des Lehrers, den "tätigen Verstand" des Schülers zu erreichen, macht ihn im Lernprozess keineswegs nutzlos. Im Gegenteil, er ist die "äußere" Ursache, die Bereitstellung der Verbindung zwischen dem, was der Schüler weiß, und dem, was er lernen soll. Doch die "innere" Ursache des Lernens, die Annahme des Schlusses, der zum Grundsatz führen wird, muss allein der Schüler tätigen. Der Lehrer kann es dem Schüler durch geschickte Erklärungen erleichtern - aber die Entscheidung liegt beim Schüler und kann ihm unmöglich abgenommen werden.

Dem überarbeiteten lateinischen Text folgt eine gelungene, präzise Übersetzung. Besonders die genaue Ausarbeitung der originalen Textstruktur, anhand derer Thomas von Aquin seine Argumentation aufbaut, ermöglicht ein zielgerichtetes Kommentieren. Als Beispiel seien die Ausführungen zum zweiten Artikel von "De magistro" genannt.

Es wäre vermessen zu sagen, dass nur Pädagogen Nutzen aus den vorliegenden Werken ziehen könnten. Auch Philosophen und insbesondere Theologen werden gleichermaßen an den Erkenntnissen teilhaben, die weit über didaktische Gesichtspunkte hinausgehen, ja sogar das Fundament dieser bilden.


Titelbild

Thomas von Aquin: Über den Lehrer / De magistro.
Mit einer Einleitung von Heinrich Pauli.
Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Gabriel Jüssen, Gehard Krieger und Jakob Hans Josef Schneider.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2006.
186 Seiten, 9,80 EUR.
ISBN-10: 3787317996
ISBN-13: 9783787317998

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch