Die neue Mitte der Medientheorie

Florian Rötzer handelt vom Überleben im Netz

Von Timo KozlowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Timo Kozlowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Eine gigantische neue Großstadt wächst heran - eine Großstadt, die man auf keiner Weltkarte findet, denn sie existiert gleichzeitig und überall. Die neue virtuelle Metropolis Cyberspace wird im nächsten Jahrhundert weltweit das Leben jedes einzelnen verändern, auch wenn er nicht daran teilnehmen kann". Markige Worte, mit denen sich Florian Rötzers Band "Megamaschine Wissen. Vision: Überleben im Netz" vorstellt. Fast zwei Dritel der 248 Textseiten nimmt Rötzers Essay "Lebenswelt Cyberspace" ein, der von zwölf Thesen abgeschlossen wird. Den Rest der Seiten füllen fünf kleinere Essays von Computerexperten und Cyberaktivisten aus allen Ecken der Welt.

Rötzers Grundthese ist, dass sich die heutige Gesellschaft in einer Umbruchsphase befinde. Die Menschheit macht sich auf, eine neue Welt zu erobern: den Cyberspace. Ein völlig neuartiger Exodus, "weil er nicht vollständig passiert und man in der unauflösbaren Spannung zwischen zwei Welten lebt, weil man aber auch gleichzeitig in zwei oder vielleicht drei Welten präsent sein kann". Dieses Auswandern versucht Rötzer zu beschreiben und die Chancen und Gefahren darzustellen, die dabei entstehen können. Als Herausgeber der Online-Zeitschrift "Telepolis" (http://www.heise.de/tp/) verspricht Rötzer eigentlich ein kompetenter Führer in die Welt der Zukunft zu sein. Tatsächlich findet man auch in Rötzers Essay die Elemente, die in "Telepolis" immer wieder auftauchen: die Stadt als Metapher, um das Leben in der virtuellen Welt darzustellen; das globale Gehirn, das sich aus dem Internet entwickeln werde; das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem im Internet und der Massenmedien; und schließlich die Frage, wem das Wissen gehören soll.

In drei Abschnitte hat Rötzer seinen Essay eingeteilt. Teil eins beschäftigt sich mit den Gefahren und Chancen des Cyberspace; die Megamaschine Wissen und Kommunikation steht im Mittelpunkt des zweiten Teils; und im dritten wird ein elementares Problem angesprochen: Wem gehört das Wissen? Wer darf Wissen benutzen, das jemand anderem gehört?

Wichtigen Fragen stellt sich Rötzer, und gerade die beiden letzten Teile seines Essays enthalten sehr wertvolle Denkanstöße. Provinzialismus, wie er vor kurzem vom indischen Wirtschaftsminister unter anderem am Beispiel der "Kinder statt Inder"-Kampagne kritisiert worden ist, weicht Rötzer aus. "Lebenswelt Cyberspace" ist damit auch ein politisches Buch geworden - mit überraschend wenig medientheoretischem Brimborium. Statt dessen beschäftigt sich der Autor hauptsächlich mit den globalen, sozialen Auswirkungen der Wissensgesellschaft. Kritisch äußert er sich zu Versuchen verschiedener Staaten und Firmen, den freien Fluß von Wissen und Informationen in irgend einer Weise zu beeinträchtigen. Sobald Rötzer allerdings die Wissenskluft zwischen Entwicklungs- und Industrieländern mittels Internet schließen möchte, wandelt er sich zum radikal-naiven Netz-Apologeten. Wenn erst einmal das Internet an ein Dorf angeschlossen sei (oder umgekehrt), dann bestünde für die Dorfgemeinschaft die Möglichkeit, sich weiterzubilden und durch die gewonnenen Erkenntnisse mittels Telearbeit bei amerikanischen oder europäischen Firmen in Lohn und Brot zu stehen. Dies mag für Schwellenländer wie Indien zutreffend sein, für die Philippinen macht Roberto Verzola in seinem Beitrag in "Megamaschine Wissen" eine gegenteilige Prognose: "Wer vom 'globalen Dorf', vom 'unmittelbaren Zugang zu den Bibliotheken der Welt' und vom 'freien Informationsfluß' schwärmt, der verkennt, worum es nach wie vor geht: ums weltweite Abkassieren".

Das Prinzip für den weltweiten Wissens- und Informationsaustausch, das Rötzer favorisiert, nennt sich "Ökonomie des Schenkens", wie er es in der Hackerkultur verwirklicht sieht. Den Begriff Hacker verwendet er, wie er im angelsächsischen Sprachraum gebräuchlich ist, nämlich in der Bedeutung vonComputerfreak, der sich in einer alternativen Szene tummelt, und dem technisches Knowhow wichtiger ist als ein gutbezahlter Job. Wer illegal und mit destruktiver Absicht in fremde Computernetze eindringt, also das, was ein Hacker der deutschen Bedeutung des Wortes nach tut, wird von Rötzer als Cracker bezeichnet, ebenfalls gemäß dem englischen Sprachgebrauch. In frei zugänglichen Hackerprojekten wie dem GNU-Projekt und dem UNIX-Klone Linux sieht er die Modelle der Zukunft. Dafür fordert er staatliche Unterstützung: Behörden sollten das frei erhältliche Linux anstelle kommerzieller Lösungen einsetzen.

Leider wimmelt es in Rötzers Text von haltlosen Behauptungen, ungenauer bzw. sogar falscher Verwendung von Fachbegriffen, sowie Orthographie- und Grammatikfehlern. Ein Beispiel dafür ist das Wort Cyberspace, das Rötzer immer dann verwendet, wenn es in irgendeiner Weise um das Internet als Lebensraum und Arbeitsplatz geht. Eigentlich wird darunter die dreidimensionale Darstellung eines simulierten Raumes verstanden, in dem man mit einem Datenhandschuh interagieren kann, so in William Gibsons Klassiker "Neuromancer", wo der Begriff Cyberspace zum ersten mal auftaucht. Rötzers Begriffsbestimmungen sind in der Regel so allgemein und schwammig, dass sie eher zur Verwirrung beitragen, zumal sie sich gelegentlich widersprechen. So wird beispielsweise HTML als »standardisierte Sprache, auf der das Internet basiert« bezeichnet, im Glossar hingegen ist das Übertragungsprotokoll TCP/IP »die Grundlage des Internet«. Richtig ist letzteres. HTML hingegen ist grundsätzlich eine Beschreibungs- und keine Programmiersprache, mit der die Seiten im World Wide Web ihrem rhetorischen und logischen Aufbau nach strukturiert werden können. Das World Wide Web ist auch nicht das Internet, sondern einer der Dienste, die auf dem Internet aufsitzen. E-Mail und die Diskussionsforen des UseNet sind weitere solche Dienste. Dass "standardisierte Sprache" schon wieder nahelegt, dass es sich auf die inhaltliche und die stilistische Ebene bezieht, kommt noch hinzu. Und warum ein zentraler Begriff wie HTML im Glossar nicht aufgeführt ist, mozilla.org aber schon, das weiß wohl auch nur Florian Rötzer allein.

Medientheoretiker neigen zu einer gewissen Art des Totalitarismus, der sich darin zeigt, dass alles nur noch als seine mediale Spiegelung interpretiert und als Metapher dargestellt wird. Rötzers Lieblingsmetapher ist die virtuelle Großstadt - auch wenn er die Großstadt wohl gleich überspringen und von der Mega-City sprechen würde. Im hier vorliegenden Essay jedenfalls liefern sich "Stadt" und "Megamaschine" ein Wettrennen um die Frage, welche der beiden Metaphern denn nun die Mega-Metapher ist?

Das Ergebnis ist ein Text, der vornehmlich auf Schlagworten beruht und der Sätze wie diesen enthält: "Im Unterschied zur wirklichen Welt integriert der Cyberspace: Wissen, Technik und Wirklichkeit". Da "Megamaschine Wissen" Band der Reihe "Visionen für das 21. Jahrhundert" zur Expo 2000 ist, könnte man die drei zitierten Begriffe leicht durch das Expo-Motto "Mensch, Natur, Technik" ersetzen - eine Blase bekommt durch eine weitere nicht mehr Gehalt. Was Rötzers Essay noch am deutlichsten zeigt, ist wie sich der rhetorische und inhaltliche Stil der "Neuen Mitte" auf die Medientheorie und die Philosophie ausbreitet. Müntefering läßt grüßen.

Immerhin: Zwischen halbgaren Schwammigkeiten blitzen hier und da doch kluge Gedanken auf, die zeigen, dass sich hinter den Schlagwortkaskaden mehr als das Abhaken von Trendbegriffen verbirgt. Wenn ehemalige Bundesminister, die den Bundesländern keinen entsprechenden Rahmen in der Bildungspolitik gesetzt haben, nun im Landtagswahlkampf »Kinder statt Inder« fordern, dann sind Rötzers Thesen zur Beseitigung der Wissenskluft trotz der formalen Schwächen für die derzeitige Globalisierungs- und Digitalisierungsdebatte wichtig. Ob das Internet für die Dritte Welt wirklich der Königsweg aus der Abhängigkeit von den Industriestaaten ist, ist zu bezweifeln - zumindest in der Art, wie Rötzer das Netz als Lösung aller Probleme präsentiert. Er ist ein Idealist, dessen Idealismus vor den Landesgrenzen nicht haltmacht. Manche seiner Vorstellungen erscheinen überzogen, andere naiv und wieder andere hingegen sind überaus gelungen. Die amerikanische Softwareindustrie hat uns in letzter Zeit mit Zukunftsvisionen geradezu überschwemmt. Gegen Bill Gates, Scott McNealy und Steve Jobbs wirkt Florian Rötzer schon wieder sympathisch.

Titelbild

Florian Rötzer: Megamaschine Wissen. Vision: Überleben im Netz.
Campus Verlag, Frankfurt 1999.
263 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3593360446

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