Keine Wurzeln, nur Gedächtnis

Zwei jüdisch-tschechoslowakische Schicksale im 20. Jahrhundert

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frank Reiss und Robert F. Lamberg gehören derselben Generation an. Beide stammen aus der Tschechoslowakei und wuchsen als säkularisierte Juden auf. In ihrer Kindheit wurden sie von den Deutschen verfolgt, von ihren Familien überlebten nur wenige Angehörige. Nach dem Nationalsozialismus blieben sie in ihrer Heimat, hatten dann zwar nicht die gleichen Probleme mit der Regierung wie unter deutscher Besatzung, wurden aber aus den gleichen Gründen diskriminiert. Beide flohen vor dem Realsozialismus und wurden erfolgreiche Weltbürger. Seit kurzem liegen ihre Autobiografien vor.

Reiss wurde 1935 geboren. Seine Familie floh nicht vor den Deutschen; seine Mutter schloss sich dem österreichischen Widerstand an und wurde ermordet, sein Vater kam im August 1942 im Konzentrationslager Majdanek um. Von 1941 an lebte Reiss bei einer Pflegefamilie, den Polláks. Sein Vater wurde eines Tages deportiert, die Polláks hingegen, obwohl auch sie Juden waren, konnten sich stets retten - wenn auch mehr schlecht als recht. Von 1942 an wurden sie in verschiedene Lager verbracht, konnten dem Abstransport zur Vernichtung aber immer entgehen. Das letzte halbe Jahr vor der Befreiung waren sie im Konzentrationslager Theresienstadt, wo sie im Mai 1945 von den Sowjets befreit wurden.

Der beste Freund, von dem im langen und ein wenig reißerischen Titel des Buchs die Rede ist, ist Roman Mach, Sohn von Sano Mach, Führer der faschistischen Hlinka-Garden und zeitweise Innenminister. Er organisierte mit und für Adolf Eichmann die Deportation der tschechoslowakischen Juden. Roman erlebte bis 1945 eine Kindheit in Wohlstand, auch nachdem er Ende 1944 mit seiner Familie - aber ohne Vater - nach Österreich geflohen war. 1945 wurden er und seine Familie an die Sowjets ausgeliefert und vorübergehend interniert, der Vater aber zu einer langen Haftstrafe verurteilt, obwohl man von der Todesstrafe ausging.

An diesem Wendepunkt "drehten sich die Verhältnisse um", aber nur für kurze Zeit. Unter dem sozialistischen Regime werden beide wegen ihrer Herkunft diskriminiert. Roman würde gerne an der neuen Ordnung teilnehmen, darf aber nicht, Frank will es gar nicht erst. Vor dem Holocaust spielten sie zusammen Fußball, danach waren sie Klassenkameraden. Dass sie beste Freunde wurden, darauf würde man nicht kommen, stünde es nicht im Titel, so bedeutungslos sind die beiden im Buch füreinander. Abwechselnd wird ihr Leben erzählt. Während sich Frank 1968 über Wien nach New York absetzt, bleibt Roman im Land, wird Zahntechniker, zwischendurch Skilehrer und spielt nur als Sohn des Vaters eine Rolle, weswegen er mal wieder im Text auftauchen darf, als dieser im Mai 1968 amnestiert wird. Frank macht sein Schicksal zu seinem Beruf. Seit 1968 arbeitet er für die "Hebrew Immigrant Aid Society" (HIAS), kehrt in dieser Funktion und später dann als Europa-Direktor der "Anti-Defamation League" (ADL) nach Europa zurück und ist seit 1989 in der Tschechoslowakei tätig.

Lamberg ist sechs Jahre älter als Reiss und konnte sich mit seinem Vater zusammen der Verfolgung entziehen. Auch für ihn war das Glück der Befreiung nur ein kurzes. Sehr bald wähnte er sich auch in der neu gegründeten Tschechoslowakei "weiterhin in Feindesland", und für ihn blieb dieses Land "eine faschistisch infizierte Provinz". Er stellte fest, dass kommunistische Funktionäre nur dann deutschfeindlich handelten, wenn die Deutschen Juden waren. 1946 kam es zu den ersten antijüdischen Ausschreitungen. Kommilitonen versorgten ihn ungefragt mit den "Protokollen der Weisen von Zion" und grüßten einander und ihre Professoren mit dem faschistischen Gruß. Nach dem Militärdienst wurde er offiziell als "offener Feind des volksdemokratischen Regimes" eingestuft, weswegen er nur durch eine List eine Anstellung finden konnte. Lamberg floh im Oktober 1957 nach Norwegen, ging nach Wien, dann nach Israel und wieder zurück nach Norwegen. Seit 1962 schrieb er für die "Neue Züricher Zeitung" (NZZ), der er und die ihm ein Leben lang treu bleiben sollte. 1963 kam er nach Deutschland und ging Mitte der 1960er-Jahre nach Lateinamerika, wo er bis heute lebt.

Reiss' Geschichte wird anscheinend von Pavel Matocha, einem seiner Söhne, erzählt. Vielleicht liegt es daran, dass das Buch reichlich wirr ist. Es ist bereits an sich problematisch, das Leben von jemand anderem zu erzählen; wie viel schwerer muss es da sein, jemandes Leben objektiv zu erzählen, dem man emotional eng verbunden ist und dessen Biografie folglich durch eigene Erinnerungen überdeckt wird. Aber das Buch ist auch schlichtweg benutzerunfreundlich: immer wieder wird der Chronologie vorgegriffen und werden Szenen aus der Gegenwart eingefügt, ohne dies kenntlich zu machen. Offensichtlich ist dies auch nicht einer besonders ausgebufften Erzählstrategie geschuldet. Zusätzliche Verwirrung stiften zahlreiche Namens-Synonyma, zu denen man sich die Menschen mühselig zusammensuchen muss. Personen tauchen ohne Grund auf und verschwinden wieder; erzählerische Seitenstränge werden eröffnet, ohne dass sie irgendeine Rolle spielen; ein Name irgendeines Bekannten oder Verwandten wird immer wieder gerne als Anlass genommen, nicht nur dessen, sondern auch seines Lebenspartners Berufsweg in feinste Verästelungen zu folgen. Von seiner Verfolgung hat Reiss eine gewisse Herbheit mitgenommen, steht aber ansonsten atemlos vor dem Wunder seines Lebens, sonnt sich in seiner Karriere und zeigt immer wieder gerne, dass er Umgang mit Reichen, Mächtigen und Prominenten hatte. Dies sei ihm gegönnt, ist aber uninteressant.

Auch Lamberg, der "ethische Anarchist", hat seine Geschichte aufgeteilt. In dem einen Strang erzählt er sein Leben von der Kindheit bis zur Flucht, in dem zweiten, alternierend, sein Leben von der Flucht an, so lange, bis das Ende des ersten Strangs den Beginn des zweiten erreicht hat. Im Gegensatz zu Reiss feiern hier die Qualitäten der alten journalistischen Schule Hochzeit. Ausführlichkeit und Kürze werden optimal verbunden und mit Lambergs lakonischer Bissigkeit gewürzt. Er ist auch wesentlich hellsichtiger und kritischer, vor allem gegenüber den Deutschen und hier besonders gegenüber den Sudetendeutschen, oder, wie er sie an einer Stelle nennt, "gewisse deutsche Schreihälse in den Randgebieten". Antisemitismus war für seine Familie auch Generationen vorher schon allgegenwärtig, nicht erst, als er sich in den 1930er-Jahren als "lokaldeutsche Folklore" etablierte. Nach 1945 ist er über die problemlosen Karrieren von Nazis erstaunlich gut informiert und stößt in deutschen Verwaltungen immer wieder auf sie. Ein Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) beschuldigt ihn in den 1960er-Jahren bei einem Abendessen - als Jude und Teil der Judenheit - schuld zu sein am Aufstieg der NPD; ganz ähnlich im übrigen sein ehemaliger Schulheimleiter, der ihn aus den gleichen Gründen im Oktober 1939 als ,Strafe' für den Beginn des Zweiten Weltkriegs schwer prügelte.

Beide Bücher beginnen mit einer der Chronologie vorweggenommenen Szene antisemitischer Verfolgung: unter diesem Stern wird ihr ganzes Leben stehen. Eines frühen Morgens wird Reiss mit seiner Pflegefamilie von Männern der Hlinka-Garde abgeholt. Er sieht keinen Sinn darin, seine Schuhe noch anzuziehen, denn wenige Tage vorher war die Hlinka-Garde auch da, schnappte einige Dutzend Juden, zwang sie, ihre eigenen Gräber auszuheben, erschoss alle Erwachsenen und warf die Kinder kurzerhand auf die Leichen, um sie dann lebendig zu begraben. Franks achtjähriger Freund Turi war auch unter den Opfern. Nun sind sie dran. "Im Dorf habe ich dann so viele Leute versammelt gesehen wie nie zuvor. Einige gratulierten den Hlinka-Garden zu ihrer guten Beute. Viele verspotteten uns. An den Türen standen auch Jungen, mit denen ich vor gar nicht langer Zeit Fußball gespielt hatte. Noch mit Turi. Ihnen werde ich niemals verzeihen."

Es sind diese Szenen von Ausgeliefertsein, Hilflosig- und Ausweglosigkeit, diese Situationen, wenn Nachbarn, Freunde oder Bekannte zu Feinden werden, die in beiden Büchern beeindrucken und quälen. Von Mitschülern wurde Lamberg ständig geschlagen und gequält. Eines Abends wurde er im Schulheim wieder durch den Speisesaal gejagt. "Nach der dritten, vierten Runde schmerzte schon der ganze Rücken von den Schlägen, aus der Nase begann es rot zu tropfen. Lange konnte ich wohl nicht mehr durchhalten. So tat ich denn das Verpönte, was ein echter Junge [...] nie getan hätte: ich klopfte an Schüsslers Tür. Der auf breiten Latschen watschelnde Diakon mit schütteren dunklen Haaren trat aus dem Gemach, Herbertchen, den Erstgeborenen, im Arm: ,Vatabitte, sie schlagen mich und beschimpfen mich...' ,So, was sagen sie dir denn?' ,Sie nennen mich Judenschwein...' Schüsslers Antlitz umspielte ein feines Lächeln, er streichelte Herbert übers Haar: ,Na und - bist du denn keiner?' Sachte schloss er die Tür zu seinem Schlafzimmer."

Wie wächst man auf, wenn man in der Schule täglich die Lieder der Hitler-Jugend hört, in denen die Vernichtung der Juden besungen wird? Lamberg war nicht Opfer der Nazis, sondern Objekt einer vollständig antisemitischen und gewaltlüsternen deutschen Umwelt, die bis unmittelbar vor dem Eintreffen der sowjetischen Armee nicht von ihrem Ideal einer wehrhaften Volksgemeinschaft lassen wollte.

Beide überlebten durch Witz und Frechheit, vor allem aber durch Glück und Zufall. Für beide war die Gefahr des Antisemitismus nach dem Nationalsozialismus nicht vorbei. Der Antisemitismus des Realsozialismus, der sich bald zum Antizionismus fortentwickelte, war nicht bloß dem Fortbestehen alter faschistischer Strukturen geschuldet, sondern ein Zwangsprodukt der Staatsideologie. Auch wenn der Titel von Lambergs Buch es nahelegt, auch wenn Reiss hin und wieder unglückliche Vergleiche wählt, so setzen beide den Nationalsozialismus und den Realsozialismus nicht gleich.

Im Gegensatz zu Lamberg würde Reiss "sich furchtbar gern" rächen. Er bezweifelt nicht, "dass er ein Recht darauf hat". Sein Pflegevater Šimon Pollák wohnte in den Nachkriegsjahren Hinrichtungen von Kriegsverbrechern bei. Nicht aus gewaltlüsternem Voyeurismus, sondern aus gleichsam therapeutischen Gründen. "Die SS-Männer in ihren sorgfältig gebügelten Uniformen und glänzenden Stiefeln, mit Waffen am Gürtel und der Macht über Leben und Tod der Häftlinge der Konzentrationslager, wirkten auf diese tatsächlich wie Übermenschen, denen niemals etwas passieren könnte. Diese Nazi-Götter sterben zu sehen, hatte auf Šimon eine heilende Wirkung." Eine andere als "eine traurige Genugtuung", wie diese kann auch Reiss nicht finden. Umso erstaunlicher, dass er den Mörder seines Vaters, Sano Mach, exkulpiert, auf dessen Lebensbeichte er gleich hereinfällt. Als Kind habe dieser mit ansehen müssen, so berichtet Sohn Roman, wie ein jüdischer Gastwirt gegen die eindringlichen Appelle von Dorfrichter und Pfarrer einem Bauern Alkohol gab, obwohl allgemein bekannt war, dass dieser danach Frau und Kinder stets schwer verprügelte. "Und diese persönlichen Erinnerungen waren der Grund dafür, warum sich mein Vater so aktiv an den Bestrebungen beteiligte, die slowakischen Juden auszusiedeln." Verständlich, wer hat da nicht das Bedürfnis, 100.000 Juden in Vernichtungslager zu schicken? Aber Reiss glaubt ihm, davon nichts gewusst und es dann auch noch eigentlich verhindert zu haben, und in seiner Diktion "erschwerte" Sano Mach lediglich "den Menschen in seiner Umgebung das Leben" und musste dann auch noch leiden, denn schließlich trug er "das Trauma der Ermordung von sechs Millionen Juden in sich".

Spätestens bei diesen Stellen wird Reiss' Lebensbericht auch inhaltlich zum Ärgernis. Lamberg, "der einstige Gaskammernaspirant", äußert sich zu Rachegefühlen nicht, aber er verzeiht auch nicht, schon gar nicht, wenn die Verbrechen zu groß sind. Seinen Zorn hat er literarisch verwandelt, vielleicht schreibt er auch deswegen besser.


Titelbild

Robert F. Lamberg: Bootspartie am Acheron. Ein Leben zwischen braunem und rotem Totalitarismus.
NZZ Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2006.
370 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 3038232653
ISBN-13: 9783038232650

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Frank Reiss / Pavel Matocha: Der Vater meines besten Freundes schickte meinen Vater ins KZ. Eine jüdische Biographie zwischen Deutschland, der Slowakei, Tschechien und den USA.
Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2007.
146 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783899751062

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