Durch Lebensweisheit verdorben

Thomas Sautners Roman "Milchblume" endet im Klischee

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jakob ist der Idiot. Genauer: Der Dorfidiot von Legg. Entsprechend behandelt man ihn: Gleich im ersten Kapitel wird er von Wirt und Bürgermeister, die auf morgendlicher Jagd ein Reh verfehlen, angeschossen, dann wird er zu seinem Vater, dem Seifritz-Bauern, geschleppt und muss sich schließlich noch dafür bedanken, dass die Dorfgewaltigen ihn gerettet hätten - die Wahrheit hätte man ihm ohnehin nicht geglaubt.

Auf dem Seifritz-Hof geht es rauh zu. Der Vater prügelt alle, die Mutter ist schwach, die beiden anderen Söhne hämisch und die Großeltern, die sich hartnäckig weigern, den Hof zu überschreiben, vermuten kaum ohne Grund, dass man ihren Tod lieber früher als später sehen würde. Jedes Wort ist Hass und Kampf; einzig die Schwester Silvia steht Jakob nahe, nahe bis zur Liebe, die ihm als Inzest erscheinen muss.

Unerfreulich wie diese Familie erscheint auch der Rest des Dorfes. Man lernt den Huber-Bauern kennen, dem Vater Seifritz seinen Jakob als Knecht vermietet, sobald die Zahlungen der Kirche für die Aufzucht des "Idioten" aufhören. Hier nun gibt es Zärtlichkeiten, besser gesagt: Sex, und nicht nur, bei jeder Gelegenheit, zwischen den Hubers. Bald muss sich Jakob der Annäherungen der Huber-Bäuerin erwehren, die als äußerst widerlich gezeichnet wird. Den Huber stört das wenig, solange er nur sonst endlich einmal einen Knecht hat, den er nach Belieben schurigeln und demütigen kann. Auf der anderen Seite liegt der Lagler-Hof, den schließlich die Söhne in Brand stecken, um als Versicherungsbetrüger in der Stadt einen Neuanfang zu versuchen.

Nicht nur die Geldgier des Bürgermeisters und des Wirts komplettieren das düstere Ensemble. Schlimmer noch ist der Pfarrer, der unter einer dünnen Decke von Freundlichkeit seine Wut verbirgt, der am liebsten über Sünde und Höllenstrafen predigt, aber regelmäßig die Kollekte im Wirtshaus verspielt. In der Beschreibung dieser Leute liegt die Stärke des Romans von Thomas Sautner. Es geht dabei nicht um sozialen Realismus und um keine Anklage - wozu auch sollten heute die Zustände in einem Dörfchen angeprangert werden, wie sie zur Zeit der Handlung 1957/58 noch gängig waren, heute aber längst durch andere Möglichkeiten ersetzt sind, sich und andere unglücklich zu machen? Vielmehr erlauben es die archetypischen Verhältnisse, einprägsam Lebenslagen deutlich zu machen, in denen die Menschen sich und ihre Umgebung mit großer Konsequenz peinigen. Erschauern lässt besonders, wie Sautner die Großeltern auf dem Seifritz-Hof schildert: fast schon abgetan und doch noch mächtig. Sie hat die Technik perfektioniert, mit unendlichen Nuancen eines "Mmh" Lob, Tadel und Befehl auszudrücken, wobei das Lob die Ausnahme ist. Beide kommunizieren mit sich und anderen über gereimte Bauernregeln, lächerlich trivial und doch Ausdruck von Macht, indem sie auf Dauer und Natur verweisen, auf eine Erfahrung, die den Jüngeren immer schon und bis in alle Ewigkeit, das heißt bis zum Tod der Alten, fehlen wird.

Gegengewicht ist Jakob; achtzehn der neunzehn Kapitel beginnen mit einem Erzählerbericht und enden mit einer Ich-Erzählung Jakobs, deren Adressat erst ganz am Ende benannt ist. Fügen alle anderen sich den Regeln, so gilt Jakob als der Dorftrottel, einfach weil er tut, was er will. Sind die anderen unglücklich und lassen sie diesen Hass an ihren Nächsten aus, so ist Jakob, trotz aller Missachtung und vieler Prügel, glücklich. Psychologisch überzeugt das nicht - der Depp in einer Welt von Prügeln ist entweder unglücklich oder findet seinerseits ein Objekt von Gewalt oder ist wirklich grenzenlos Depp. Jakob, der tatsächlich intelligenter ist als seine Umgebung, verabscheut Gewalt und findet trotz mancher Ängste sein Glück darin, ohne Rücksicht auf die Umwelt eben das zu erfahren, was ihm gerade in den Sinn kommt. So geht er rückwärts (das führt ihn im ersten Kapitel ins Schussfeld), frisst er mit den Schweinen aus dem Trog und liegt angekettet wie ein Hund in der Hütte. "Explore. Dream. Discover", fordert Mark Twain in dem Motto, das Sautner seinem Roman vorangestellt hat und dem Jakob folgt. Allenfalls was Silvia dazu denkt, kann für ihn unangenehm werden.

Das ist nicht glaubwürdig und muss es auch nicht sein. Jakob steht für beispielhaft unabhängigen Mut und ist so idealer Fokus von Wünschen. Soweit das, was er dabei erfährt, auch sprachlich derart dicht geschildert ist wie in der ersten Romanhälfte, liest man das Buch nicht nur gerne, sondern passagenweise fasziniert. Sautner verzichtet auf das locker-disziplinlose Geplauder, das viele neuere Bücher genießbar machen soll und ungenießbar macht. Er findet in diesen Teilen eine dichte Sprache, die sogar scheinbar abgetane Naturerfahrungen wieder produktiv macht. Sein Roman hat nichts mit einer reaktionär-heimatfixierten Stammesliteratur zu schaffen - aber wie stellenweise ein archaischer Duktus nur leise anklingt, um trotzdem den Einsatz deutlich zu machen, um den es für alle Beteiligten in dieser engen Welt geht, das ist meisterhaft.

Leider bleibt es nicht dabei. Sautner baut eine große Kulisse auf und reißt sie gleich wieder ein. Er vermeidet so die naheliegende Tragödie und endet im Kitsch. Im Winter - wir schreiben, wie gesagt, die Jahre 1957/58 - erscheinen, wie eine Wetterregel des Seifritz-Großvaters vorhersagt und wie in jedem Jahr, "Zigeuner", die von den Dorfbewohnern wie jedes Jahr misstrauisch-fasziniert begrüßt und bis zum Frühling beherbergt werden. Der Sippenälteste, Fabio, wird zu einer Art Lehrmeister für Jakob. Das führt zu unzähligen peinlichen Merksprüchen, die später, als Jakob im Sommer nach einer Auseinandersetzung mit dem Seifritz-Bauern verletzt in den Wald flüchten muss, durch esoterische Weisheiten seiner zigeunerischen wirklichen Großmutter, die er dort trifft noch überboten werden. Jakob nämlich wurde auf Betreiben von Bürgermeister und Pfarrer seinen tatsächlichen Eltern entzogen und zum Knecht erniedrigt.

Man könnte und sollte nun die exotisierende Instrumentalisierung der "Zigeuner" vermerken: Jakob ist wohl deshalb anders, weil er es "im Blut" hat und nicht der ekle Seifritz-Bauer sein Vater ist. Mehr noch: Sautner blendet die Verfolgung der "Zigeuner" in der NS-Zeit aus. Jakob ist 1957 zweiundzwanzig Jahre alt und wurde mit drei Jahren, also 1938, seinen Eltern weggenommen. Das heißt, dass er die Zeit des Völkermords an den "Zigeunern" auf dem Seifritz-Hof überlebt hat. Realhistorisch könnte man das, trotz rassistisch-religiöser Begründung, als eine Schutzmaßnahme von Bürgermeister und Pfarrer interpretieren - doch wird diese Möglichkeit nie erwogen, wie auch die Geschichte außerhalb des Dorfs nie erwähnt wird und die "Zigeuner" bei Sautner heute wie immer schon vom Lauf der Dinge ungerührt ihre Kreise ziehen.

Trotz genauer Daten findet sich also im Roman Natur statt Geschichte; und die Weisheiten der ewigen Natur müssen ausgerechnet die "Zigeuner" aussprechen, die 1957 wie heute allen Grund hätten, die Zerstörungsmacht der Politik zu benennen. Bei Sautner, könnte man einwenden, sind sie dem Klischee entgegen keine Verbrecher. Problem ist aber auch das entgegengesetzte Muster, demzufolge "Zigeuner" vorbildlich sind, kräftig und stark, und nicht von erfahrener Gewalt beschädigt, wie es die Überlebenden notwendig waren.

Dieser Mangel ist nicht nur aus der Perspektive der Ideologiekritik zu benennen. Das politische Problem ist auch eines der Ästhetik, insofern Jakob recht umstandslos von einer prekären Existenz zum Vorbild befördert wird und der drohende Inzest-Konflikt plötzlich, da er sich ja nun als Adoptivkind weiß, keiner mehr ist. Der mächtige Seifritz-Vater wird dann derart schnell entmachtet, dass man sich fragt, worauf seine Macht eigentlich beruhte, und alles wird gut.

Dass das Glück ästhetisch langweiliger ist als die Hölle, gilt spätestens seit Dante, und der Vergleich würde Sautner ehren. Ihm unterläuft Schlimmeres: Er behauptet einen Weg zum Glück, den er nicht zu zeigen vermag. Sei du selbst, so reden Fabio und die Großmutter ständig auf Jakob ein; und zuletzt wendet er sich ordentlich, wie es sich gehört, der nicht mehr schwesterlichen Geliebten zu. Nun klappert die Aufforderung zur Individualität ja ohnehin: Man ist immer man selbst, ob im mutigen Bekenntnis oder in feiger Anpassung. Im letzteren Fall ist man ein Feigling, was zuzugeben unangenehm, aber dann eben manchmal nicht zu umgehen ist. Jakob aber geht, nach allen Lektionen zur Selbstständigkeit, einen Weg vom gänzlich Unangepassten zum konventionell Liebenden. Das mag ja ohnehin der Inhalt der geläufigen Esoterik sein: eine Individualität zu entdecken, die sich auf irgendeinem Markt verkaufen lässt. Als Ergebnis eines Romans, der mit großartigen sprachlichen Mitteln anhebt, um im Klischee zu enden, ist das zu wenig.


Titelbild

Thomas Sautner: Milchblume. Roman.
Picus Verlag, Wien 2007.
204 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783854526223

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