Goethe und kein Ende...?

Dieter Borchmeyers Frage nach dem Zeitbürger Goethe

Von Gerhart PickerodtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhart Pickerodt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Goethe und kein Ende, so ließe sich seufzen angesichts der Fülle dessen, was der Buchmarkt anläßlich des 250. Geburtstags im vergangenen Jahr hervorgebracht hat. Kaum einer derjenigen, die sich Goethe in der einen oder anderen Weise verpflichtet sehen, verzichtete auf die Präsentation seiner Perspektive auf Autor und Werk, Werk und Autor, selbst wenn er tief in die Abgründe seiner Vorlesungsskripten oder in die ersten Verzeichnisse seiner Computer-Festplatte zurückgreifen musste. Man schrieb markttaugliche Bücher, solche also, die sich an eine breite Leserschaft mehr oder weniger Gebildeter richteten, wo immer man diese noch zu finden hoffte, und man schrieb zugleich Bücher mit wissenschaftlichem Anspruch, der ihnen für die breite Leserschaft das Renommee vermittelte bzw. klappentexttaugliche Rezensionsextrakte.

Dieter Borchmeyers Goethe-Buch reiht sich in die Phalanx dieser doppelgesichtigen Werke ein, indem es zum einen einer immer wieder neu zu stellenden Frage nachgeht, hier der nach Goethes Zeitbürgerschaft, dem Verhältnis des Dichters zu den allgemeinkulturellen, geistigen, politischen, ökonomischen und ästhetischen Tendenzen seiner Zeit, und indem es andererseits durchwegs auf eigene ältere Arbeiten des Verfassers zurückgreift, denen im Kontext der Argumentation ein exemplarischer Stellenwert zugeschrieben wird. Letzteres wird in einer Weise einbekannt, die selbst in Mehrdeutigkeit schillert: "Das vorliegende Buch ist eine Art Summe der sich über ein Vierteljahrhundert erstreckenden Beschäftigung des Verfassers mit Goethe." Was nämlich ist eine "Summe", das weitergedachte Fazit oder die Sammlung des früher Geschriebenen zwischen den zwei Deckeln eines Buches?

Um es vorwegzusagen: Die Frage nach dem "Zeitbürger" (Schiller) Goethe wird von Borchmeyer nicht systematisch entwickelt und geschichtlich-biografisch entfaltet. Auch erscheinen die zeitbestimmenden Momente des Politischen oder Kulturgeschichtlichen oder Ästhetischen in ihrer jeweiligen Bedeutung für Goethe selber nicht hierarchisiert, sondern als eher kontingente Anstöße, deren Relevanz in den verschiedenen Perioden des Goetheschen Werkes wie selbstverständlich gesetzt und nicht als solche begründet und phasenspezifisch zugeordnet wird.

Als exemplarisch für Borchmeyers Verfahrensweise lässt sich das "Klassik"-Kapitel des Buches heranziehen. Grundlegend ist zunächst die These: "Zur Dialektik der Wirkungsgeschichte der Französischen Revolution - zu ihrer Folge zumal für die Weimarer Klassik - gehört, daß die Kultur des Ancien Régime gerade durch dessen politische Liquidation eine neue ästhetische Aufwertung erfuhr." Eine höchst problematische These übrigens, weil sie den Funktionswandel von der Repräsentationskultur des Ancien Régime zur Kultur der ästhetisch-moralischen Bildung des Bürgers völlig unberücksichtigt lässt. Weimar ist eben nicht Versailles, und dies nicht nur im Hinblick auf Weimar als Konglomerat aus Spätabsolutismus, Geistesadel und Kuhdorf. Da das französische Ancien Régime einer Art Staatsbankrott zum Opfer gefallen war, brauchten seine politischen Liquidateure nur die Konsequenz aus diesem zu ziehen, und dauerhaft waren in Frankreich weniger die politischen als die ökonomisch-sozialen Umwälzungen. In Deutschland hingegen zielte das Goethe-Schillersche Kulturdiktat ja keineswegs auf die Restitution der Kultur des Ancien Régime, nicht einmal im Zuge ihrer "neuen Semantisierung" - was immer das heißen mag -, sondern darauf, den Zivilisationbrüchen der modernen Welt mittels einer ästhetischen Harmonisierung des Individuums idealistisch zu begegnen - ein schon im Ansatz zum Scheitern verurteiltes Kulturkonzept, das deswegen auch auf Weimar beschränkt bleiben musste.

Borchmeyer sucht seine Ancien-Régime-Kulturthese auf drei Ebenen zu begründen, die als solche äußerst heterogen erscheinen und sich wahrscheinlich in ihrer Zusammenstellung lediglich dem Faktum verdanken, dass der Verfasser auf frühere Arbeiten zurückgreifen konnte. Die drei Ebenen sind Goethes Bühnenästhetik, seine erotische Dichtung sowie die Musikologie. Es sei nicht bestritten, dass alle drei Unterkapitel argumentativ gut entwickelte, auf eigenen Quellenstudien beruhende und in sich - als Einzelstudien - überzeugende Untersuchungen darstellen, die allerdings ihrer Substanz nach als auf ältere Arbeiten Borchmeyers zurückgreifende der Goethephilologie wohlbekannt sind.

Nimmt man allerdings diese Studien nicht für sich, prüft man sie im Hinblick auf ihren Anspruch, zu erhärten, dass die Kultur des Ancien Régime "eine neue Aufwertung erfuhr", so ist das Ergebnis nicht nur mager, sondern bisweilen geradezu kontradiktorisch. So etwa bezüglich Goethes erotischer Dichtung, wo behauptet wird, Goethe habe die erotische Thematik nur mittels einer "Codierung" umsetzen können, "die das Tabuisierte gewissermaßen zwischen die Zeilen verlegt, wo es niemanden mehr zu provozieren vermag und nur vom aufmerksamen Leser zu entschlüsseln ist." Dies mag, wenn man die Verbreitung der Kenntnis mythologischer Bildlichkeit zu Goethes Zeiten gering einschätzt, für "Alexis und Dora" gelten, jedoch nicht einmal für die publizierten "Römischen Elegien", in denen beispielsweise der Erfindungsakt des Dichtens an nackte Sexualität zurückgebunden erscheint.

Der Grundthese von der Aufwertung der Kultur des Ancien Régime zuliebe muss Borchmeyer die Schlüsse, die aus den Einzelstudien zu ziehen sind, bis zur Entstellung der Ergebnisse dehnen und strecken, und dies hat damit zu tun, dass die Klassik-These den Einzeluntersuchungen aufgepfropft wurde, was nun seinerseits auf Borchmeyers in anderen Zusammenhängen entwickeltes problematisches Klassik-Konzept zurückgeht.

Was hier hinsichtlich des Klassik-Kapitels anzumerken war, gilt für das gesamte Buch. Immer finden sich mehr oder weniger ins Auge fallende Brüche zwischen apodiktisch gesetzten Allgemeinheiten und Einzeluntersuchungen, die, so schlüssig sie auch in sich formuliert sein mögen, gewaltsam auf die in ihrer Allgemeinheit bereits in sich anfechtbaren Thesen bezogen werden. Wie schön und interessant erschiene beispielsweise der vergleichende Abschnitt über den "Faust II"-Schluss mit Wagners "Ring", müsste sich der Leser nicht permanent fragen, ob Wagner die Art und Weise der Zeitbürgerschaft Goethes bestätigt, verändert oder überbietet, eine Frage, die keine Antwort erfährt, sondern nur eine sehr vage Parallelisierung zwischen den Künstlern und den Künsten.

Hätte Borchmeyer sein Buch als gesammelte Goethe-Studien herausgebracht, hätte er auf den Anspruch verzichtet, Goethes Zeitbürgerschaft zum Integral sowie zum leitenden Gesichtspunkt aller Einzeluntersuchungen werden zu lassen, so hätte er sich dem selbstgesetzten Zwang nicht aussetzen müssen, die Resultate der Einzeluntersuchungen derart zu strapazieren. Die Summe der langen Beschäftigung mit Goethe sollte offenbar mehr sein als eine mathematische, sie sollte eine Art hermeneutischer Summe sein, eine Summe des Verstehens Goethes, und daran ist das Buch verunglückt, weil die begrifflich-systematische Arbeit an den Grundfragen der Goetheschen Phänomenologie des Zeitbürgers zu kurz gekommen ist und daher mit den Einzelstudien nicht angemessen zu vermitteln war.

Dem Druck des Jubiläumsjahres 1999 ist es möglicherweise zuzuschreiben, dass ein Buch auf den Markt gelangte, das methodisch und sachlich nicht ausgereift ist. Leider hat es doch nur zur mathematischen Summe gereicht, nicht zu der des Verstehens.

Titelbild

Dieter Borchmeyer: Goethe der Zeitbürger.
Carl Hanser Verlag, München 1999.
400 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3446196439

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