Das wilde Denken

Gayatri Chakravorty Spivaks bahnbrechender Essay "Can the Subaltern Speak" erscheint auf Deutsch

Von Annika NickenigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annika Nickenig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gayatri Chakravorty Spivak, deren wohl einflussreichster Essay "Can the Subaltern Speak" (1988) bei turia + kant nun endlich auch auf Deutsch erschienen ist, hat sich selbst stets ambivalent zur Frage der Übersetzung geäußert. In dem Versuch, den anderen zu verstehen, bleibt immer ein unhintergehbares Geheimnis zurück, das nicht artikuliert werden kann. Spivak bezeichnet dieses Überbleibsel als "ethical singularity" und formuliert eine grundlegend anthropologische Schwierigkeit des Übersetzens - zwischen zwei Sprachen, zwischen Menschen oder Kulturen, zwischen Gedanke und Sprache - in ihrem Vorwort zu Mahasweta Devis Erzählungsband "Imaginary Maps". Die literarischen Texte der bengalischen Autorin hat sie ebenso wie Jacques Derridas "Grammatologie" ins Englische übertragen, und beides ist in ihr eigenes Werk eingegangen, ebenso wie die Überlegungen zum Übersetzen selbst.

Die Möglichkeiten und Grenzen interkulturellen Verstehens bilden den Horizont und zugleich den (pädagogischen) Anspruch ihres komplexen Theoriewerks. Neben ihrer akademischen Tätigkeit an der Columbia Universität unterrichtet Spivak in Bangladesch Schüler mit geringen Bildungschancen, beide Aufgaben beeinflussen sich wechselseitig. Aus der Arbeit mit Kindern und ihrer Art zu lernen leitet Spivak die ethischen Fragen ihres Werks ab und konfrontiert sie mit der politischen Realität im Zeitalter der 'Globalisierung' - das Verhältnis von Ethik und Politik bezeichnet sie als 'double bind', als unauflösbar widersprüchliche Situation. Ihre Kritik richtet sich dabei gleichermaßen gegen die Mechanismen der Unterdrückung, wie gegen das Selbstverständnis einiger Globalisierungsgegner, die sich anmaßen, für die Unterdrückten sprechen zu können. Auf diese Weise vollzieht sich, so Spivaks Argumentation, nur eine weitere Repression der so genannten Dritten Welt, insofern die Menschen dort, in dem Moment, da Andere 'für sie' sprechen, ihrer Stimme beraubt werden.

Einen solchen Vorgang der Aneignung bezeichnet Spivak in Anlehnung an Karl Marx' Analyse des postrevolutionären Frankreichs als "Feudalität ohne Feudalismus". Die im "18. Brumaire" getroffene Differenzierung des Begriffs Repräsentation als 'Darstellen' einerseits und 'Vertreten' andererseits wird von Spivak aufgegriffen: sie versucht deutlich zu machen, dass jede Form des Sprechens 'für Andere' notwendigerweise auch eine politische Bedeutung hat und ein hierarchisches Verhältnis begründet. Zugleich lässt sich dabei die Relevanz der Spivak'schen Theorie für die Literaturwissenschaft erkennen: jede Form der kulturellen Äußerung konstituiert eine Subjektposition und damit auch ein Objekt, es entsteht innerhalb der Darstellung ein Machtgefälle. Besonders in Dokumenten aus postkolonialen Zusammenhängen lässt sich die Entstehung einer solchen 'master narrative' nachvollziehen, in der sowohl ein Subjekt des Wissens hervorgebracht wird wie auch eine scheinbar natürliche Differenz zwischen 'master' und 'native'.

Spivak holt stets sehr weit aus in ihren philosophisch-theoretischen Bezugnahmen, die Ideen von Marx und marxistischen Denkern wie Frederic Jameson oder Antonio Gramsci gehen ebenso in ihr Werk ein wie Derridas Dekonstruktivismus. Obwohl ihre Texte sehr voraussetzungsreich sind, handelt es sich um alles andere als ein starres Theoriegebäude mit einer stringenten Argumentation. Vielmehr geht die Denkerin häufig assoziativ und beispielhaft vor, widmet sich Betrachtungen zeitgenössischer Kunst oder flicht autobiografisch inspirierte Überlegungen mit ein. Allen Texten gemeinsam ist die Verschränkung von Fragestellungen und Denkbewegungen des Feminismus, Marxismus und Dekonstruktivismus. Dies gilt auch für ihren Text "Can the Subaltern Speak", der zuerst 1988 in einem Reader von Cary Nelson und Lawrence Grossberg "Marxism and the Interpretation of Culture" veröffentlicht wurde und in einer erweiterten Fassung 1999 in Spivaks Essayband "A Critique of Postcolonial Reason" erschien. Bereits im Titel wird sichtbar, dass Spivak sich nicht in erster Linie in die Gruppe der Postkolonialen Theoretiker neben Edward Said oder Homi K. Bhabha einreihen will, sondern dass sie sich vielmehr als Kritikerin der postkolonialen Theorie begreift. Unter dem Stichwort "repetition in rupture" versucht sie aufzuzeigen, welche Machtstrukturen auch das Ende der kolonialen Herrschaft überlebt haben. Die Art und Weise, wie sich Europa über die Definition der Kolonien als 'das Andere' als souveränes Subjekt konsolidiert hat, reicht in die so genannte postkoloniale Ära hinein und verschleiert immer wieder die Spur des Anderen.

Spivak verwendet vor allem historische Beispiele, um ihren Standpunkt, ihre Infragestellung reduktionistischer Perspektiven und Sprechweisen zu verdeutlichen. So wurde das brutale Ritual der indischen Witwenverbrennungen von den englischen Kolonialherren unterbunden, gleichzeitig aber dazu missbraucht, den Kolonisierten barbarisches Verhalten vorzuwerfen und die eigene Kolonialmission damit in ein positives Licht zu rücken. Spivak geht es nicht darum, das Ritual der Witwenverbrennungen zu verteidigen, sondern die Diskurse zu untersuchen, die versuchen, sich über den Schutz der so genannten "Dritte-Welt-Frau" zu legitimieren - "White men saving brown women from brown men." Frauen werden dabei wird zum Austragungsort konkurrierender Diskurse gemacht, sie sind "doppelt in den Schatten gerückt", in ihrer eigenen Kultur wie in den Darstellungen der Kolonialherren. Spivak sieht in diesem Prozess die grundlegende Anmaßung kolonialer und häufig auch postkolonialer Theorie und Praxis: die Vorstellung, für den Anderen handeln und sprechen zu können. Dass dies unmöglich ist, und dass der Andere - zumeist die Andere -, dabei immer verstummen muss, bildet den Kern ihrer Texte.

Dieses Dilemma geht ein in dem vielzitierten Titel und in der Fragestellung ihres Essays - "Can the Subaltern Speak?" Dabei ist die Frage weniger, ob die Subalternen sprechen können, vielmehr trifft Spivak die Aussage, dass sie in den derzeitigen Machtstrukturen nicht gehört würden, selbst wenn sie es könnten. Sprechen und Hören sind identitätskonstituierende Vorgänge, die Spivak als Teil von Machtstrukturen herausstellt. Der von Antonio Gramsci geprägte Begriff der Subalterne schließt sowohl die Herstellung einer Identität wie auch das Sprechen-Können per se aus: derjenige der sprechen kann, ist kein Subalterner mehr. Selbst diejenigen, denen als "Native Informant", als Vertreter der Dritten Welt, die Möglichkeit des Sprechens zugestanden wird, können nicht für die Anderen sprechen: "I have argued that the privileged inhabitant of neo-colonial space is often bestowed a subject-position as geopolitical other by the dominant radical." Auch die Position des "Native Informant" ist eine kulturelle Konstruktion, deren Spuren im dominanten Diskurs wieder vereinnahmt werden. Spivak geht es darum, - und das ist gewissermaßen ihre Dekonstruktionsleistung -, jede Subjektposition als historisch konstruiert zu verdeutlichen: "Even if history is a great narrative, my point is that the subject position of the native informant, crucial yet forclosed, is also historically and therefore geographically inscribed."

Trotz allem gibt es so etwas wie ein utopisches Moment in Spivaks Texten, auch wenn sie selbst das wohl so nicht formulieren würde: denn die unmögliche Perspektive des Native Informant steht als Erinnerung an eine Alterität (die nicht ausgedrückt werden kann), und kann auf diese Weise dazu beitragen, literarische Texte und kulturelle Erzeugnisse aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Spivak schlägt eine "transnationale Literarizität" vor, die eine entschiedene Perspektiverweiterung einschließen würde (dies erinnert ein wenig an ihren Begriff der "Planetarity", den sie als Gegenstück zur Idee der Globalisierung entworfen hat und mit dem sie die Situiertheit und Relativität der eigenen Position betonen möchte), ein Bewusstsein für die hegemoniale Strukturierung von Kultur und Gesellschaft.

Spivak ist von Kritikern häufig Unverständlichkeit vorgeworfen worden, und tatsächlich sind ihre Texte sehr schwierig und vielleicht niemals vollständig zu verstehen. Daran wird auch die deutsche Übersetzung nicht viel ändern, denn es ist weniger die Sprache, an der der Leser bisweilen scheitert, als vielmehr ihr assoziatives, voraussetzungsreiches und wildes Denken. "Unfortunately I do understand everything I say" entgegnet sie auf solche Vorwürfe, und das glaubt man ihr vollkommen. Und vielleicht muss man auch nicht jeden philosophischen Gedanken und jeden kulturellen Verweis gänzlich begreifen. Die in jeder Sprache enthaltene Unübersetzbarkeit gibt dem Leser ein Gefühl für die eigene Unkenntnis und verweist ihn auf die Grenzen der kulturellen Übertragbarkeit, was durchaus in der Intention der Texte liegt. Es geht Spivak nicht in erster Linie darum, alternative Antworten zugeben, sondern neue Fragen zu stellen und die bestehenden Diskurse und Denkmodelle zu hinterfragen. Sie lehrt in ihren Texten - und das ist charakteristisch dekonstruktivistisch - kein neues Theoriegebäude, sondern eine radikale Art und Weise des kritischen Denkens.


Titelbild

Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation.
Übersetzt aus dem Englischen von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny.
Turia + Kant Verlag, Wien 2007.
159 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783851325065

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