Das Leben als orientalisches Märchen

Tom Reiss auf den Spuren von Essad Bey

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Namen sollte man sich merken: Essad Bey. Wenn man schon dabei ist, dann auch gleich noch zwei andere: Kurban Said und Lev Nussimbaum. Alle gehören zu ein und derselben Person: Nussimbaum ist sein Geburtsname, Kurban Said und Essad Bey sind seine Pseudonyme. Der Mann, um den es hier geht, wollte es Zeitgenossen wie späteren Generationen so schwer wie möglich machen, Nachforschungen über ihn anzustellen. Er verwischte seine Spuren und schuf sich einen märchenhaften Charakter, der im Nachhinein mehr Fragen aufwirft, als dass er Antworten gibt.

Tom Reiss ist so einer, der es sich schwer gemacht hat. Der Journalist wollte mehr wissen, nachdem er im Frühjahr 1998 bei Recherchen für einen Artikel über den neuen Ölboom im aserbaidschanischen Baku auf Lev Nussimbaum gestoßen war, er wollte mehr über dieses abenteuerliche und fantastisch anmutende Leben erfahren. Dabei entwickelte sich die Spurensuche mehr und mehr zu einer Entdeckungsreise in die 20er- und 30er-Jahre des letzen Jahrhunderts - und Reiss fand viele, die mitfahren wollten. Seine Biografie "The Orientalist" erschien 2005 in den USA, wurde dort zum "Besten Sachbuch des Jahres" gekürt und stürmte die Bestsellerlisten. Mittlerweile ist es in 16 Sprachen übersetzt. Die deutsche Ausgabe legt der neu gegründete Berliner Osburg Verlag vor. Man muss sagen: endlich.

Doch der Reihe nach. Wer ist dieser Essad Bey, der anscheinend eine solche Anziehungskraft besitzt, dass ein Journalist mehrere Jahre in Nachforschungen in Aserbaidschan, Deutschland, Österreich, Italien und den USA investiert? Wer Reiss' Biografie liest, wird zuerst glauben, alles sei gemunkelt. Und tatsächlich: Vieles ist erfunden - allerdings von Essad Bey selbst. Lev Nussimbaum kommt um das Jahr 1905 als Sohn eines ukrainisch-jüdischen Ölmagnaten aus Tiflis und einer weißrussisch-jüdischen Revolutionärin in Baku zur Welt. Früh eine Halbwaise, wird der kleine Lev von einer baltendeutschen Kinderfrau erzogen, die ihm ihre Muttersprache und Kultur näher bringt und mit dafür sorgt, dass Vater und Sohn nach dem Ausbruch der Russischen Revolution über Zwischenstationen in Istanbul, Rom und Paris ihre Zuflucht schließlich in Berlin suchen. Hier findet denn auch die entscheidende Wandlung im Leben des Jugendlichen statt: Aus dem jüdischen Millionärssohn wird in den 1920er-Jahren der zum Islam konvertierte Orientalist Essad Bey.

Von nun an wird er seine Herkunft verleugnen und alles daran setzen, sich eine neue, muslimische Identität inklusive Vergangenheit anzueignen. Er gibt sich als Nachfahre persischer und türkischer Adliger aus, studiert für ein paar Jahre orientalistische Fächer an der Berliner Universität, ist Mitbegründer einiger islamischer Gruppen und wird 1926 schließlich als "Orientexperte" Mitarbeiter der "Literarischen Welt", für die er zahlreiche Artikel über Sowjet-Russland und den Nahen Osten verfasst. Damit beginnt auch die produktivste Phase im Leben des "Orientalisten". So verfasst der junge Mann innerhalb der nächsten zehn Jahre insgesamt 16 im In- und Ausland sehr erfolgreiche und Aufsehen erregende Bücher: Eine Autobiografie, politische und historische Darstellungen, Biografien, Erzählungen sowie Romane.

Die Romane aber tragen einen anderen Namen: Kurban Said. Als deutschsprachiger Schriftsteller jüdischer Herkunft werden die Bücher des mittlerweile mit einer reichen deutsch-jüdischen Fabrikantentochter verheirateten Lev Nussimbaum trotz ihrer antikommunistischen Tendenz ab 1934 in Deutschland zunehmend vom Buchmarkt verdrängt. Der ein Jahr später erfolgte Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer macht jede weitere Publikation unter dem bisherigen Namen endgültig unmöglich. Einstweilen gelingt es dem Orientalisten, in Wien eine Arbeitsstätte zu finden. Doch der "Anschluss" Österreichs an das "Dritte Reich" macht auch diesem Leben ein Ende. Enttäuscht und verarmt flieht der Mittdreißiger, der sich nunmehr als Amerikaner ausgibt, nach Positano in Süditalien, wo bereits andere Exilierte ansässig sind. Vergeblich bemüht er sich um eine schriftstellerische oder journalistische Tätigkeit im faschistischen Italien. Schwer erkrankt am Raynaud'schen Syndrom stirbt er im Sommer 1942 im Alter von nur 37 Jahren. Als Muslim wird er bestattet.

Was für ein Leben! Und warum hat es bislang niemanden interessiert? Zwar gab es Neuauflagen des erfolgreichen Romans "Ali und Nino" Anfang der 1970er-Jahre. Auch schrieb der Orientalist Gerhard Höpp im Laufe der 1990er-Jahre einige Aufsätze über den Autor. Es musste aber erst Tom Reiss kommen, um die Wiederentdeckung von Essad Bey einzuläuten. Dabei ist seine Biografie keine trockene Darstellung von Leben und Werk des Lev Nussimbaum. Im Gegenteil. Sie lässt die Leser teilhaben an der Suche nach den Orten, an denen der "Orientalist" gewirkt hat, nimmt sie zu den noch lebenden Zeitzeugen, zu den Nachkommen von Freunden des Schriftstellers und Nachlassverwaltern mit. Immer wieder gibt es jemand, der dem Journalisten hilft, das Geheimnis dieses seltsamen und gefährlichen Lebens zu lüften.

Es wird also höchste Zeit, dass "The Orientalist" auf deutsch erscheint und sich auch die hiesigen Leser auf die Spuren dieses Mannes begeben können. Schließlich verdient der lange vergessene Erfolgsautor nicht nur wegen seiner abenteuerlichen Lebensgeschichte und des neuen Interesses des Westens am Islam und dem Nahen Osten die Beachtung der deutschen Öffentlichkeit. Essad Bey ist als deutschsprachiger Schriftsteller mit - wie man heute so schön sagt - jüdisch-muslimischem "Migrationshintergrund" außerdem ein frühes, freilich extremes Beispiel dafür, wie ein Mensch, der zwischen den Kulturen pendelt, letztlich daran scheitert, weil er es seiner Umgebung trotz aller Verstellung und Selbstverleugnung nicht recht machen kann - und so kann er das Opfer seines eigenen orientalischen Märchens werden.


Titelbild

Tom Reiss: Der Orientalist. Auf den Spuren von Essad Bey.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Jutta Bretthauer.
Osburg Verlag, Berlin 2008.
470 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-13: 9783940731050

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