Dämonen des Bewusstseins

Mittelaltermythen in germanistischen und volkskundlichen Studien

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Volksglaube des Mittelalters wusste zwischen empirischer und imaginierter Realität nicht zu unterscheiden. Fabelwesen und Ungeheuer erschienen dem Menschen jener Zeit nicht weniger wirklich als Pflanzen oder Tiere, die zu seiner unmittelbaren Alltagswelt gehörten, war er doch der festen Überzeugung, dass alles, was vorstellbar sei, in Gottes Schöpfung auch existieren müsse. Mit dem Glauben an das Vorhandensein wundersamer Wesen reagierte der Mensch des Mittelalters vor allem auf solche Phänomene, für die er keine rationale Erklärung fand. Dämonen, Monster und Fabelwesen schlossen somit die Lücke zwischen der Sinneswahrnehmung auf der einen und dem Bewusstsein auf der anderen Seite.

"Dämonen, Monster, Fabelwesen" lautet auch der Titel eines Sammelbandes, den Ulrich Müller und Werner Wunderlich nunmehr als zweiten Band ihrer zwar noch jungen, aber verdienstvollen Reihe "Mittelaltermythen" herausgegeben haben. Hervorgegangen ist er aus der Arbeit des St. Gallener Forschungsprojekts "Medieval Myths", und zweifellos haben die Herausgeber mit ihm ein beeindruckendes Dokument erfolgreicher interdisziplinärer Zusammenarbeit von Germanistik und Volkskunde vorgelegt.

In mehr als dreißig Beiträgen stellt ein Kreis internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Phantasiegeschöpfe vor, die ihre Popularität zuweilen mehr der Trivial- oder Fantasy-Literatur verdanken als den unzähligen mittelalterlichen Chroniken, Bestiarien, Apodemiken, Epen und Naturgeschichten, in denen sie erstmals beschrieben wurden. Im Falle des Grafen Dracula etwa war - von Bram Stokers gleichnamigem Roman einmal abgesehen - insbesondere das Medium des Films dafür verantwortlich, daß die historische Figur des Vlad Tepes (1430 - 1476), des grausamen Herrschers über die Wallachei, als blutsaugender Vampir wiederauferstehen konnte. Kaum anders verhält es sich beim Werwolf, der als ein zwischen Mann und Wolf changierendes Zwitterwesen schon um 1700 v. Chr. die Phantasie der Menschen anregte und bis auf den heutigen Tag zum Standardensemble von Horrorfilmen und Schauerliteratur gehört. Geschöpfe wie Medusa, Pegasos oder die Harpyien wiederum entstammen der antiken Mythologie und haben ebenso Eingang in die mittelalterliche Vorstellungswelt gefunden wie Lilith, die vermeintlich erste Frau Adams, oder der Leviathan, den das Alte Testament bald als schlangenartiges Ungeheuer, bald als Flußpferd beschreibt. Fenriswolf und Midgardschlange finden vor allem in der altisländischen Dichtung der Edda Erwähnung, doch scheint zumindest im Falle der Midgardschlange der Einfluß kontinentaler Endzeitvisionen denkbar. Mit dem Einhorn, dem Greif und dem Phönix stellt der Sammelband schließlich auch solche Tiere vor, die zum festen Bestand des "Physiologus" gehören, einer mittelalterlichen Tradition der Naturbetrachtung, in der Eigenschaften von Tieren im Hinblick auf die christliche Heilsgeschichte ausgelegt werden.

Das Bemühen der Autoren, bei ihren Darstellungen auf die literarischen und künstlerischen Quellen zurückzugehen, erscheint um so verdienstvoller, als diese angesichts des Popularisierungseffekts, den das Medienzeitalter gerade im Hinblick auf Phänomene des Volksglaubens mit sich bringt, mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten drohen. Dass dennoch die Rezeptionsgeschichte der einzelnen Tiere und Fabelwesen nicht aus dem Blick gerät, macht die Qualität der Beiträge aus, die trotz ihres hohen wissenschaftlichen Niveaus auch für interessierte Laien lesbar bleiben.

Titelbild

Ulrich Müller / Werner Wunderlich: Dämonen, Monster, Fabelwesen.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 1999.
600 Seiten, 60,30 EUR.
ISBN-10: 390870104X

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