Darf man sich ein eigenes Urteil über moderne Kunst erlauben?

Zwei Bücher von Wolfgang Ullrich und Hanno Rauterberg ermutigen dazu

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist Kunst? Das ist eine große Frage, die man kaum beantworten kann. Am Erhellendsten ist Max Liebermanns Bonmot: "Kunst kommt von Können - käme es von Wollen, hieße es Wulst". Andere gehen da etwas theoretischer heran, dafür nicht so witzig und auch nicht so klar: "Ein vollkommenes Kunstwerk [...] begreift alle Eigenschaften (in sich), die sonst nur einzeln ausgeteilt sind", sagte Johann Wolfgang Goethe, und Theodor W. Adorno meinte, dass der "Zweck des Kunstwerks [...] die Bestimmtheit des Unbestimmten" sei, womit einem auch nicht weitergeholfen ist. Der Künstler Ad Reinhard schrieb in seinem Manifest der "Kunst-als-Kunst" 1962: "Der einzige [...] Weg, zu sagen was [...] Kunst-als-Kunst ist, liegt darin, zu sagen, was sie nicht ist." Also der Weg der Negation, Kunst sei also unerschöpflich, unaussprechlich, unausdeutbar, unbezahlbar, unerschöpflich, unglaublich, unbestimmbar. Aber auch das ist natürlich schnell ungenügend.

Zwei Bücher versuchen jetzt erneut eine Art Begriffsbestimmung: Wolfgang Ullrich, Professor in Karlsruhe, mit dem etwas theoretischeren "Gesucht: Kunst!" und der "ZEIT"-Kunstkritiker Hanno Rauterberg provokanter und auf den Punkt gebracht mit seiner "Qualitätsprüfung" "Und das ist Kunst?".

Ullrich stellt gleich zu Beginn fest, dass die moderne Kunst nichts Äußerliches sein will, nichts mit handwerklich Gutem zu tun hat, sondern dass die Kunst "vielmehr eine Zuständigkeit für erste und letzte Fragen" beansprucht: "Hier soll es um Lebenssinn und Transzendenz und nicht nur um Geschmacksurteile gehen". Schon allein deswegen gebe es Sammler, die völlig Disparates sammelten, Jonathan Meese und Jeff Wall, Klaus Wolf Knoebel und Hanne Darboven, Eugene James Martin und Paul McCarthy, und gleichermaßen "überzeugt von so Verschiedenem" sind. "Ist das nicht, als fände man den Katholizismus genauso gut wie den Buddhismus, glaubte gleichzeitig an Reinkarnation, Prädestination und das Weltbild der Naturwissenschaften und engagierte sich ebenso aktiv in einem Zirkel für Schwarze Magie, bei den Zeugen Jehovas und in der Kant-Gesellschaft?"

Das ist schön gesagt und hätte auch von Rauterberg sein können. Denn beide treffen sich in ihren oft sehr polemischen Bestandsaufnahmen darin, dass sie die Kunst angreifen. Sie sei in der heutigen Zeit vor allem eine Maschine zur Vernebelung. Das beginne schon mit der Titelgebung: "Am sichersten - und am einfachsten - lässt sich ein wenig Geheimnis und Vieldeutigkeit, wenn der Titel keine direkte Beziehung zu dem aufweist, was das Werk zeigt", schreibt Ullrich und verweist auf Paul Klee, der seinen Bildern neue Titel gab, wenn sie sich unter den alten nicht verkauften. Eine gewisse Vagheit oder Exotismus sei deswegen praktisch, weil der Künstler sich damit auf eine Position stelle, die der Betrachter oder Käufer nicht auch sofort einnehmen könne. Er fühle sich also kleiner, sieht die Kunst größer als sie ist. Ein Markttrick, der immer noch funktioniere. Was dabei herauskomme, seien aber nur gewollte Rätselhaftigkeit und Unverbindlichkeiten.

Durch eine Reihe von Kunstbegriffen (Originalitätszwang, Reflektionszwang, Marktforschung, Markenforschung) führt Ullrich den Leser auch durch die neuere Kunstgeschichte, die er aber permanent hinterfragt: Autonomie der Kunst? Künstlerische Qualität? Überraschend Neues? Für Ullrich ist die Kunst immer noch ein Phantombild, ein Joker, den man immer auf den Tisch werfen kann.

Das Problem ist vor allem, dass diejenigen, die die Deutungshoheit haben, kaum Interesse an transparenten Kriterien und offenen Diskussionen zeigen. An diesem Punkt setzt Hanno Rauterberg ein. Seinen Untertitel meint er durchaus ernst: "Eine Qualitätsprüfung"stelle er an. Sein Ausgangspunkt ist die Beobachtung: "Die Kunst ist frei und niemand kann über sie richten. Das ist das Missverständnis, mit dem alles anfängt." Und dem setzt er eine systematische Untersuchung entgegen, welche Kriterien es geben könnte und welche Floskeln von Interessierten (Künstlern, Galeristen, Sammlern) versuchen, die Klarheit zu verhindern.

Sehr viel handfester, genauer und auf den Punkt, sehr viel polemischer auch als Ullrich geht Rautenberg direkt und hart zur Sache. Ihn treiben Fragen um wie: Muss man moderner Kunst ratlos gegenüberstehen? Muss man alles gut finden, was teuer ist oder im Museum hängt? Und vor allem: Darf man sich ein eigenes Urteil erlauben, jenseits des Marktes, jenseits der aufgeblasenen Kunstkritik und des Kuratorengeschwafels? Seine Antwort ist: Man darf nicht nur, man muss!

Zunächst streift er in seinem Buch den Markt selbst, schreibt über den Kaufrausch auf den "Emotionsmaschinen", den Kunstmessen, über Auktionen gierige Galeristen und dumme Sammler, über die Museen, die immer mehr zu Marktplätzen verkommen und über die Kritiker, denen die Kriterien abhanden gekommen sind.

Im zweiten Kapitel beschreibt er die populärsten Irrtümer der Gegenwartskunst: Dass sie keine Kriterien kennt, dass sie Neues bieten muss, dass sie irritieren muss, wahrhaftig sein und dafür kein Handwerk mehr braucht, dass sie sich verweigern muss, dass alles gute Kunst sein kann, dass sie kritisch sein muss und gute Ideen braucht. Alles Unsinn, sagt Rauterberg. "Die Kunst ist frei und niemand darf, niemand kann über sie richten"? Geduldig erklärt er, wie dieses und die anderen Irrtümer entstehen konnten, welche Markmechanismen, welche Kunsttheorie dahinter steht, und warum diese Unsinn sind. Jedes der zehn Kapitel schließt er übrigens praktischerweise mit einer Volte ins Positive ab: "Und was heißt das für die Qualität der Kunst?". Über den Irrtum, dass alles neu sein muss, sagt er, dass das Neue "eigentlich kein Qualitätskriterium [ist], denn es sagt für sich genommen nichts darüber aus, ob es sich um eine sinnvolle Erneuerung handelt. Wenn ein Künstler beschließt, eine Skulptur aus Wattestäbchen zu basteln, was ist damit gewonnen? Entwickelt er damit reizvolle, bis dahin unbekannte Formenspiele? Treibt ihn ein inhaltliches Anliegen? Oder will er nur beweisen, dass sich Kunst auch aus Wattestäbchen oder Fruchtgummis oder Klopapier herstellen lässt? Viel zu viele Künstler erweisen sich als reine Formalisten: Sie verfolgen eine Neuheit, die nichts erneuern will. Und sehen rasch sehr alt aus." Und er schließt mit den Worten: "Neu zu sein, bedeutet nichts. Bedeutung aber braucht die Kunst."

Auf diesem sprachlich klaren und sehr hohen Reflektionsniveau befindet sich Rauterberg. Auch in den abschließenden Kapiteln, in denen er die Kritik noch einmal mehr ins Positive wendet und eine Anleitung gibt, wie sich die Beschäftigung mit Kunst, für den normalen Kunstliebhaber, aber auch für die vielen Kritikerändern könnte, die zwar (manchmal) viel Ahnung von Kunst haben, sich aber keine eigene Meinung mehr erlauben wollen, sondern Helfershelfer der Künstler sind. Ein folgenschwerer Irrtum und für die Leser der meisten Tageszeitungen, die doch vor allem wissen wollen, ob die Ausstellung was taugt, eine Qual.

Rauterberg meint, es komme zum einen auf das Betrachten selbst an. In fünf Schritten kann man sich einem Kunstwerk nähern. Was sagt mir mein Kunstgefühl? Finde ich Gefallen? Wird mir die Kunst verständlich? Was gibt mir die Kunst? Und: Will ich mir das Kunstwerk immer wieder anschauen oder reicht der eine Blick?

Radikal subjektiv, meint Rauterberg, komme man ans Ziel einer vorurteilsfreien Kunstbetrachtung. Was nicht heißt, dass man nicht auch möglichst viel über die Kunst wissen sollte, schließlich macht Kunst Spaß, sie bereichert das Leben. Und da will man, wenn man begeistert von Kunst ist, nicht dumm bleiben. In seinem letzten Kapitel möchte er die Kunstliebhaber zu mündigen Menschen erziehen: "Auf die ästhetische Erfahrung folgt die urteilende Verständigung."

Rauterbergs Buch ist eine sehr klare Analyse des Kunstmarkts und eine wunderbare Anweisung an alle Kunstliebhaber - die von der geballten Kritiker-Ausleger-Kuratoren-Elite so gern für dumm gehalten werden - wie sie sich befreien können. Wie sie von den Kuratoren und Künstlern profitieren können, wie sie aber gleichzeitig und bei jedem Galeriebesuch, bei jeder Museumsvisite genauer und sensibler auf die Kunst mit den eigenen Sinnen und den eigenen Gedanken reagieren können, wie man sich ein Instrumentarium selbst erschaffen kann, die Kunst zu betrachten und zu verstehen. Und wenn man dann zur Erkenntnis kommt, dass Gerhard Richter der überschätzteste und einer der langweiligsten Maler der Gegenwart ist, dass Meese ein nichtskönnender Scharlatan ist, dass die Abgänger der Kunstakademie, die als Shooting Stars gehandelt werden, fast allesamt auf dem Niveau von Elftklässlern im Leistungskurs Kunst sind - dann kann man sich gewiss sein, dass man zwar nicht unbedingt im Mainstream mitschwimmt. Aber vielleicht hat man ja trotzdem Recht. Immerhin hat man seine eigene Meinung, die man auch begründen kann. Und darauf kommt es an.


Titelbild

Wolfgang Ullrich: Gesucht: Kunst!
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007.
300 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783803125774

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Hanno Rautenberg: Und das ist Kunst? Eine Qualitätsprüfung.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
304 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783100628107

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