"Ein Spiel mit gelebten und ungelebten Möglichkeiten"

Peter Henischs Großmutter-Roman "Eine sehr kleine Frau"

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Daß ich mir vor zwanzig Jahren geschworen hatte, nicht mehr zu schreiben, mir diese immer aufs neue vergebliche Anstrengung nicht mehr anzutun, konnte ich in dieser besonderen Situation vielleicht vergessen. Außerdem mußte es ja nicht völlig im Ernst sein. Hatte ich meinen Studenten und Kursteilnehmern nicht immer wieder erzählt, daß Literatur ein Spiel sei? Literature is a game. Ein Spiel mit gelebten und ungelebten Möglichkeit", so sinniert der Schriftsteller und Literaturprofessor Paul Spielmann in Peter Henischs neuem Roman "Eine sehr kleine Frau".

Zu diesem Zeitpunkt ist für den vermeintlichen, gut 60-jährigen Ex-Schriftsteller Spielmann, der nach vielen Jahren plötzlich seinem amerikanischen College für immer den Rücken gekehrt hat, die Literatur längst mehr als ein bloßes Spiel. Denn in seiner Geburtsstadt Wien, in der ihn eine medizinische Untersuchung, möglicherweise gar eine Operation erwartet, wird er beim nächtlichen Gang durch die zwischenzeitlich fremde und doch vertraute Stadt in einem Antiquitätengeschäft beim Anblick eines Klaviers von Kindheitserinnerungen eingeholt: "Das Schaufenster war nicht beleuchtet, doch das Klavier zog meinen Blick auf sich. Dabei stand es im Hintergrund, im Vordergrund finstere Ölbilder und Stilmöbel. [...] Aber der Flügel, den ich zuerst bloß aus den Augenwinkeln gesehen hatte, übte eine geradezu magnetische Wirkung auf mich aus."

Von nun an sind die Erinnerungen an die geliebte Großmutter geweckt. Schließlich hatte sich die "sehr kleine Frau" zur Überraschung ihres Sohnes, ihrer Schwiegertochter und ihres Enkels einst genau so einen Flügel zugelegt. Am nächsten Tag sucht Spielmann das Antiquitätengeschäft auf, um den Bösendorfer in Augenschein zu nehmen. Unter einem solchen hatte der kleine Paul einst gesessen und der Großmutter beim Klavierspielen zugehört: "Das Klavier aus dem Antiquitätengeschäft spukte mir nach wie vor im Kopf herum. Natürlich war dieses Klavier nicht jenes Klavier. Obwohl [...] Diese Ähnlichkeit [...] Aber nein, das war doch Unsinn!"

Doch ob Unsinn oder nicht, die Sinne sind nun geschärft und Spielmann nimmt die Erinnerungsarbeit in der Stadt seiner Kindheit auf. Er erinnert sich dabei an Plätze und Straßen, aber auch an Bücher, Lese- und Erzählerlebnisse mit seiner Großmutter: "Wenn es draußen regnete, spielte meine Großmutter mit mir Dichterquartett. Ich weiß nicht mehr, ab wann. Das Dichterquartett war seit meiner frühesten Kindheit verfügbar. Lange bevor ich lesen konnte, kannte ich die Bilder, die für die einzelnen Stücke der Romane standen. Und die Köpfe der Dichter, in denen sich diese Hirngespinste entwickelt hatten."

So stöbert Spielmann in Antiquariaten nach Titeln wie "Vom Winde verweht", nach Büchern der Brüder Dumas oder von Vicki Baum und vertieft sich in deren 1929 erschienenen Roman "Menschen im Hotel", einem der "Lieblingsbücher der Oma": "Nun aber habe ich darin zu blättern begonnen, gestern, vorgestern, wann war das, nur um einen Eindruck zu gewinnen, habe ich gedacht, nur um die Erinnerung an die Erzählung der Großmutter zu reaktivieren - und schon bin ich tief in dieses Buch hineingefallen."

Dabei entstehen Bilder eines besonderen Frauenlebens: "Marta, eine von ihrem Mann im Stich gelassene junge Frau. 1914 war sie gerade einundzwanzig. Eine von ihrem Mann gelassene junge Frau mit einem kleinen Kind. Eine zuvor schon von ihren Eltern im Stich Gelassene."

Henisch verdichtet seine Skizzen immer mehr zu einem liebevollen Porträt eines "gelebten und ungelebten Lebens". So wird "Eine sehr kleine Frau" zum kraftvollen Bild einer zierlichen und doch starken Frau, die zwei Weltkriege überlebte, nach dem Ersten Weltkrieg gerne in Paris geblieben wäre und die als Tochter eines jüdischen Kohlenhändlers in den "Crazy Twenties" ein uneheliches Kind erwartet. Schließlich heiratet sie - trotz ihrer Herkunft - den Antisemiten Wilhelm Prinz, der - bis er 1937 an Silvester in einem Stundenhotel stirbt - seine Aufgabe darin sieht, seine Frau á la Julius Langbehns "Rembrandt als Erzieher" zu "erziehen": "Wilhelm Prinz als Erzieher. Das war eine Aufgabe. Vielleicht war genau das die Perspektive, die ihn aufbaute. Womöglich war das für ihn der Reiz der Beziehung. Eigentlich hatte er sie aus Pflichtbewußtsein heiraten wollen, nun kam etwas wie Lust dazu. Lust auf einer höheren Ebene wohlverstanden." Dass das Kuckuckskind bei diesem offensichtlich seine Minderwertigkeitsgefühle kompensierenden Stiefvater keine Rolle spielt, ist allzu deutlich.

Peter Henisch, Jahrgang 1943, hat mehr als 30 Jahre nach "Die kleine Figur meines Vaters" nun erneut literarisch auf seine Familiengeschichte zurückgegriffen und seiner Großmutter mit "Eine sehr kleine Frau" ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt, ohne sie dabei zu sehr zu überhöhen. Entstanden ist ein großer Großmutter-Roman, der prismatisch die Nazi- und Nachkriegszeit einfängt und den vielfachen Verflechtungen eines Schicksals, dem auch immer wieder vorhandenen kleinen Glück des Alltags, den Träumen und Sehnsüchten einfühlsam und zugleich Distanz wahrend nachspürt.


Titelbild

Peter Henisch: Eine sehr kleine Frau. Roman.
Deuticke Verlag, Wien 2007.
286 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783552060678

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