Von Sophokles zu Poe

David Daubes wenig überzeugende Archäologie der Detektivgeschichte

Von Jan WesterhoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Westerhoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Daubes "Die Geburt der Detektivgeschichte aus dem Geiste der Rhetorik" geht es nicht um Detektivgeschichten. Es geht auch nicht um Rhetorik. Es geht um Sophokles' "Ödipus" und seine Rolle als Vorläufer der Kriminalliteratur. Der Autor bemüht sich zu zeigen, dass die Tradition der Detektivgeschichte nicht etwa mit Poe und dessen "The Murders in the Rue Morgue" beginnt, sondern eben schon 2300 Jahre älter ist. Dieser seltsamen Idee steht natürlich die Tatsache entgegen, dass es sich bei dem "Ödipus" um ein Drama und keineswegs um eine Erzählung in irgend einem Verständnis des Terminus handelt. Doch solche Feinheiten scheinen den Autor in dieser Druckfassung einer 1980 in Konstanz gehaltenen Rede (die später unter dem Titel "Greek Forerunners of Simenon" veröffentlicht wurde) nicht anzufechten. "Ödipus" wird genau wie "neun von zehn heutigen Krimis eröffnet: mit einer Leiche [...] und man hat keine Idee vom Verbrecher." Es folgt eine "Ermittlung", und am Ende muss sich bekanntermaßen der Aufklärer selbst als Täter entlarvt sehen, eine Besonderheit, die "in modernen Krimis erst seit circa 1930 auftritt".

Der Begriff, den der Autor von der Kriminalliteratur besitzt, ist aber leider so schemenhaft, dass er wiederholt Detektivgeschichten Poescher Provenienz mit Kriminalromanen verwechselt (für ihn sind das alles "Krimis"). Unter solch unspezifischen Vorgaben lassen sich natürlich trefflich historische "Vorgänger" konstruieren. In der Daubeschen Argumentationsweise sind ebenso gut Genesis 4:1-15, Hoffmanns "Fräulein von Scuderi" oder Annette von Droste-Hülshoffs "Judenbuche" Vorläufer der Detektivgeschichte. Eine solch undifferenzierte Klassifizierung geht jedoch am Kern der Sache vorbei. Genauso wie eine Kurzgeschichte nicht einfach eine kurze Geschichte ist, wird die Detektivgeschichte nicht bloß dadurch bestimmt, dass in ihr ein Detetktiv ein Verbrechen aufklärt. Die nach Poeschem Vorbild angelegte Detektivgeschichte verfügt über eine Reihe spezifischer Merkmale, die für die weitere Entwicklung der Gattung entscheidend waren, jedoch weder im Sophokleischen Drama noch in weiteren, gern als "erste Detektivgeschichte" apostrophierten Werken zu finden ist. Ein wesentliches Attribut ist die Einführung eines "Watson", d. h. einer dem Ermittler bekannten Person (oft mit dem Erzähler identisch), dem sich der Leser intellektuell leicht überlegen fühlen kann, einer Figur also, die ihm die Gedankengänge des Detektivs nahe bringt. Darüber hinaus wird sich der Autor dem Gebot des fair play verpflichtet fühlen: alle Indizien, die der Detektiv zur Lösung des Falles braucht, sind bereits, wenn auch meist kunstvoll versteckt, im Text erwähnt worden. Der Ermittler hat also gegenüber dem Leser keinen Wissensvorsprung, er kann lediglich die bekannten Fakten so zusammensetzen, dass sie zur Lösung des Rätsels oder Falles führen. Endlich singt die klassische Detektivgeschichte gewöhnlich ein Loblied auf die Vernunft. Durch die Rationalität wird der Täter überführt und wird das durch das Verbrechen entstandene moralische Ungleichgewicht beseitigt. Nichts davon findet sich im "Ödipus". Gerade der letzte Punkt ist ihm diametral entgegengesetzt. Das volle tragische Ausmaß offenbart sich erst durch die Kraft von Ödipus' Intellekt. Seine geistigen Fähigkeiten haben ihn auf den thebanischen Thron durch Heirat mit Iokaste gebracht (indem er das Rätsel der Sphinx löste) und erlauben ihm schließlich auch, den Mord an König Laius aufzuklären. Hier ist die Rationalität keine heilende Kraft, im Gegenteil: ohne sie wäre Ödipus zumindest ein Teil der Katastrophe, nämlich die Heirat mit seiner Mutter, erspart geblieben.

David Daubes kurzer Aufsatz vermag somit keineswegs zu überzeugen. Für an der Entwicklung (und den "Vorgängern") von Detektivgeschichte und Kriminalroman Interessierte sind ausführlichere und kundigere Studien vorhanden.

Titelbild

David Daube: Die Geburt der Detektivgeschichte aus dem Geiste der Rhetorik.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 1983.
12,70 EUR.
ISBN-10: 3879402418

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