Normale Familie

Ein Gespräch mit Eva Menasse

Von Matthias PrangelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Prangel

Matthias Prangel: Sie sind jetzt 37 Jahre alt und waren bei Ihrem Debüt mit "Vienna" 34. Kein gewaltiges Alter, wenn man an Theodor Fontane denkt, der erst mit 60 literarisch zu schreiben begann. Im Vergleich zu Georg Büchner, der mit 23 Jahren nicht nur das Schreiben, vielmehr sein ganzes Leben schon hinter sich hatte, nehmen Sie sich hingegen eher wie eine alte Debütantin aus. Allerdings haben Sie bereits eine journalistische Laufbahn hinter sich. Wie plötzlich vollzog sich der Wechsel in die andere Textsorte und wie überraschend oder auch nicht war für Sie der ja sehr entschiedene Erfolg des Umsteigens in die Sparte der Literatur?

Eva Menasse: Das sind zwei Fragen. Die erste ist die, wie ich zu dem Buch gekommen bin. Das war alles andere als ein abrupter Übergang, wo sich die Journalistin, die ich war, entscheidet: so, nun setze ich mich auf den Hosenboden und schreibe einen Roman. So war es nicht. Die Studien, die Recherchen zu "Vienna" fing ich aufgrund eines ganz persönlichen, familiären Interesses an. Mit etwa 30 fesselte mich die Lebensgeschichte meines Vaters und meines Onkels ganz eminent, von denen ich zunächst nur wusste, dass sie in England aufgewachsen sind. In seiner ganzen Dramatik hatte man uns Kindern das niemals erzählt. Langsam habe ich damals begonnen, Gespräche, journalistische Gespräche mit den beiden zu führen. Ich bin mit einem Aufnahmegerät zu meinem Onkel und meinem Vater gegangen, viele Male, und habe versucht, ihnen aus der Nase zu ziehen, was sie sich aus der Nase ziehen haben lassen. Das war überraschend wenig, einige Erinnerungen, kleine Szenen. Aber das, was mir gerade besonders wichtig und neuralgisch erschien, wollten sie nicht erzählen oder, wie ich heute sagen würde, konnten sie nicht erzählen, weil es zu traumatisierend war, weggepackt worden war hinter all diese psychischen Schutzmechanismen, die jeder Mensch hat. Am Ende hatte ich dann wieder nur diese rudimentäre Geschichte in der Hand, die ich schon kannte: Mein Vater war als Kindertransportkind nach England zu Pflegeeltern gekommen, der Onkel ebenfalls, der Onkel, der etwas älter ist, in der englischen Armee. Aber mehr war nicht herauszubekommen. Und dann habe ich Bücher gelesen. Über Mischehen, über die Kindertransporte, über das Leben in England. Ein wunderbares Buch darüber, wie London den Krieg überstanden hat, lernte ich auf diese Weise kennen: "London at War". All diese Recherchen bildeten einen Prozess, der sich über Jahre hinzog, ohne klare Vorstellung, dass daraus einmal ein Roman werden würde. Das Motiv war einzig, dass ich etwas über meine Familiengeschichte erfahren wollte, was mir die Familienmitglieder, die noch leben, nicht sagen können. Ich wollte mir vorstellen können, wie das war. Danach habe ich recherchiert. Und dann bin ich irgendwann pedantisch geworden, habe Aktenordner angelegt, habe mich in Korrespondenzen mit Behörden in Kanada verstrickt, wo meine Tante hingeflüchtet war und wo sie an Tuberkulose gestorben ist. Ich saß also auf diesem Berg von historischem Material plus einigen persönlichen Interviews, und je weiter ich gekommen bin, um so weiter bin ich von meiner wirklichen Familiengeschichte weggegangen, ins Allgemeine hinein. Bis mir klar wurde, ich werde keine Familienchronik aus diesem Material schreiben. Aber der Stoff war da, groß und verführerisch, und da wusste ich dann an irgendeinem Punkt, daraus machst du jetzt einen Roman.

M.P.: Und ein Roman ist es dann auch geworden, kein Sachbuch. Was in diesem Buch passiert, hat natürlich einen realen Boden unter den Füßen. Aber es existiert so, wie es in dem Buch existiert, eben nur dort und nicht außerhalb des Buches. Es existiert ausschließlich als Erschriebenes. Trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass Sie sehr hart an der Realität schreiben. Es interessiert mich hier überhaupt nicht, wie es um das Verhältnis von innertextlichem und außertextlichem Geschehen bestellt ist, wo genau da die Kongruenzen und Differenzen liegen.

E.M.: Natürlich nicht. Obwohl eben das die österreichische Presse am allermeisten interessiert hat, zum Beispiel auch, ob in dem Buch ein bösartiges oder ein liebevolles Porträt meines tatsächlichen Bruders steckt und so weiter.

M.P.: Was mich interessiert, das ist, wie man in den Vorentscheidungen, die man als Autor trifft, damit umgeht, dass da einerseits ein fiktionaler Text entstehen soll, andererseits eine fast erdrückende reale Materialfülle auf einem lastet. Gerade einer Frau, die ja bis dahin ausschließlich Journalistin war, musste sich die Frage nach der Grenzlinie sehr entschieden stellen.

E.M.: Eine Strategie, die ich für mich beim Schreiben des Romans erfunden habe, war die, dass ich die Figuren, über die ich schreiben wollte, vorher wie auf dem Reißbrett zusammengesetzt habe. Aber anders zusammengesetzt, als sie es in der Realität waren. Ich kann mich nicht, und das wollen die Leute so oft nicht verstehen, hinsetzen und schreiben, mein Vater, meine Mutter, mein Bruder und dabei meinen echten Vater, meine echte Mutter und so weiter. vor dem inneren Auge haben. Das ist mir völlig unmöglich, weil sie ja noch leben. Da habe ich so viele Hemmungen, dass ich gar nicht schreiben kann. Den Prozess des Fiktionalisierens muss ich also schon in Gang setzen, um überhaupt ungehemmt schreiben zu können. Also habe ich die Figuren vorher entworfen, sie zusammengesetzt aus verschiedenen Versatzstücken, die zum Teil gar nicht zu ihnen gehören. Das war bei der Figur meines Vaters wohl am schwierigsten, weil die Buchfigur mit meinem wirklichen Vater doch die meisten Überschneidungen hat. Kindertransport, Fußballer, diese beiden Dinge vor allem sind enorm wirkmächtig, und sie stimmen eben überein.

M.P.: Den Buchvater haben Sie aber im Gegensatz zum wirklichen Vater sterben lassen.

E.M.: Genau. Und dieses Geschäft, das der Vater, das heißt der Buchvater, in der Mitte des Buches findet, und das diese ganzen Ostblocksportler mit Westgütern versorgt, dieses Geschäft hat nicht das Geringste mit meinem Vater zu tun, obwohl es das in Wien damals gegeben hat. Es ist ein Bestandteil meiner Kindheit. Wir waren selber oft in dem Geschäft. Wir haben es miterlebt, wie die Ostblocksportler da die Kugelschreiber und Seidenstrümpfe gekauft haben. Das ist also wirklich Geschichte. Ich habe das zusammengefügt. Und bei all den anderen Figuren ist das in noch viel größerem Ausmaß so. Sie enthalten immer nur so ein paar Versatzstücke von den wirklichen. Nur so konnte ich das Ganze überhaupt schreiben, und ich denke, so entsteht eben Fiktion.

M.P.: Nur diese Zwischenfrage: Muss man sich, wenn man so hart an der Wirklichkeit schreibt wie Sie es tun, mit den noch Lebenden abstimmen? Haben die also gewusst, was mit ihren Biografien in Ihrer Fiktion passiert?

E.M.: Also, mein Vater hat es gewusst, und er ist auch der Einzige, von dem ich meine, dass er ein Recht darauf gehabt hat, weil ich seine Lebensgeschichte ja wirklich als Grundlage verwendet habe. Die anderen Familienmitglieder haben das Buch erst gelesen als es fertig war, nachdem es schon im Druck erschienen war. Nur mein Bruder hat das Manuskript, allerdings dann auch schon das fertige Manuskript gelesen. Wenn er Einwände gehabt hätte, hätte er die noch äußern können. Aber er hat nicht.

M.P.: Ihr Buch kommt als Ich-Erzählung daher. Nun ist es in Ich-Erzählungen häufig so, dass das Ich eine doppelte Funktion hat. Es erzählt und erlebt und erlebt eben so, dass es selber Teil des Geschehens ist. Hier aber bleibt die Erzählerin fast ganz außen vor, sie ist gesichtslos, Zuschauerin ohne eigene individuelle Kontur, Meinungen, Standpunkte, bis auf das, was aus der Immanenz des Erzählens herausstrahlt. Man könnte sagen, sie schöpft von ihren Möglichkeiten nur die eine Hälfte aus und tritt nur ganz am Schluss ein wenig aus der Anonymität heraus. Warum diese reduzierte Erzählerin, diese Entscheidung, die Erzählerin nicht zu exponieren?

E.M.: Ich sehe mein Buch als ironisch-kritischen Kommentar zur deutschen und wahrscheinlich auch fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. Aus dem Ich zu schreiben halte ich für das Schwierigste überhaupt, weil man, wo man ich sagt, beim Schreiben dazu neigt, das Ich des Buches mit dem eigenen Ich zu verwechseln. Es gibt viele schlechte Bücher, die an diesem Ich gescheitert sind. Ich denke da an ein Buch, dessen Titel ich aber nicht nenne, wo der recht bekannte Autor versucht hat, aus sechs verschiedenen Ichs seinen Roman zu schreiben. Sechs verschiedene Stimmen, die alle Ich sagen und die man trotzdem sehr genau unterscheiden kann, das muss man erst einmal können. Der Versuch ist, meine ich, denn auch grandios misslungen. Mich hat die Idee gereizt, einen Roman zu schreiben, in dem das Ich ganz anders als sonst funktioniert. Eben nicht als so eine Art selbstgespiegelte Instanz. Zweitens ist es auch, ganz pragmatisch gesehen, eine Methode, einen Familienroman zu fiktivieren. In einem Familienroman, vor allem in einem, der von drei Generationen erzählt, haben Sie notwendigerweise mit ziemlich viel Personal zu tun, das heißt auch mit vielen Namen. In dem Moment, in dem Sie dieses Ich als Leerstelle, aber sehr wohl als genealogischen Knotenpunkt in die Mitte hineinsetzen und immer nur sagen, da war mein Großvater, meine Tante, mein Onkel und so weiter, haben Sie das Romanmaterial wunderbar sortiert. Ganz abgesehen noch davon, das so die menschliche Sprechweise nachgeahmt wird. Wenn wir beide, die wir uns seit ungefähr 35 Minuten kennen, miteinander über unsere Familienmitglieder sprechen, dann sagen Sie zum Beispiel meine Frau, meine Tochter und nennen mir, weil ich die Personen ja gar nicht kenne und es so für mich viel einfacher ist, das einzuordnen, keine Namen. Der genealogische Rahmen aber ist damit abgesteckt. Das ist das Ordnungsprinzip dieses Romans. Es hat bloß bis dahin noch niemand so gemacht. Ich bin häufig darauf angesprochen worden, und es gibt auch Leute, die dieses leere Ich kritisieren, weil sie von dem Ich selber auch noch etwas wollen. Ich sage dann immer, der Rest des Buches ist doch aber das Interessante, das Ich schreibt doch alles nur auf.

M.P.: Das Ich also als das Auge des Orkans, in dem absolute Stille herrscht?

E.M.: Ja. Ich habe dieses Ich manchmal als Kameramann oder Kamerafrau bezeichnet. Und ganz am Schluss passiert es dieser Kamerafrau, dass sie ein kleines Stück von sich selber mitfilmt, vielleicht ihre eigene Hand vor der Kamera. Mehr ist auch nicht, wenn meine Erzählerin am Ende für Momente sichtbar wird.

M.P.: Es hätte ja auch die Möglichkeit gegeben, sich selber noch stärker zu fiktionalisieren, das heißt, sich in einem Akt der Selbstbeobachtung als Figur aus sich selber herauszustellen.

E.M.: Nein, auf den Gedanken bin ich damals nicht gekommen. Ich hatte immer diese Idee der Litfasssäule, in der ich versteckt bin und durch verschiedene Löcher rund um mich herum blicken kann.

M.P.: Könnte es auch so sein, dass dieses Konzept gegenüber der Vergangenheit zwar gut funktioniert, seine Tragfähigkeit aber einbüßt, sobald Ihr Buch am Ende in die Gegenwart einmündet und die Erzählerin zur Mitakteurin wird?

E.M.: Es ist wohl nicht so, dass das Konzept dann nicht mehr trägt. Es ist nur automatisch so, dass man das Konzept an dieser Stelle ein wenig aufbrechen muss. Wenn man das Ich als jemanden begreift, der eine Art von Familienchronologie oder Familienforschung betreibt, dann ist klar, es kann das Ich in den Vergangenheitsepisoden nicht vorkommen, weil es ja gar nicht dabei gewesen ist. In den Gegenwartsepisoden aber, da zum Beispiel, wo das Ich mit dem Vater nach England fährt und es nur diese beiden Figuren gibt, da muss ich das Ich manchmal ein bisschen zeigen. Aber es versucht das Ich sich in diesem Buch so weit wie möglich herauszuhalten und seine Rolle als sachliche und selbst nicht involvierte Beobachterin so wenig wie möglich aufzugeben. Das Konzept wird also nicht zerstört, sondern nur ein bisschen angeknackst, weil sich die Dinge ganz natürlich so ergeben.

M.P.: Für jemanden, der eine Erzählung, einen Roman schreibt, geht es ja immer auch darum, einen Erzähler zu erfinden, der glaubwürdig machen kann, dass und woher er Ahnung von seinem Gegenstand hat. Es geht sozusagen um die immanente Legitimation des Erzählten. Diese Legitimation Ihrer Erzählerin ist mir nicht überall deutlich. Oder müsste man sagen, sie liegt letztlich in dem "Em-Em", in dem "manischen Mythologisieren", in dem "Vergangenheitswahnsinn", in dem immer neuen Erzählen der alten Geschichten, das diese Familie umtreibt und sie auszeichnet?

E.M.: Das ist in dem Roman ein Prozess. Die Erzählerin ist nicht legitimiert, sondern sie ist im Gegenteil auf der Suche nach einer Wahrheit, nach der Familienwahrheit. Sie wird getrieben von dem Verdacht, dass viele der Anekdoten, die in der Familie so dynamisch erzählt werden, nicht stimmen oder die Wahrheit zumindest nicht hinreichend darstellen, sie verfremden und sogar von tatsächlichen bitteren Vorfällen ablenken wollen. Sie macht auch relativ früh klar, dass sie auf der Suche danach ist, was eigentlich hinter all den Anekdoten steckt. Sie ist nicht von Anfang an legitimiert mit einem Wissen, das sie irgendwoher hat, sie ist im Gegenteil auf der Suche nach diesem Wissen. Sie erzählt die Geschichte, um etwas Neues herauszufinden, und es gelingt ihr das ja auch. Man sieht das schon daran, dass sie gewisse Anekdoten am Ende des Buches etwas anders erzählt als am Anfang. Sie beschreibt also auch das Entstehen von Familiengeschichte und seine Fragwürdigkeit.

M.P.: Ich komme noch einmal auf etwas zurück, was vorhin schon angedeutet wurde. Es gilt allgemein der Name als Signum des Persönlichen, der Individualität. Sie belassen Ihre Figuren, zumindest die im innersten Familienkreis, praktisch namenlos. Sie haben schon erläutert warum. Steckt darin aber womöglich auch für die Erzählerin der Ansporn, diese Figuren um so mehr durch die Beschreibung ihres Tuns und Lassens, ihrer Handlungen, ihrer Worte und so weiter ins Licht zu setzen?

E.M.: Das kann schon sein. Aber es gab da drei Dinge, die für mich entscheidend waren: erstens das Organisationsprinzip des Romans, zweitens, wie die Menschen über ihre Familie sprechen, und drittens hat viel. auch mit ästhetischen Entscheidungen zu tun. So hat es mir einfach gefallen, nicht nur einen Vetter, sondern Vetter I und Vetter II zu haben oder diesen Onkel, der zunächst nur einfach der Onkel ist, später,wo es sich nicht mehr vermeiden lässt, aber doch einen Namen bekommt.

M.P.: Den Leser kann diese Namenlosigkeit womöglich schon etwas verwirren. Immerhin geht es um drei, nimmt man die nur schwach ausgeleuchteten Urgroßeltern und die Kinder der Vettern und der Erzählerin hinzu, sogar um fünf Generationen. Sodann doppelte Ehefrauen, Kinder aus erster und solche aus zweiter Ehe. Da wird es schnell kompliziert und kommt man in die Versuchung, sich als Orientierungshilfe einen Stamm aufzumalen. Ist solche Irritation bewusst inszeniert?

E.M.: Nein, überhaupt nicht. Ich habe auch selber gar nicht das Gefühl, dass das so verwirrend sein kann. Nur auf den ersten paar Seiten geht es kurz in die Generation der Urgroßeltern hinein. Aber sonst sind ja die Namenlosen nur die Großeltern, Vater und Onkel und dann Mutter, Bruder, Schwester und die Vettern. Die ersten und zweiten Frauen haben ja eher sprechende und gut merkbare Namen: die kleine Engländerin und die ganz marginal nur vorkommende Tante Ka. Und Tante Gustl hat einen so einprägsamen Namen, dass es letztlich eigentlich egal ist, ob sie Tante oder Großtante ist. Nein, es tut mir leid, wenn ich Sie verwirrt habe, es war aber bestimmt nicht gewollt. Im Gegenteil habe ich versucht, alles so übersichtlich wie möglich zu halten.

M.P.: Die Familie, die Sie beschreiben, ist das, was man heute eine Patch-Work-Familie nennen würde. Da mischen sich das Jüdische, das Katholische, das Atheistische, unterschiedliche nationale Komponenten, und Ehen gelten nicht mehr unbedingt für ein ganzes Leben, womit es wieder zu neuen Mischungen kommt. Die Grenzen werden vage, die erratischen Blöcke zerbröckeln und mit ihnen die Kontrapositionen. Was übrig bleibt, sind Menschen von großer Verschiedenheit mit einer Vielzahl von Einflüssen und Übergängen. Weder Jüdisches noch Nichtjüdisches lässt sich da noch definieren. Ist diese Familie gewissermaßen ein Exemplum für die Nichtigkeit aller ethnischen und religiösen Barrieren und das Exemplum einer in diesem Sinne mondial vernetzten Gesellschaft? Oder wäre Ihnen das denn doch zu blauäugig und zu pathetisch?

E.M.: Doch, das kann man schon so sagen, wobei ich noch einen Schritt weiter gehen würde. Das Buch versucht auch zu erklären, dass das, was im 20. Jahrhundert passiert ist, dass der Holocaust nicht nur zwei Sorten Menschen hervorgebracht hat, nämlich Opfer und Täter, sondern im Gegenteil zu einer fürchterlichen Verwirrung der Gefühlswelt geführt hat. Er war der traumatische Einschnitt, auf den eben alles folgen kann. Das muss nicht zwangsläufig ein plötzlich erwachtes, besonders deutliches Bekenntnis zum Judentum sein. Das ist sicher bei einigen so. Es kann auch eine besonders deutliche Abkehr vom Judentum sein. Was auch wieder bei einigen so ist. Oder es kann eine extensive Beschäftigung mit der Vergangenheit sein. Was wiederum bei einigen so ist. Oder ein extensives Ablehnen der Bearbeitung der Vergangenheit. Das alles ist möglich, je nach Charakter und Lebensgeschichte. Für mich ganz wichtig sind die beiden Pole von Vater und Onkel in dem Buch. Beide liegen altersmäßig sieben Jahre auseinander. Der Onkel ist Jahrgang 1923, der Vater 1930. Der Vater ist also 1938 acht Jahre alt und der Onkel fünfzehn. Und was das an unterschiedlichen Bildern von der Zeit produziert! Der Vater erlebt jene Zeit als Kind, fährt nach England, wächst da auf und will sich nachher an nichts mehr erinnern. Und umgekehrt der Onkel, der mit 15 alles schon bewusst erlebt und sich ein Leben lang an die eingeschlagenen Fensterscheiben in der Reichspogromnacht erinnern kann oder daran, wie der Kindertransport die Grenze nach Holland passiert hat, der in England Kommunist wird und kämpfen will und schließlich als extrem politisierter Mensch nach Österreich zurückkommt. Es ist der gleiche Genpool, da man ja mit niemandem sonst so ähnliche Gene wie mit den eigenen Geschwistern hat. Und doch können diese sieben Jahre an einer so entscheidenden Stelle der Geschichte solch einen riesigen Unterschied machen und diese ganz verschiedenen Biografien und diese komplett anderen Haltungen zum Leben generieren. Das ist es, was mein Buch versucht, nämlich diese erratischen Blöcke von Gruppen aufzulösen und die Auflösung als Folge des Holocaust zu sehen.

M.P.: Bei dem, was Sie gerade beschreiben, ereignet sich nun etwas Merkwürdiges. Konflikte, Identitätsfragen, die zunächst vor allem zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen virulent waren, sie spielen nun innerhalb einer und derselben Familie und innerhalb der eigenen ethnisch-religiösen Gruppe eine Rolle. Es wird da um die Frage gestritten, ob man ganz, halb oder viertel jüdisch ist. Ich würde das, was ja gelegentlich geschieht, niemals als umgekehrten oder verschobenen Rassismus bezeichnen, weil es denn doch allen Unterschied macht, ob man sich als Gruppe abgrenzt oder die Vernichtung einer anderen Gruppe propagiert und betreibt. Trotzdem gestehe ich, dass mir bei all dem Reinheitsgetue, wie Sie es beschreiben, unbehaglich zu Mute ist. Sehe ich richtig, dass auch Ihre Erzählerin da recht skeptisch ist, und dass ihre Skepsis sich als Ironie niederschlägt, wodurch sie denn doch aus der vorhin signalisierten Kontur- und Standpunktlosigkeit etwas heraustritt?

E.M.: Ja, unbedingt. Man hat ja immer gefragt, wo ich bin, wo meine Lebensgeschichte in diesem Buch ist, und natürlich steckt auch die drin. Die autobiografischen Momente sind verteilt auf das Romanpersonal. Aber die Geschichte, die ich hier dem Bruder untergeschoben habe, der in Toronto von einem jüdischen Professor nach seiner Abstammung gefragt wird und zu hören bekommt: "O, you are only a quarter Jew", das ist mir ganz ähnlich passiert. In dieser Formulierung einmal und in etwas anderer, doch mit der gleichen Stoßrichtung, viele Male. Und es sind oft gerade die nichtjüdischen gebildeten Deutschen, die einem plötzlich mit der Halacha kommen: "Was sind Sie denn nun eigentlich?". Diese Fragen nach der Identität, die mich immer beschäftigt haben, habe ich versucht, in das Buch hineinzulegen. Auf der anderen Seite ist das, was die Juden machen, indem sie so zu sortieren versuchen, natürlich, um es einmal so neutral wie möglich zu sagen, auch wieder eine Form der Einteilung. Es ist aber nach der unendlichen Katastrophe, die mit den Juden passiert ist, völlig verständlich, dass man wissen will, wer ist jetzt ein Jude. Ihr seid vielleicht vorher assimilierte Juden gewesen, wenn ihr jetzt nach Israel einwandern wollt, dann müsst ihr nach diesen oder jenen Gesetzen leben. Ich zum Beispiel könnte auf Grund meiner Familiengeschichte immer noch nach Israel gehen und dort eine Staatsbürgerschaft bekommen. Aber wenn ich dort heiraten wollte (ich bin ja schon verheiratet), dann wäre das eben nicht ganz so einfach, dann müsste ich formell übertreten. Das muss man, nach dem, was den Juden widerfahren ist, verstehen. Aber gleichzeitig ist es natürlich eine perverse Volte der Geschichte.

M.P.: Um nur für einen Augenblick noch das Buch zu verlassen: Spielen diese Identitätsrituale heute auch für Juden in Österreich und Deutschland eine Rolle? Wenn ich daran denke, dass man Lea Rosh von jüdischer Seite vorgeworfen hat, sie habe vom Judentum nicht auch nur die geringste Ahnung, sondern nur einen jüdischen Großvater, was nach der Halacha schließlich nicht zählt, oder wenn man etwa die Heirat mit einer nichtjüdischen Frau zwar notfalls für akzeptabel hält, mit ihr Kinder zu haben aber als Verrat an der jüdischen Sache betrachtet, weil man dann ja umsonst gelitten habe, dann scheint mir das schon so zu sein.

E.M.: An mich wurde es vor allem von nichtjüdischer Seite herangetragen. Ich bin während der Lesereisen der letzten Jahre immer wieder gefragt worden: Als was fühlen Sie sich, was sind Sie denn nun? Und ich konnte immer nur sagen: Ich habe dieses Buch geschrieben zu dem Thema; ich schreibe ein ganzes Buch, und Sie wollen jetzt von mir einen Satz. Besonders in Deutschland ist das immer wieder ein Thema. Ich lerne in den letzten Jahren, dass man wirklich aufpassen muss mit diesem ganzen Themenkomplex. Ich habe jüdische Freunde, die sich zum Teil extra hebräische Vornamen gegeben haben oder sichtbare Zeichen tragen, damit sie nicht plötzlich in irgendwelchen von ihnen als antisemitisch empfundenen Diskursen aufstehen müssen, um zu sagen, hallo ich bin übrigens... Ich habe das lange Zeit für lächerlich gehalten, bin aber in den letzten Jahren auch empfindlicher geworden. Abendessen mit Gesprächen über Israel, wo dann ganz schnell gewisse Begriffe fallen, gerade die Juden müssten doch wissen und so weiter. Da bin ich inzwischen froh, wenn die Leute von vornherein wissen, mit wem sie es zu tun haben.

M.P.: Zurück zum Roman. Diese sich über fünf Generationen erstreckende und eine Vielzahl von Einzelpersonen einschließende Familiengeschichte bringt es mit sich, dass sich eine straffe dramatische Handlung kaum aufbaut und die Struktur des Ganzen eher kaleidoskopisch zu nennen wäre. Dennoch werden Akzente gesetzt. Und zwar liegen die, Sie sagten es ja schon, beim Vater und beim Bruder. Warum nicht bei Mutter und Schwester? Gibt es zwischen der Erzählerin und den beiden, vielleicht überhaupt gegenüber den Frauen, irgendwelche Berührungsängste oder gar Kollusionen?

E.M.: Nein. Das würde ich bestreiten, weil die Tante Gustl wie die Großmutter doch recht tragende Figuren sind. Und auch die Tante Ka und die kleine Engländerin sind auf ihre Weise sehr anwesende Figuren. Auch wenn ihre Lebensgeschichten nicht ganz im Vordergrund stehen, sind es sehr prononcierte Charaktere. Davon abgesehen wurde mir gelegentlich der Vorwurf gemacht, es seien die Frauenfiguren in dem Roman zu negativ, während die Männer die seien, die die Geschichte trügen. Da muss ich nun allerdings sagen, dass mein Text auch ein Kommentar dazu ist, wie ich die Welt erlebe. Wie ich es sehe, stehen die Frauen, wenn bei irgendwelchen Zusammenkünften diskutiert wird, immer noch im Schatten ihrer Männer. Die Männer reden in der Öffentlichkeit, die Frauen tun es zuhause. Es gibt nur wenige Frauen, die auch nach außen ihren Mann stehen, und ich kann nur sagen, dass in meiner Kindheit in den siebziger Jahren die Rollenverteilung eindeutig so war, dass die Männer die Witze gemacht haben und die Frauen zuhause gekeppelt haben. Die Männer hatten die Möglichkeit, mit einer gewissen Leichtigkeit auf die Welt zuzugehen, spielerisch mit ihr umzugehen, während an den Frauen der Kampf ums Überleben hängen blieb. Das ist im Buch paradigmatisch an der Beziehung zwischen Großmutter und Großvater dargestellt. Der Großvater, der immer das Geld durchbringt und die Großmutter, die zuhause schauen muss, wie sie die Kinder wieder dazu bringt, dass sie beim Bäcker anschreiben lassen. So ähnlich habe ich nicht nur meine eigenen Großeltern wirklich erlebt, sondern auch ganz viele andere Beziehungen. Und heute bekommen alle meine Freundinnen Kinder, aber die Männer sind immer noch diese gut gelaunten Fotografen, Maler oder Journalisten, während die Frauen plötzlich so ganz humorlose Wesen ("aber ich habe dir doch gesagt, dass der Kleine heute...") werden. Das sehe ich auch an mir selber. Und gewisse Verantwortlichkeiten kann man den Frauen ja auch nicht abnehmen, sei die Partnerschaftlichkeit der Beziehung noch so groß. Und auch nach außen gibt es so eine Rollenverteilung, die regelt, wer sprechen und sich beteiligen darf und wer nicht. Das ist nach wie vor so, und ich habe versucht, es in dem Roman abzubilden.

M.P.: Die jüdischen religiösen Einflüsse in der Buchfamilie scheinen nur sehr gering zu sein. Liegt das daran, dass sich womöglich die mütterlich-katholische Komponente gegenüber der väterlich-jüdischen stärker durchsetzt oder diese zumindest außer Kraft setzt? Und könnte man sich das anders denken, wenn nicht die Väter, sondern die Mütter jüdisch wären?

E.M.: Dazu hätte ich einiges an historischen Recherchen beizusteuern. Bei den Mischehen im "Dritten Reich" - fürchterliches Wort, doch wir haben leider kein besseres - gab es die privilegierten und die nicht privilegierten Mischehen. Das hat sich nach der Frage des Haushaltsvorstandes gerichtet, das heißt der Mann, die Religion des Mannes war dominant. In dem Moment, in dem, wie bei meinen Großeltern, der Mann der Jude war, war es eine nicht privilegierte Mischehe, und man musste den Stern an der Wohnungstür haben, und nach der Religion des Haushaltsvorstands hat sich auch die Religion der Kinder gerichtet. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und noch später haben Tausende von jüdischen Männern diese gut aussehenden Mädchen aus Böhmen und Mähren geheiratet, wobei für sie völlig klar war, dass ihre Kinder weiterhin Juden sind. Es wurde damals nicht groß nach einer eventuellen Konversion der jungen Ehefrauen gefragt. Die ganze Kultur war derartig patriarchalisch, dass einfach klar war, die Kinder sind Juden, sie werden zuhause jüdisch erzogen, sie werden in die jüdische Schule geschickt, sie werden beschnitten, sie werden, je nachdem wie religiös der jeweilige Familienvorstand war, zum Rabbi geschickt oder auch nicht. Genau so war es auch in der Familie meiner Großeltern. Meine Urgroßeltern, also die wirklichen, waren offenbar noch sehr religiös, aber mein Großvater gar nicht mehr. Auch Bruno Kreisky, der frühere österreichische Bundeskanzler, stammte aus einer typisch großbürgerlichen, assimilierten, rein jüdischen Familie: assimilierte Rechtsanwälte und Richter über Generationen hinweg. Religion hat da eine nur ganz geringe bis gar keine Rolle gespielt. Man hatte sogar zu Weihnachten einen kleinen Weihnachtsbaum, hat zwar nicht "Stille Nacht" gesungen, ist aber ebenso wenig in die Synagoge gegangen. Weihnachten ist ja eh so heruntergekommen, dass es nur noch ein kultureller Code ist. Jeder hat seine paar Lichter, und das ist es auch schon. Nach dem Krieg aber, nach der Shoah spielte bei den Juden die kulturelle, religiöse Abgrenzung wieder eine viel größere Rolle. Nach solchen Katastrophen, nach solchen Verfolgungen, und das lässt sich überall beobachten, werden die Traditionen automatisch wieder hervorgeholt und neu belebt. Dass speziell meine eigene Familie so war, das mag biografisch interessant sein, nicht aber literarisch. Wenn ich das trotzdem verwendet habe, dann deswegen, weil es in einer Vielzahl von jüdischen Familien genau so war. Sie waren in den dreißiger Jahren erklärtermaßen jüdisch, haben sich selber als jüdisch betrachtet, sind aber höchstens an den ganz hohen Feiertagen auch in den Tempel gegangen und haben ansonsten ihre Kinder religiös nicht weiter erzogen. Das Buch ist ja auf Grund einer breiten historischen Recherche entstanden. Und ich habe solche Dinge hineingenommen, weil sie sonst heute in Vergessenheit geraten. Heute will man ganz genau wissen, wer Jude ist. Und daher sind die ja auch in der dritten Generation im vorletzten Kapitel so hysterisch. Und dann kann es vorkommen, dass jemand, etwa der Vetter II, wieder ein ganz frommer Jude wird. Auf der anderen Seite aber der Bruder, der eher Kommunist wird und alles politisch definiert und auf den mit ausgestrecktem Zeigefinger gezeigt wird, weil er nur Halb- oder Vierteljude ist. Das ist eine Einteilung, die es vor der Shoah nicht gegeben hat. Diesen Unterschied von vor und nach der Shoah muss man sich immer vor Augen halten.

M.P.: Ähnlich zahlreich wie die Personen sind in dem Buch die behandelten Themen: Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg, Judentum, Wien, Gesellschaft, Geschäfte, sogar Fußball. Doch ist das Buch kein historischer Roman oder doch nur insofern, als sich Geschichte in den Figuren, vor allem in den Mitgliedern der Familie niederschlägt.

E.M.: Ja. Und deswegen würde ich sagen, dass der Roman gar nicht einmal so viele Themen hat. Das einzige für mich wirklich wichtige Thema ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts und die Frage der Identität. Das allein ist der Antrieb gewesen, diesen Roman zu schreiben. Und ich musste diese Thematik an Lebensgeschichten festmachen, an denen sie sich zeigen lässt.

M.P.: Es ist noch über einen ganz wichtigen Aspekt zu reden. Der Roman ist in einer wundervoll leichten, heiteren, ironischen Tonlage geschrieben. Er zeichnet eine Fülle von skurrilen, komischen Figuren und Situationen. Es ist das geradezu sein Markenzeichen. Die Erzählerin scheint sich über all die Probleme und Problemchen der armen Menschenkinder ein wenig zu erheben und zu amüsieren und der Leser soll das wohl mit ihr. Die ganz großen Ausbrüche von Leid, Schmerz, Trauer, Wut, aber auch von Freude und Begeisterung hingegen, sie fehlen. Haben Sie keine Angst gehabt, dass auf diese Weise eine etwas harmonisierende, entschärfende, verharmlosende Wirkung entsteht? Denn so lustig ging es ja keineswegs immer in und mit der Familie zu. Und wenn die Erzählerin am Ende des vorletzten Kapitels dennoch von ihrer "lustigen Familie" spricht, dann scheint mir das eher schon ironisch gebrochen zu sein. Verbirgt der ironische und heitere Stil nicht auf seine Weise trotz aller Beredtheit auch wieder viel und wird hier als Selbstschutzmaßnahme eingesetzt?

E.M.: Ja, es ist sicher ein Schutzmechanismus. Die Erzählerin, der Bruder und die Vettern kommen dahinter, dass das Wegwitzeln der schlimmen Vergangenheit dazu dienen kann, an die Wunden nicht zu rühren. Das ist eine zutiefst menschliche Verhaltensweise. Aus ihr resultiert auch der vielgepriesene jüdische Humor. Er ist das Resultat von jahrtausendelanger Verfolgung und Mord und Totschlag. Die, die noch reden können, witzeln in ihrer Verzweiflung, weil sie nicht umgebracht wurden. Der heitere Ton des Romans bezweckt aber auch, die tragischen Stellen nur um so härter hervortreten zu lassen. Es ist mir häufig gesagt worden, und ich nehme das eigentlich als Kompliment, dass es im Grunde ein zutiefst trauriges Buch ist, das eben auch diese aus der Katastrophe geborene ironische Deformiertheit des Personals zum Gegenstand hat. Irgendwelche mitteldeutschen Bauern, die immer nur auf ihrem Hof gelebt und sonst nichts von der Welt gesehen haben und - man verzeihe mir diese kleine Grobheit - im Zweiten Weltkrieg zwei Söhne verloren haben, die können eine ironische Haltung zum Leben überhaupt nicht generieren. So etwas kommt aus dem Urschlamm der Generationengeschichte und ist, wenn man so will, tatsächlich eine Deformation. Man versteckt mit dem Humor etwas, weil man nicht endlos nur mit seinen Wunden hausieren gehen kann. Dieser Eindruck, es gingen die Juden, die den Holocaust überlebt haben, damit hausieren, entsteht zwar in der Öffentlichkeit manchmal in Deutschland. Ich hatte aber oft auf meinen Lesereisen Diskussionen, in denen ich gesagt habe, dass mir nichts erzählt wurde, dass wir alle nicht genau wussten und wissen, was etwa mit meinem Großvater, als der verhaftet wurde und in die Zwangsarbeit gesteckt wurde, genau passiert ist. Man sagte dann verständnislos: "Natürlich hat man uns nichts erzählt, aber warum hat man euch nichts erzählt?". Meine Antwort: "Es ist genauso, als wenn eine vergewaltigte Frau nicht über ihre Vergewaltigung spricht." Es war eine für den ganzen Menschen derartig demütigende Situation, dass man nicht darüber reden konnte. Es gibt inzwischen psychoanalytische Untersuchungen über das Schweigen in den Täterfamilien und das Schweigen in den Opferfamilien und was für Gleichförmigkeiten das wieder in den Kindern und Enkeln produziert. Man muss also den Leuten erst einmal erklären, dass auf jüdischer Seite genauso geschwiegen wird und dieses Schweigen genauso krankhaft und destruktiv für die nächsten Generationen ist wie bei den Tätern. Vielleicht ist es sogar am Ende für den Täter noch leichter, zu reden, als für das Opfer. Vor allem die österreichischen und die deutschen Juden, die eben noch immer in den Täterländern leben, haben im Vergleich zu denen, die ausgewandert sind, ein ganz besonders zugespitztes Identifikationsproblem gegenüber allen anderen Juden der Welt. Ein Jude hat einmal gesagt: Es gibt drei Klassen von Juden, nämlich die Juden, die in Israel leben, die die besten sind, die Juden, die in der Diaspora leben, und die Juden, die in Deutschland leben. An dieser Klassifizierung ist viel dran. Wie sollen die Juden, die - aus welchen Gründen auch immer, aus biografischen oder materiellen - in den Täterländern wohnen, psychisch überleben? Sie müssen eine eiserne psychische Verfassung entwickeln, um damit umgehen zu können. Und in meiner eigenen Familie und vielen anderen jüdischen Familien aus Österreich ist es genau so, wie es in dem Roman beschrieben wird: entweder nicht dran rühren oder wenn doch, dann mit Höllengelächter. Ich habe da überhaupt nichts erfinden müssen. Es ist einfach so.

M.P.: Wie Wolfgang Hildesheimer einmal sagte, dass die reale Welt um vieles absurder noch sei, als er sie in seinen absurdesten Texten dargestellt habe.

E.M.: Eben. Und in diesem Sinn habe ich das Gefühl, dass ich einen absolut sachlichen und historisch adäquaten Roman geschrieben habe, in dem die Familie so ist, wie sie ist: so absurd, so witzig, so komisch, so traurig und so verlogen. Die Wörter Auschwitz oder Konzentrationslager oder Gaskammer sind Wörter, die uns dicht machen. Deswegen muss man andere Wege, eine andere Sprache finden, um die Leute wieder aufzumachen und ihnen genau dann sozusagen das Messer hineinstechen, damit sie aufwachen. Das ist es, was zum Beispiel Roberto Benigni in seinem Film "La vita è bella" macht und was auch ich versuche. Ich lese auf meinen Reisen eigentlich immer den Anfang mit der lustigen Geburt des Vaters und dem Pelzmantel. Und dann steht da über den Großvater und die Tante Gustl: " Mehr sagte er nicht, denn er sprach nicht gern über die Tante Gustl, nachdem sie in der Nazizeit einmal grußlos an ihm vorübergegangen war. Dabei soll das goldene Kreuz auf ihrer Brust gut sichtbar gewesen sein, hieß es in meiner Familie später immer." Ich male ein schönes buntes Bild, und dann kommt plötzlich ein ganz schriller Ton.

M.P.: Es gibt in dem Buch mit dem Fall Popelnik den von Ihnen erfundenen Fall eines Präsidenten des österreichischen Skiverbandes, der vom Bruder in einem die gesamte Nation durcheinander wirbelnden historischen Aufsatz als Nazitäter entlarvt wird. Wie ist dieser Fall, der ja eine Steigerungsform noch des parallel gelagerten deutschen Falls Schwerte/Schneider darstellt, in das Buch gelangt?

E.M.: Er hat natürlich sehr viel mit Waldheim und der österreichischen kollektiv-historischen Verfasstheit zu tun. Ich brauchte einen Fall, der nicht Waldheim ist, aber sozusagen ein Schlaglicht wirft auf diese typisch österreichische Automatik, diese reflexartige Abwehr, im Moment einer solchen Enttarnung am liebsten den Überbringer der schlechten Nachricht töten zu wollen. Das war das Klima der achtziger Jahre, und die Auffassung, die Österreicher seien keine Täter, sondern das erste Opfer Hitlers gewesen, die steckt bis heute in vielen österreichischen Köpfen.

M.P.: Und auch in vielen Köpfen außerhalb Österreichs, wo man glaubt, ein so nett und freundlich daherkommendes Volk mit einer solch beschwingten Sprache könne doch einfach kein Tätervolk sein und wenn doch, dann müsse der österreichische Nationalsozialismus schon eine vergleichsweise milde, humane Variante des deutschen gewesen sein.

E.M: Dabei waren bekanntlich besonders viele Österreicher in leitenden Positionen und das auch in Konzentrationslagern. Die Popelnik-Affäre ist mein kleiner Beitrag zur Beschreibung der österreichischen Mentalität. Ich musste da gar nicht groß nach für diesen Zweck geeigneten nationalen Denkmälern suchen. Dass ich dann ausgerechnet auf den Präsidenten des Skiverbandes kam, ist schon beinahe slapstick. Es hat ja tatsächlich in den dreißiger Jahren einen sehr bekannten österreichischen Fußballer, Matthias Sindelar, gegeben, über den man schon vor einiger Zeit Akten gefunden hat, die belegen, dass er sich 1939 ein einem Juden gehörendes Kaffeehaus völlig unrechtmäßig zugeeignet hat. Und die Pointe der Geschichte? Dass alles aufschrie, wir lassen uns unseren Sindelar nicht kaputt machen. Und die Historiker erklärten, sie hätten's alles schon längst gewusst. Nur geschrieben hat es keiner. Auch diese wahre Geschichte spielt natürlich in die Popelnik-Affäre hinein. Und es ist ja bezeichnend, dass mir viele Leute, obwohl ich den Popelnik ganz und gar erfunden habe, sagen, so etwas habe es doch in Wirklichkeit gegeben, sie hätten so etwas schon einmal in der Zeitung gelesen.

M.P.: Am Ende des Buches findet sich eine Nachricht, die im Hinblick auf den Zusammenhalt der Buchfamilie und vielleicht von der Familie in heutiger Zeit überhaupt eigentlich recht betrüblich ist. Man hatte intensive Kontakte, war miteinander befreundet, so lange die Generation(en) der Älteren noch am Leben waren und als lebender Beweis für all das fungierten, was man sich über sie erzählte. Seit deren Tod aber sei es mit dem "Em-Em", dem "manischen Mythologisieren" vorbei, streite man sich höchstens noch über die Deutungshoheit über die alten Geschichten und drifte die Familie auseinander. Man sollte doch eigentlich erwarten, dass sich die Generationenkette ungebrochen fortsetzt und auch nun wieder die Jüngeren über die Älteren erzählen und Mythos nicht nur abbröckelt, sondern fortwährend auch neu entsteht. Oder gibt es in unsrer Zeit familiäre und gesellschaftliche Brüche, durch die die Überlieferung, das Bewusstsein von unsrer eigenen Familiengeschichte und vielleicht von Geschichte überhaupt verloren geht?

E.M.: Einerseits ist das ein ganz normales Phänomen. Die Zeit ändert sich und die Art, wie wir mit der Vergangenheit umgehen und auf sie blicken, und wie viel sie uns bedeutet und was sie uns genau bedeutet, ändert sich auch. Sodann muss man aber doch etwas konkreter werden. Die Zeit des Nationalsozialismus' ist die Zeit der Judenvernichtung, und das hat für Täter wie Opfer in den ersten zwei Generationen danach eine ganz immense identifikatorische Kraft. Vereinfacht gesagt waren die Achtundsechziger auf der Welt, um gegen ihre Vätergeneration zu kämpfen, gegen das Schweigen in ihren Täterfamilien, und um zu fragen, wie alles kommen konnte. Auch deren Kinder interessiert es, weil da irgend etwas noch wirkmächtig und identitätsstiftend ist. Das aber hört jetzt auf. Für meine Kinder etwa ist sogar der Mauerfall etwas, was vor ihrer Geburt liegt. Vielleicht interessiert sie das irgendwann einmal, aber ganz bestimmt nicht der Nationalsozialismus. Das heißt, interessieren schon. Aber nicht mehr, dass man fühlt, auf welcher Seite man steht, weil das ganze Sein durch das Bewusstsein fundiert ist, aus einer Täter- oder einer Opferfamilie zu stammen, und durch das, was meine Eltern und Großeltern erlebt, erlitten oder getan haben. Für die Kinder und Enkel der Täter und Opfer hat das eine ganz eminente Bedeutung, aber es schwächt sich heute ab. Die nichtjüdischen Deutschen im Alter von ungefähr 50 Jahren sind aufgewachsen mit dem Fanal: "Wir sind Deutsche, und wir müssen der Welt zeigen, dass wir nicht alle Schwerverbrecher sind." Das ist heute vorbei.

Anmerkung der Redaktion: Das Gespräch mit Eva Menasse wurde am 19. November 2007 in der Deutschen Bibliothek Den Haag geführt und erschien zuerst in: Deutsche Bücher. Forum für Literatur 2007(Jg. 37), H. 3+4, S. 185-202.