Abfälle für alle

Rückblicke auf die deutschsprachige "Pop-Literatur"

Von Horst SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Horst Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Popliteratur? Da war doch mal was. Und zwar im Grunde genommen zweimal. Das erste Mal war von Popliteratur Ende der 1960er-Jahre die Rede, als der amerikanische Literaturwissenschaftler Leslie Fiedler forderte, die Literatur (und auch die Wissenschaft von der Literatur) müsse sich von der "Hochkultur" abwenden und sich stattdessen den Phänomenen des Alltags und der populären Kultur zuwenden. Im deutschen Kulturbetrieb sowie bei vielen damals jungen Autoren stieß dies auf fruchtbaren Boden, und gleichzeitig prägte die Adaption und Rezeption insbesondere aus den USA importierter, alternativer Lebensformen und kultureller Erscheinungen (Hippie-Bewegung, Pop-Art, Beatniks, Rockmusik, Studentenbewegung, Friedensbewegung et cetera) in Westeuropa das Lebensgefühl und das Bewusstsein der jungen "68er"-Generation. Als wichtigster Protagonist dieser ersten Phase der deutschen Popliteratur gilt der früh verstorbene Lyriker, Erzähler, Essayist und Herausgeber zeitgenössischer nordamerikanischer Literatur Rolf-Dieter Brinkmann (1940-1975).

Eine Renaissance erfuhr der Begriff "Popliteratur" Mitte der 1990er-Jahre, als eine neue Generation von Autorinnen und Autoren - zum Beispiel Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht und Alexandra Hennig von Lange - unter diesem Etikett von der Literaturkritik subsumiert wurde und auf dem deutschsprachigen Buchmarkt beachtlichen kommerziellen Erfolg hatte.

Während es um die "Zweite Generation" der Popliteratur in den letzten Jahren merklich stiller geworden ist, rückt die "klassische" deutsche Popliteratur immer stärker in den Fokus des literaturwissenschaftlichen Interesses. Eine Flut von Publikationen zur Geschichte und Kritik der deutschen Popliteratur und ihrer Protagonisten ist seit Jahren zu verzeichnen. Die Popliteratur ist von einem Phänomen des Zeitgeistes zu einem Gegenstand literaturwissenschaftlicher Reflexion geworden.

Die Entwicklungslinien der Rezeption populärer Kultur in der deutschsprachigen Literatur seit den 1960er-Jahren verfolgt Sascha Seiler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für "Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft" der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, in seiner unter dem Titel "Das einfache wahre Abschreiben der Welt" erschienenen Dissertation über "Pop-Diskurse in der deutschen Literatur".

Die produktive Rezeption populärer Kultur - also mithin das, was gemeinhin als Popliteratur bezeichnet wird - sei "eine oft übersehene Strömung in der deutschen Literaturgeschichte der Nachkriegszeit", konstatiert Seiler gleich zu Beginn seiner erfreulicherweise über den engen nationalliterarischen deutschen Tellerrand hinausblickenden und insbesondere die amerikanische Literatur mit einbeziehenden Untersuchung. In Anbetracht der doch quantitativ und qualitativ recht beachtlichen einschlägigen Forschungsliteratur trifft dies jedoch nur bedingt zu. Die Ursprünge der Popliteratur sieht Seiler in der US-Literatur der Nachkriegszeit, insbesondere bei den Autoren der "Beat Generation". Sowohl die Vermittlung als auch die produktive Rezeption dieser neuen amerikanischen Literatur sei in Deutschland nur sehr langsam erfolgt, im Grunde genommen erst seit den 1960er-Jahren.

Eine tragende Rolle bei der Popliteratur spiele von Anfang an die Verbindung von Alltagskultur und populärer Kultur, vor allem die verstärkte Wahrnehmung populärer Kunstformen wie Popmusik, Film, Werbung und Comics. Der Begriff "Popliteratur" könne, meint Seiler, "als Überbegriff für die Rezeption der populären Kultur gesehen werden und gleichsam als Teil eines deutschen Pop-Diskurses, der nicht nur literarische, sondern alle erdenklichen Phänomene erfasst".

Die Geschichte der deutschen Popliteratur zeichnet Seiler weitgehend chronologisch nach. Zunächst versucht er sich an einer Klärung der Terminologie und den Begrifflichkeiten in Sachen Popliteratur und referiert anschließend die kritische Rezeption der populären Kultur bei Kulturtheoretikern wie Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Leslie Fiedler und den Vertretern der französischen Postmoderne. Sodann skizziert er die Rezeption der amerikanischen Beat- und Popliteratur bis zu den späten 1960er-Jahren, um sich anschließend dem Werk Rolf Dieter Brinkmanns zu widmen. Als Haupterscheinungen der Popliteratur in den 1970er-Jahren untersucht Seiler mehrere Prosatexte von Peter Handke sowie Gedichte von Wolf Wondratschek. Als wichtigste Protagonisten des popliterarischen Diskurses der 1980er-Jahre betrachtet Seiler die Schriftsteller Rainald Goetz und Franz Dobler sowie die Avantgarde der so genannten "Neuen Deutschen Welle" in der Popmusik. Zum Abschluss seiner umfassenden Studie über die Geschichte der deutschsprachigen Popliteratur untersucht Seiler Autoren der 1990er-Jahre wie Christian Kracht und Thomas Meinecke. Ob Seilers Vermutung, die Popliteratur habe ihren Zenit in der deutschen Literatur bereits überschritten und sei mittlerweile kein Teil des aktuellen Zeitgeistes mehr, sondern eine nunmehr literaturhistorisch zu erfassende und katalogisierbare Erscheinung, wirklich zutrifft, wird indes erst die literarische Entwicklung der nächsten Jahre zeigen.

Mit einem der wichtigsten Merkmale der Popliteratur, nämlich ihrer "Fundstück-Ästhetik" - also ihrer neuen ästhetischen Verwertung von Trouvaillen und Materialien aus dem Alltag, den Medien und der populären Kultur - beschäftigt sich ein von Dirck Linck und Gert Mattenklott herausgegebener Sammelband mit dem Titel "Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation in der deutschen Pop-Literatur der 60er Jahre". Er enthält Studien, die im Rahmen der Sonderforschungsbereiches "Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste" an der FU Berlin entstanden sind und bei einer Tagung erstmals vorgestellt und diskutiert wurden.

Die Autoren der oft über die streng literaturwissenschaftliche Germanistik hinausgehenden und Fragen der Ästhetik und der Kulturtheorie aufgreifenden Beiträge sind Dirck Linck, Karl Riha, Martin Maurach, Holger Schulze, Andreas Kramer, Eckhard Schumacher, Kaspar Maase, Diedrich Diederichsen, Jan-Frederik Bandel, Benjamin Meyer-Krahmer, Brigitte Weingart und Moritz Baßler. Abgerundet wird das Buch mit einem Interview, das Riha und Linck mit dem Ende der 1960er-Jahre als Pop-Literaten rezipierten Autor Peter O. Chotjewitz führten.

Thematisch beschäftigen sich die bisweilen arg gestelzt formulierten Beiträge unter anderem mit deutschsprachigen Cut-Up-Texten um 1970, dem Verhältnis von Magischem Realismus und Pop, der Typoskriptästhetik, Rolf Dieter Brinkmanns Tonbandcollagen und anderen Erscheinungen des popliterarischen Diskurses. Eröffnet wird die Aufsatzsammlung mit einem ironischen Zitat des Schriftstellers Jörg Fauser, dem die Herausgeber den Titel ihres Sammelbandes entliehen haben: "Der Poet ist ein Lumpensammler, er kommt mit den Abfällen aus".

Nahezu alle Kritiker und Historiker der deutschsprachigen Popliteratur stimmen darin überein, dass der früh verstorbene Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann der wohl bedeutendste und einflussreichste deutsche Popliterat war. Entsprechend reichhaltig ist die Sekundärliteratur, die bislang über ihn erschienen ist.

Mit Brinkmanns größtenteils erst aus dem Nachlass veröffentlichtem Spätwerk, in dem er eigene und fremde Texte, Fotos, Werbeanzeigen und anderes Material zu intermedialen Collagen zusammenstellte, beschäftigt sich Andreas Moll in seiner Dissertation "Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann. Intermedialität im Spätwerk." Moll geht von der These aus, Brinkmann habe, nachdem er ab 1970 offiziell nicht mehr publizierte, die Popliteratur hinter sich gelassen und mit seinen experimentellen Collage-Arbeiten eine Bresche zur Intermedialität geschlagen. Brinkmanns vordringliches Anliegen sei die "Ablösung der kanonisierten Literatur" gewesen, er habe "zur Ausprägung der Empfindsamkeit seiner Generation beitragen" wollen.

Apodiktisch schreibt Moll, dem es hier und da an der gebotenen kritischen Distanz zu dem von ihm untersuchten Autor mangelt: "Brinkmann war mehr als ein Pop-Literat. Brinkmann war ein herausragender Autor des 20. Jahrhunderts. Die wahren Maßstäbe hat er nicht als Pop-Literat gesetzt, sondern mit dem, was entstand, als er 1970 offiziell zu publizieren aufgehört hatte. Mit diesem Entschluss wollte er selbst der Nische Pop-Literatur entfliehen. Brinkmann betrieb Feldforschung für einen zweiten Roman, übte sich im Collagieren, Montieren, Zerschneiden, praktizierte Cut up und Fold in und bediente damit jenes Phänomen, das wir heute Intermedialität nennen und, bedingt durch Film, Multimedia und Internet im Zeitalter eines iconographic turn, für aktuell und erforschenswert halten."

Nach einem einleitenden Kapitel, in dem Moll den Stand der Brinkmann-Forschung referiert, untersucht er in drei umfangreicheren Abschnitten "Intermedialität und Brinkmann", "Text- und Bild-Erkundungen, Text- und Bild-Schnitte" sowie "Brinkmanns Text- und Bild-Referenzen". Andreas Molls Dissertation fügt der Brinkmann-Philologie viel Neues hinzu, indem erstmals das bislang publizierte Spätwerk systematisch analysiert wird und hierbei zum Beispiel Bezugnahmen Brinkmanns auf die barocke Emblematik festgestellt werden. Gleichzeitig stellt die flüssig geschriebene Studie einen gelungenen und zu weiteren Forschungen anregenden germanistischen Beitrag zur interdisziplinären "Comparative Arts"-Forschung dar.


Titelbild

Sascha Seiler: "Das einfache wahre Abschreiben der Welt". Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006.
344 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 352520597X

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Titelbild

Dirck Linck / Gert Mattenklott (Hg.): Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation in der deutschen Pop-Literatur der 60er Jahre.
Wehrhahn Verlag, Laatzen 2006.
256 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 386525053X

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Titelbild

Andreas Moll: Text und Bild bei Rolf Dieter Brinkmann. Intermedialität im Spätwerk.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
229 Seiten, 42,50 EUR.
ISBN-10: 3631552831

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