"Die verlorenen Funken der Schöpfung"

Ruth Oelze untersucht den jüdisch-theologischen Diskurs über die Shoah in Soma Morgensterns "Die Blutsäule"

Von Annika NickenigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annika Nickenig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Diese Bluttaten zu beschreiben und auszumalen würde nur einem gelingen, der gleichen Geistes wäre mit den Monstern, die sie begangen haben, einem also, der gewiß auch fähig wäre und willens, diese Bluttaten in Wort und Schrift zu wiederholen". So urteilt der Erzählende Richter über die Verbrechen während des Nationalsozialismus in Soma Morgensterns Roman "Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth". Das hier formulierte Darstellungsverbot macht deutlich, dass Morgensterns Text, trotz und wegen seiner tiefen Religiosität, keineswegs über ästhetische Fragestellungen erhaben ist, wie ein früher Rezensent des Textes konstatierte, sondern dass eine theologische Reflexion über die Shoah sich auf die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung erstrecken muss. Hoffnungsvoll hatte Morgenstern während der Flucht aus Wien seine Trilogie "Funken am Abgrund" verfasst; im Angesicht des Grauens von sechs Millionen Toten schreibt er im amerikanischen Exil "Die Blutsäule". Nach jahrelanger Schreiblähmung ist sein Anspruch an das zu verfassende Werk gewaltig: in dem nachträglich niedergeschriebenen "Motivenbericht" formuliert Morgenstern seine Ansicht, "daß ein jüdischer Schriftsteller, der sich von diesem ungeheuren Geschehen abwendet und seinem Beruf weiter nachgeht wie bisher, es nicht verdient, die Mörder überlebt zu haben. [...] Nicht nur werde ich mich von diesem Geschehen nicht abwenden, sondern ich habe mir vorgenommen, ein Buch zu schreiben, wie es einer vermöchte, der in seinem ganzen Leben nichts anderes gelesen hätte als die Bibel."

In ihrem Buch "Funkensuche. Soma Morgensterns Midrasch ,Die Blutsäule' und der jüdisch-theologische Diskurs über die Shoah" verfolgt Ruth Oelze die Spuren jüdischen Geschichtsbewusstseins, chassidischer Mystik und literarischer Sprachbewältigung nach Auschwitz in Morgensterns hochgradig symbolhaftem Werk. Mit dem Ziel, die "Begriffe Religion, Sprache und Identität miteinander in Beziehung zu setzen", gelingt es der Autorin auf sehr überzeugende und klare Weise, Morgensterns Text im ästhetischen und historischen Kontext einer Literatur nach Auschwitz zu verorten. Oelze arbeitet dabei sowohl die Parallelen mit anderen prominenten Formen der literarischen und philosophischen Auseinandersetzung heraus, wie auch die Besonderheiten des Textes, die in seiner religiösen Sinnsuche begründet sind: "Morgenstern wollte und mußte ein 'Totenbuch' schreiben [...]. Entstanden ist ein 'Midrasch', ein in Inhalt und Erzählstruktur zutiefst in der jüdischen Kultur verwurzeltes religiöses Bekenntnis - in deutscher Sprache."

Oelze bewertet das Werk Morgensterns als dezidiert deutsch-jüdisches: als gläubiger Jude schrieb Morgenstern in christlicher Umgebung und in der verhassten Sprache der Täter über das jüdische Leben und die jüdische Kultur der Erinnerung. Die besondere Bedeutung von Schrift und Geschichte im Judentum spitzt sich in seinem Werk zu. In Galizien aufgewachsen und in Wien studiert, muss Soma Morgenstern fliehen, seine schriftstellerischen Ambitionen werden unterbrochen, kaum dass sie begonnen hatten. Er flüchtet nach Frankreich, schließlich weiter über Marokko und Lissabon nach New York. Während Morgensterns Geburtsort Galizien in der spezifischen Situation zwischen Ost und West, Tradition und Aufklärung jeden nationalstaatlichen Identitätsentwurf in Frage stellt, so ist die Exilsituation des Schriftstellers eine zweifache: zum einen die historische Situation der Flucht aus Nazi-Deutschland, zum andern das jüdische Selbstverständnis der Diaspora, so dass die Vorstellung von Heimat nicht in erster Linie geografisch, sondern durch den Glauben geprägt ist.

Es ist vor allem diese theologische Ausrichtung, die eine breitere Rezeption der Texte von Soma Morgenstern verhindert haben mag. Oelze erklärt dieses Phänomen auch mit Schuldabwehr: "Mit der Frage, wo Gott in Auschwitz war, hat man sich auf christlicher Seite bis auf einige zögerliche Ausnahmen kaum beschäftigt, wie es überhaupt noch keine umfangreiche und ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegeben hat." Wo andere Schriftsteller die totale Sinnverweigerung zum ästhetischen Prinzip erkoren und Texte schufen, die sich einer Katharsis verweigern, da setzt Morgenstern auf die Idee der Erlösung, möglich geworden durch die Gründung des Staates Israel. "Die kalte Stummheit des Ekels habe ich mit dem Feuer des Zornes ausgebrannt [...]. Und da geschah das Wunder der Weltgeschichte: In den United Nations ereignete sich das Auferstehen Israels. Ich fühlte, wie ein großer Trost das Leben wieder lebenswert machte." Mit der Vorstellung von Sühne und Auferstehung greift Morgenstern religiöse Anschauungen auf, nach denen dem jüdischen Volk nach dem Leiden die Erlösung zuteil wird. Im Roman ist dies in der Darstellung einer Gerichtsverhandlung verwirklicht. Die Ungewissheit, mit welchem Verständnis von Gott und vom Menschen sich nach Auschwitz "weiter leben" lässt, koppelt den Text an die ethischen Fragestellungen der Shoah-Literatur. Die Gerichtssituation ist ein häufiges Mittel der Verarbeitung, so in Peter Weiss' "Die Ermittlung", welches die Auschwitz-Prozesse in Form dantesker Gesänge inszeniert, oder in Franz Kafkas "Der Prozeß", wo ein undurchschaubares Urteil mit völliger Willkür über den Protagonisten hereinbricht. Die Frage nach Gerechtigkeit verbindet die weltliche mit einer höheren Instanz, das Gericht wird zur göttlichen Institution, vor welcher der Mensch sich zu rechtfertigen hat.

In Morgensterns Roman versammeln sich nach und nach die einzelnen Charaktere in der 'Alten Schul' zu einem solchen Gericht: drei Zöllner mitsamt einer unheimlichen Holzkiste, zwei Priester und einige deutsche "Mordbrenner", SS-Soldaten, die Tausende jüdischer Menschen ermordet haben und sich auf der Flucht vor der Roten Armee befinden. Ein Bote, als Abgesandter der oberen Welt, inszeniert die Gerichtsverhandlung als das "irdische Abbild des jenseitigen Verfahrens". Vor zehn Richtern wird das Massaker in der Alten Schul am Jom Kippur erzählt, bezeugt und gerichtet, bis Nehemia, Bruder des ermordeten Jochanaan und Sohn des Toraschreibers, eine abschließende Rede hält, die das Leid in Erlösung wandelt.

Die Kiste, "der Schrein", enthält eine Wachsfigur, die den antisemitischen Spottgemälden an den Wänden der Alten Schul ähnlich ist und die Bedeutung der Aufschrift der Holzkiste erklärt: "Garantiert echte Figurenseife für die Helden der SS No. 27 mit dem Dank des Führers Weihnachten 1943". In einem späteren Kapitel, das in seinem grotesken Sprachduktus von den übrigen abweicht, inszeniert Morgenstern den offiziellen Beschluss von "Schreihals" Hitler, "Klumpfuß" Goebbels und "Fettwanst" Göring, nicht nur die Juden, sondern auch ihren Glauben zu töten, den entsetzlichen Tod noch verwertbar zu machen und die Leichen zu Seife zu verarbeiten: "Wir haben den Juden das Leben zur Schande gemacht, wir müssen auch ihren Tod schänden." Vor dieser Seifenfigur, die dem Jungen Jochanaan ähnelt, "steht Satan, wie wir alle hier, in Tränen". Nicht einmal der Teufel ist unterdessen gewillt, die Verteidigung der Deutschen anzutreten: "Die Deutschen haben es fertig gebracht, das Böse so zu verschandeln, daß es sogar dem Satan zum Ekel geworden ist".

Die Kiste mit der darin enthaltenen Figur ist das Symbol, nach dem Morgenstern nach eigenen Aussagen jahrelang gesucht hat, bevor er den Roman schreiben konnte. Zum einen ist damit ein Bild für das schrecklichste aller Verbrechen gefunden, zum andern wird die Figur zum Ausgangspunkt eines Erlösungsgedanken - Nehemia hält sie am Ende in den Armen wie eine Torarolle und verkündet die Rückkehr ins Heilige Land.

Aufgrund der Unsagbarkeit der dargestellten Ereignisse erfordert die Shoahliteratur, so führt Ruth Oelze aus, eine andere Herangehensweise als jede andere Form von Literatur. Nicht nur verweigern sich diese zwischen historischem Dokument, persönlicher Zeugenschaft und Fiktion angesiedelten Werke einer wissenschaftlichen Zurichtung. Auch stellt sich für Texte, die Auschwitz zu ihrem Thema machen, das Problem von Autorität und Authentizität auf andere Weise, ist stärker an ethischen Maßstäben und der Idee einer generationenübergreifenden Verantwortung orientiert als an dem Anspruch einer möglichst 'realistischen' Abbildung.

Die zentrale Rolle von Erinnerung, der permanente Rückbezug auf die eigene Geschichte und die Bedeutung der Weitergabe von Wissen und Erinnerung manifestieren sich in der Form des Textes, in der mehrfachen Verschachtelung von Erzählsituationen, Geschichten und Gleichnissen, Urteilen und Mahnungen. Die Figuren sind symbolisch angelegt und stehen für Personengruppen und Geisteshaltungen, die Verhältnisse der Figuren untereinander bilden wiederum historische und kulturelle Konstellationen ab. Das Verstehen und Auslegen historischer Ereignisse wird im Judentum als religiöse Betätigung begriffen, Geschichte und Religion sind mit einander verflochten wie in keinem anderen Glauben. Umso schwieriger gestaltet sich der Versuch, den Holocaust in das historische Gedächtnis zu integrieren und dabei den Glauben aufrecht zu erhalten. Theologische Betrachtungen pendeln, so arbeitet Ruth Oelze heraus, zwischen der Wahrnehmung des Holocaust als Fortsetzung vergangener Verfolgungen und der Betonung der Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Hält man sich die besondere Rolle von Erinnerung und Gedenken im Judentum vor Augen, so lässt sich der Holocaust auch als Mnemozid begreifen. In Israel, dessen Gründung für Morgenstern ein Hoffnungsschimmer war, hat man mit der Einführung des Jom HaShoah das Gedenken für alle Juden verbindlich gemacht.

Morgenstern besiegelt mit "Die Blutsäule" seine zionistische Wende und erklärt die Shoah zum Ausgangspunkt der Erlösung, was nicht bedeutet, dass den Toten ein Sinn gegeben werden soll. Im Gegensatz zur christlichen Märtyrervorstellung hat der Tod nichts Versöhnliches, vielmehr sind "die Überlebenden begnadeter als die Gestorbenen". Die Figur des Nehemia wird, wie Oelze ausführt, zur Verkörperung einer "Negativen Sakrifikologie": anstelle völliger Schicksalsergebenheit wirkt der Mensch an der Erlösung der Welt mit: "Ausgesandt seid ihr in die Verbannung, um die Funken der Heiligkeit einzusammeln, die in die unreinen Abgründe der Finsternis gefallen sind, da bei der Erschaffung der Welt die Gefäße der Schöpfung zerbrachen. Die verlorenen Funken der Schöpfung einzusammeln, deren sich die Dämonen der unreinen Angründe bemächtigt haben, das ist die Sendung Israels in der Verbannung." In ihrer Schlussbemerkung weist die Autorin richtigerweise auch darauf hin, wie stark Morgensterns Text und der ihm eigene Optimismus untrennbar mit dem Entstehungskontext verbunden sind. Die politischen Konflikte der Gegenwart lassen wieder stärker den Abgrund als die Funken nach vorne treten.


Titelbild

Ruth Oelze: Funkensuche. Soma Morgensterns Midrasch "Die Blutsäule" und der jüdisch-theologische Diskurs über die Shoah.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006.
190 Seiten, 52,00 EUR.
ISBN-10: 348465161X

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