Die Wahrheit liegt jenseits

Thea Dorn lässt ein entführtes Mädchen erzählen und Liebesbriefe schreiben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Soll ein Roman besonders angepriesen werden, wird er gerne als verstörend gelobt. In aller Regel ist das allerdings übertrieben. Auch der Goldmann Verlag belegt und bewirbt Thea Dorns Buch "Mädchenmörder" mit diesem Adjektiv. Und auch diesmal ist es zu viel gesagt. Ist der Roman auch nicht verstörend, so doch irritierend. Und das ist immerhin weit mehr, als man von so ziemlich von allem, was Woche für Woche auf den Markt geworfen wird, sagen kann.

Dabei beginnt das im Untertitel als "Liebesroman" vorgestellte Buch eigentlich recht harmlos, fast möchte man sagen beruhigend. Eine neunzehnjährige Schülerin namens Julia schreibt für ein geplantes Buch, das ihr vorab schon eine halbe Million Euro Vorschuss eingebracht hat, auf, wie sie von einem Mädchenmörder entführt, vergewaltigt und schließlich zur Komplizenschaft gezwungen wurde. Das ist zwar alles ganz schrecklich. Beruhigend aber ist, dass sie die zweiwöchige Tortur offenbar ziemlich unbeschadet überstanden hat. Denn davon zeugt die Art und Weise, wie sie darüber erzählt. Und man muss sagen, Thea Dorn trifft den Ton einer hochbegabten Abiturientin ausgezeichnet, ohne dass dabei der ihr so eigene unter- und hintergründige, dabei meist grimmige Humor zu kurz käme, den man schon in ihren Krimis kennen und schätzen gelernt hat.

Der Roman setzt mit einer der vielen, in fiktiven Werken seit Jahrhunderten beliebten Beglaubigungsstrategien ein. Sie werde "alles nur so schildern, wie es wirklich gewesen ist", versichert die Ich-Erzählerin Julia in einer auf den November 2006 datierten Vorbemerkung. Auch werde sie "nichts auslassen. Nur das, was so schlimm ist, dass kein Mensch es erzählen kann, wenn er weiterleben will." Dann beginnt sie, chronologisch über die Zeit mit ihrem Entführer zu berichten. Wie sie bald erfuhr, war er früher Radprofi gewesen, hatte diese selbstquälerische Sportart jedoch wegen eines Knieleidens aufgeben müssen. Schnell erkannte sie, "was mit diesem Mann nicht stimmt": Er hat nicht nur "das eine oder andere Problem mit seiner Männlichkeit" - was angesichts seiner Sexualmorde dann doch ein wenig lax ausgedrückt ist -, sondern er hält sich für Gott.

Die erste und vielleicht wichtigste "Lektion", die Julia wie alle "Geiselopfer" lernen muss, ist allerdings eine andere, nämlich "dankbar für alles Gute [zu sein], was dein Entführer dir tut." Und dieses Gefühl der Dankbarkeit zu erzeugen, etwa indem er der Halbverdursteten ein Glas Wasser reicht, ist das "perfideste", was er ihr antut.

Zwar ergaben sich während der zweiwöchigen Irrfahrt durch halb Westeuropa gelegentlich Fluchtmöglichkeiten, doch ihr mit einer Pistole bewaffneter "Peiniger" verhinderte, dass Julia sie wahrnahm. Denn er erklärte ihr zu Beginn, er würde dann "wahllos alle Menschen erschießen, die ihm vor die Flinte liefen". Immerhin gelang es ihr aber, einem "Trägerkleidmädchen" das Leben zu retten, wovon sie in ihrem Bericht nicht viel Aufhebens macht, kaum das es überhaupt deutlich würde.

Julia beschränkt sich keineswegs darauf, die bloßen Ereignisse herunterzuerzählen. Vielmehr flicht sie immer wieder verschiedene Reflexionen und Überlegungen, nicht selten (gesellschafts-)kritischer Art ein. So beklagt sie etwa "dass kein Mensch bei der Polizei es wirklich ernst nimmt, wenn ein Mädchen, das fast erwachsen ist oder als 'junge Erwachsene' gilt, verschwindet", Nur wenn es kleine Kinder seien oder "Millionärstöchter", dann würden alle Hebel in Bewegung gesetzt. Werde jedoch ein "'ganz normales' Mädchen" vermisst, frage "ein gelangweilter Polizeibeamter die Eltern bloß, ob sie wirklich alle Leute kennen würden, mit denen ihre Tochter herumhängt. Und bestimmt habe es in letzter Zeit zu Hause Krach gegeben." Oder Julia moniert die mangelnde internationale Zusammenarbeit der Polizeibehörden. Auch beklagt sie sich über Journalisten, die sie nach dem Ende ihrer Entführung "auf ihre Weise fast so schlimm, wie mein Peiniger" demütigten. In die Reflexionen eingeschlossen werden auch Verhalten und Erwartungen der LeserInnen, über deren Kauf- und Leseinteressen sich Julia keine Illusionen macht. Vielmehr weiß sie ganz genau, "dass dieses Buch nicht nur Menschen kaufen werden, die Mitgefühl oder ehrliches Interesse antreibt."

Doch bleiben die kritischen Anmerkungen durchaus nicht immer an ihre eigene Situation gebunden, sondern sind auch schon mal allgemeinerer Art, etwa, wenn der eloquente Teenager über den "Heidi-Klum-Quatsch" herzieht. Dann schwingt ein angesichts Julias grässlicher Lage umso skurriler anmutender Humor mit. So etwa auch bei einem Disput mit ihrem Entführer darüber, ob Lourdes als "Disneyland des Katholizismus" zu gelten habe oder "eher mit Las Vegas zu vergleichen" sei. Doch als sie das "allgemeine Gerempel" an dem "lange[n] Rohrsystem" mit den "zahlreichen Wasserhähnen" sieht, kommt sie zu dem Schluss, dass es am besten zu "Woolworth im Sommerschlussverkauf" passe. All das trägt dazu bei, dass man von der Protagonistin sehr angetan ist, von ihrer Klugheit, mehr noch aber von der Stärke, mit der sie das Unerträgliche erträgt und davon, wie sie darüber erzählt.

So langsam beschleicht einen jedoch ein gewisses Unbehagen. Irgend etwas scheint da nicht zu stimmen. Der Tonfall der Ich-Erzählerin ist es nicht. Auch nicht die geschilderten Erlebnisse. Und doch... Bis man schließlich erkennt: Beides, Erzähltes und der Tonfall, in dem es erzählt wird, passt nicht recht zusammen. So erzählt niemand von seiner Entführung und von "acht, neun" Mädchenmorden, die er mit ansehen musste; schon gar keine 19-jährige Schülerin.

Kaum, dass der Zweifel stärker zu nagen begonnen hat, bricht der Bericht auch schon unvermittelt ab. An seine Stelle tritt ein zweiter, "David.doc" betitelter Teil. Und die Illusion der Authentizität des Berichts im ersten Teil, von dem man glaubte, er bilde das Buch, das man in den Händen hält, ist alleine schon damit durchbrochen, dass der zweite Teil aus Briefen besteht, und man fühlt sich ge- und enttäuscht.

Doch diese Zweiteilung erweist sich als der raffinierteste Trick der Autorin, mit der sie zwar das Authentizitätsversprechen des ersten Teiles zu brechen scheint, aber eine Authentizität höherer Ebene illusioniert, die schließlich doch das ganze Buch umfassen wird. Bei den Briefen handelt es sich um Liebesbriefe an ihren - wie der erste Teil bei aufmerksamer Lektüre schon vermuten lässt und der zweite gegen Ende bestätigt - inzwischen toten Entführer, in denen Julia die Wahrhaftigkeit des ersten Teil nachhaltig dementiert, das Erzählte ganz anders und sich selbst als bereitwillige Komplizin darstellt. Aber zunächst erklärt sie, warum sie die beabsichtigte Publikation (also den ersten Teil) abbrechen musste: Das Lügengewebe hatte sich nicht weiter aufrecht erhalten lassen. Und sie erklärt David, dem Entführer, wie sie den weiteren Verlauf der Entführung beziehungsweise der - wie die Briefe anheim stellen - gemeinsam glücklich verbrachten Zeit erlebt hat. Ganz ähnlich wie im ersten Teil dem Publikum, verspricht die von den Lesenden nun schon lange als unzuverlässig erkannte Erzählerin diesmal ihrem Entführer vollkommene Aufrichtigkeit.

Der Punkt, an dem Julia das Buchmanuskript nicht mehr weiterführen konnte, war erreicht, als sie versuchte, über die Nonne Hermana Lucía zu schreiben, die sie ihrem Peiniger nach Darstellung des zweiten Teils zum Lustmord zuführte, die aber trotz schlimmster Folter starb, ohne "zu betteln und zu winseln". "Woher nahm diese Frau ihre Kraft", fragt sich Julia während sie die Briefe schreibt noch immer. "Hast Du [der Mädchenmörder] sie besiegt? Oder hat in Wahrheit sie Dich besiegt [...]?"

Sollte sie sich am Tod Hermana Lucías tatsächlich mitschuldig gemacht haben, so rettet sie im Verlauf ihrer Gefangenschaft nach dem "Trägerkleidmädchen" zwei weiteren jungen Frauen das Leben, die sie in den "Hotelburgen, Discobunker[n] und Saufhöhlen" eines "Prollort[es]" an der Costa Brava aufstöbern. Allerdings greift Julia zumindest in den Briefen zu der für die Aufrechterhaltung ihrer Mittäterinnenfiktion offenbar notwendigen Rationalisierung, dass nach der Ermordung der "armen Hermana Lucía", die "eine echte Heilige" gewesen sei, die beiden nicht gut genug gewesen seien, um ihrem geliebten David zum Opfer zu fallen. In der Schwebe bleiben jedoch Julias wahre Gründe, da sie ihren Entführer - wiederum in der Darstellung der Briefe - zuletzt zur Ermordung einer ebenfalls würdevollen Torera anstachelt. Als ein unbewusstes Motiv hierfür könnte allerdings in Betracht kommen, dass die Torera Tiere tötet. Denn wenn in diesem Buch überhaupt etwas gewiss ist, dann, dass Julia eine Tierschützerin ist, auch wenn sie das vehement bestreitet und erklärt, sie halte es nur mit Schopenhauers Mitleidsethik. Jedenfalls zweifelt sie in den Briefen schließlich "ob es richtig war, dieses Mädchen, das sich so aufrecht hielt und so ernst und feierlich wirkte", zu ermorden.

In diesem zweiten Brief-Teil zeigt sich die ganze Zerstörung, ja Verwüstung von Julias Persönlichkeit. Denn sie versucht, ihre Tortur zu verleugnen, indem sie sich in die Wahnvorstellung steigert, ihren Vergewaltiger zu lieben, der sie verstanden habe "wie noch kein Mensch zuvor". Womöglich leidet sie gar an einer Persönlichkeitsspaltung, denn ganz entgegen ihrer völligen Entmächtigung phantasiert sie sich als Mittäterin, während sie ihr "Realitätsproblem" auf eine Jugendfreundin des Entführers projiziert. Offen bleibt allerdings die Frage, ob sich ihre Persönlichkeitsspaltung bereits während der Entführung oder erst später entwickelte.

Doch bei allen Persönlichkeitsstörungen ist sich Julia selbst in den Briefen nicht ganz abhanden gekommen. Im Gegenteil: Je länger sie schreibt, um so mehr findet sie sich wieder. Und je mehr sie sich wieder findet, um so intensiver leidet sie. "Meine Haut fühlt sich an wie ein Luftballon kurz vor dem Zerplatzen. Wenn ich über meinen Handrücken streiche, könnte ich schreien vor Schmerz. Ich habe Magenkrämpfe, mein Bauch ist hart und aufgebläht und gleichzeitig habe ich Fressanfälle. [...] Obwohl ich mir jetzt täglich die Oberschenkel ritze, lässt der Druck nicht nach", klagt sie in einem der letzten Briefe. Psychologisch ist das sehr plausibel. Nur, dass sich diese ganze Entwicklung innerhalb weniger Tage abspielen soll, macht sie etwas fragwürdig.

Beschlossen wird das Buch durch einen kurzen Epilog, indem die Authentizitätsillusion des ersten Teils rehabilitiert, und die des zweiten unterstrichen wird. In ihm berichtet Julias Tochter, dass sie die beiden Texte nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 2039 auf zwei altertümlichen Datensticks gefunden hat und lange zögerte, bevor sie sich entschloss, sie zu veröffentlichen.

Nun mag es sich zwar sowohl bei dem Buchmanuskript wie auch bei den Briefen um 'authentische' Dokumente in dem Sinne handeln, dass die Figur Julia sie 'tatsächlich' verfasst hat. Über ihren Wahrheitsgehalt ist damit jedoch noch nichts ausgesagt, auch nicht über ihre Wahrhaftigkeit. Und welcher Teil den tatsächlichen Ereignissen näher kommt, lässt sich auch gar nicht entscheiden. Vermutlich keiner von beiden. Die Wahrheit aber ist nicht etwa zwischen ihnen, sondern jenseits von ihnen zu suchen. Vielleicht ließe sich im Sinne der Hegel'schen Dialektik sagen, die Wahrheit des Manuskripts (die These) werde durch die Briefe (Antithese) negiert und führe zu einer höheren Wahrheit, in der die These aufgehoben - also auf einer höheren Eben sowohl bewahrt wie auch negiert - ist (Synthese). Mag sein, dass die Philosophin Dorn auch das im Sinn hatte.

Das dem Roman als Motto vorangestellte anonyme Zitat jedenfalls scheint ebenso einen Schlüssel zum Verständnis des Romans zu bieten wie ein zweites Zitat auf seiner letzten Seite. Allerdings passen beide Schlüssel ganz offenbar zu zwei verschiedenen Schlössern. Und sie zwingen beide nicht zu einer eindeutigen Interpretation, lösen das Rätsel also nicht. Das zu unterlassen, ist aber geradezu ein Gütesiegel von Literatur.

Bekanntlich moderiert Dorn eine der sehenswertesten Literatursendungen des deutschsprachigen Fernsehens. In Hinblick auf ihr Buch muss abschließend allerdings der Titel einer anderen Büchersendung zitiert werden, auch wenn diese weit hinter Dorns eigene zurückfällt. Er lautet: "Lesen!"


Titelbild

Thea Dorn: Mädchenmörder. Ein Liebesroman.
Manhattan Verlag, München 2008.
333 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783442545834

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