Vom Umgang mit den NS-Tätern

Zwei Sammelbände beleuchten Grenzen der interdisziplinären Täterforschung und würdigen die "Dachauer Prozesse" in ihrer Bedeutung für die Ahndung von Staatsterror, Völkermord und Menschenrechtsverletzungen

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ganz zum Schluss des Sammelbandes "NS-Täter aus interdisziplinärer Sicht" findet sich der Beitrag eines Altmeisters unter den Historikern, Hans Mommsen, in dem dieser ebenso beiläufig, wie überzeugend auf zentrale "Probleme der Täterforschung" hinweist. Mommsen erkennt zwar die im Gefolge wichtiger Studien wie der von Ulrich Herbert über den SS-Intellektuellen Werner Best oder Christopher Brownings Untersuchung über die "ganz normalen Männer" eines an Massenmorden beteiligten Polizeibataillons entstandenen Beiträge an, durch welche Ursachen zur aktiven und passiven Beteiligung an den Nazi-Verbrechen und damit an der ungeheuren "Kriminalisierung" der Gesellschaft aufgedeckt wurden, mahnt aber zugleich die Grenzen einer sich vordringlich dem biografiegeschichtlichen Ansatz verpflichtenden Täterforschung an.. Sie komme da an ihre Grenzen, wo es ihr nicht gelinge, die "spezifische politische Dynamik der NS-Herrschaft [...], die von ständiger Eskalation der Ziele und Mittel geprägt war" als "Bedingungsrahmen" des Täterhandeln zu erkennen und zu analysieren.

Am Beispiel des im Mittelpunkt einiger Beiträge des Bandes stehenden SS-Arztes Horst Fischer, der als KZ-Arzt in Auschwitz ,Karriere' machte, werden abseits des speziellen Interesses an der Person dieses Mittäters die Grenzen einer biografisch orientierten Täterbetrachtung deutlich. Sie liegen genau da, wo die Biografie unspketakulär ,normal' ist. Was sagen Kriterien wie Karriere machen, "Chancen nutzen", Pflichterfüllung oder ,die-Arbeit-gut-machen' dann aus, wenn sie im Kontext des Vernichtungssystems zu verorten sind? Es gibt eine immanente Logik, die diese Begründungen rechtfertigen. Wir können nur ,von außen' feststellen, dass hier offensichtlich eine "moralische Substanz" fehlt, die Empörung oder Distanzierung über die mitverantworteten Verbrechen möglich gemacht hätte. Sie begründet unser Erschrecken angesichts der Schulduneinsichtigkeit und fehlender Reue. Aber kann man die im Ernst erwarten? Ist da nicht auch eine Sehnsucht, vom Täter die Erklärung zu erwarten, die uns aus unserem Erschrecken erlöst? An diesem Punkt droht der biografischen Täterbetrachtung eine Sackgasse, wenn sie nicht vom einzelnen Täter absehen kann und "Bedingungsrahmen" zu erklären vermag.

Ein Weiteres kommt hinzu: es geht vom Täter eine gefährliche Faszination aus. Abseits der Schaudersehnsucht, die sich vor allem Film und Fernsehen mit zuweilen pseudowissenschaftlichen Täterbetrachtungen zu Nutze machen, hat diese auch einen rationalen Kern: Die Logik des Täterhandelns ist sehr nahe an der Logik rationalen Handelns, mit der wir auch unseren Alltag bewältigen. Eben deshalb droht sie immer wieder den Erzähl- und Verstehenskontext zu dominieren..

Mommsens Erinnerung an den 'großen Zusammenhang', dessen sich idealerweise jede spezialisierte Detailstudie vergewissern sollte, will sie mehr sein als losgelöstes Expertenwissen, gilt also auch für jeden der 20 Beiträge des vorliegenden Sammelbandes über die "NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive". Die Beiträge aus der Geschichtswissenschaft, der Rechts- und Politikwissenschaft, der Psychologie, Theologie und Sozialpsychologie gehen auf eine gleichnamige internationale Tagung zurück, die im Jahre 2005 in Berlin stattfand. Sie bieten interessante Facetten der Täterforschung. Und sie zeigen auch: nicht immer ist der Gesamtzusammenhang ausreichend präsent.

Vergleichsweise eindeutig ist der Umgang mit den Tätern vor Gericht. Es geht um die juristische Bewertung der Schuld und eine dieser Bewertung angemessene Bestrafung der Täter. Die Geschichte der juristischen Aufarbeitung dieser Verbrechen in der Bundesrepublik hat freilich gezeigt, dass im Falle der NS-Verbrechen die Justiz mit ihren Mittel dann überfordert ist, wenn sie gewissermaßen stellvertretend für die Gesellschaft als Ganzes die Vergangenheit 'bewältigen' soll. Insbesondere die Notwendigkeit, die individuelle Schuld nachzuweisen, geriet sehr oft in Widerspruch zum Gerechtigkeitsempfinden nicht nur der Opfer, sondern auch einer sensibilisierten Öffentlichkeit. Lag dies einerseits oft an den durchaus verteidigenswerten abstrakten Prinzipien des Rechtssystem, so beeinflussten andererseits auch immer wieder konkrete zeithistorisch bedingte Umstände sowie machtpolitische Interessenslagen das Rechtssystem zum Schaden des Gerechtigkeitsempfindens. So weist Ludwig Eiber in seinem einführenden Beitrag zum Sammelband über die "Dachauer Prozesse" auf die 1941 vollzogene Neufassung des Mordparagraphen im Strafgesetzbuch hin. Die Nazis "schnitten den Mordparagrafen auf einen bestimmten Tätertyp zu: trieborientiert, heimtückisch, grausam, gemeingefährlich - also das Zerrbild des Schwerkriminellen." Das Delikt des Totschlags wurde derart erweitert. Die Folgen für die Strafverfahren nach 1945 waren offensichtlich. Das Mordmerkmal war zumeist nicht nachweisbar. Die Täter gingen straffrei aus oder erhielten für Totschlag vergleichsweise gnädige Urteile. Das, so vermerkt Eiber, bedeutet: "die NS-Justiz hat - unbeabsichtigt? - gewissermaßen die Voraussetzungen für die spätere Straflosigkeit von NS-Verbrechen geschaffen." Fürwahr eine deprimierende Erkenntnis.

Das trifft für die "Dachauer Prozesse" indes nicht zu. Mit dem Begriff bezeichnet man die über 400 Verfahren, die US-Militärgerichte unmittelbar nach dem Krieg in Dachau gegen die Täter in den Konzentrationslagern Dachau, Flossenbürg, Mauthausen, Mühldorf, Mittelbau-Dora und Buchenwald führten. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit NS-Verfahren in der späteren Bundesrepublik wirken diese Prozesse 'gerechter'. Die zeitliche Nähe zu den Verbrechen schuf eine Unmittelbarkeit, die es den Tätern erschwerte, sich mit den für alle späteren Verfahren typischen Verteidigungsstrategien der Schuldabweisung, der Minimierung eigener Verantwortung, der Berufung auf einen Befehlsnotstand, der Verharmlosung sowie der aggressiven Diskreditierung und Kriminalisierung der Opfer, die als Zeugen auftraten, herauszuwinden. Kurzum: die Urteile in diesen frühen Prozessen fielen härter aus als in den bundesrepublikanischen Folgeprozessen.

In der deutschen Öffentlichkeit stießen die Prozesse von Beginn an auf Ablehnung. Aufschlussreich skizziert Robert Sigel in seinem Beitrag die skeptische Haltung der deutschen Öffentlichkeit. Hinter der Bezeichnung "Siegerjustiz", die seitens kirchlicher Vertreter zunächst noch zurückhaltend und mäßigend vorgebracht wurde, verbarg sich das Unwohlsein einer Gesellschaft, die sehr wohl erkannte, dass die Angeklagten aus ihrer Mitte kamen. Die Ablehnung der Prozesse entsprach in dieser Hinsicht einem Selbstschutz. Von anderer Seite aber kamen bereits forderndere Töne. Hinter der Kritik an der Durchführung der Prozesse formierten sich auch jene Kräfte, die bereits eine allgemeine Rehabilitierung der Verurteilten anstrebten und darüber hinaus der Bundesrepublik eine eigeninteressegeleitete Interpretation der Nazivergangenheit überstülpen wollten. Zu Hilfe kam ihnen dabei der Kalte Krieg zwischen Ost und West, der auch wesentliche Teile der öffentlichen Meinung der 'ehemaligen' Siegermächte beeinflusste. Die Beiträge des Sammelbandes zeigen im Übrigen auch, dass der aufziehende Kalte Krieg bereits während der Dachauer Prozesse Bedeutung gewann. Dringender als die Aburteilung der Naziverbrecher schien es nun, sich den vermeintlichen kommunistischen Gefahren zu widmen. Und konnten da nicht sogar die Ex-Nazis zu Verbündeten werden?

Der vorliegende Sammelband liefert mit seinen Beiträgen eine ergiebige Übersicht über diese Phase der frühen juristischen 'Aufarbeitung' der NS-Verbrechen. Darüber hinaus liefert er auch Einschätzungen zur Bedeutung der Prozesse für eine bis heute reichende völkerrechtliche Anstrengungen zur Verfolgung von Staatsterror, Völkermord und schwerwiegender Verletzung der Menschrechte. Von den Dachauer Prozessen führt der Weg bis zum Internationalen Gerichtshof in Den Haag.


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Helgard Kramer (Hg.): NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive.
Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2006.
445 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3899750551
ISBN-13: 9783899750553

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Ludwig Eiber / Robert Sigel (Hg.): Dachauer Prozesse. NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945-1948. Verfahren, Eergebnisse, Nachwirkungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
320 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835301672

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