Aufklärung und "Entartung"

Céline Kaiser über den Fin-de-siècle-Bestseller Max Nordau

Von Felix WiedemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Wiedemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Begriff "Entartung" gehört zweifellos zu jenen Wörtern, die angesichts seiner prominenten Stellung im nationalsozialistischen "Wörterbuch des Unmenschen" zu Recht aus dem öffentlichen Sprachgebrauch verschwunden sind. Heute wird er höchstens noch von unverbesserlichen Rassisten verwendet, die durch seinen Gebrauch zugleich ihre Zugehörigkeit zum rechtsextremen Lager markieren. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass die Popularisierung des Begriffs an der Wende zum 20. Jahrhundert maßgeblich auf einen Autor zurückgeht, der keineswegs der extremen Rechten angehörte - die Rede ist von dem österreich-ungarischen Arzt, Schriftsteller und Zionisten Max Nordau (1849-1923). Dieser hatte 1893 in seinem gleichnamigen Besteller eine krankhafte "Entartung" der zeitgenössischen Kultur und Gesellschaft diagnostiziert und war gegen die moderne Kunst zu Felde gezogen.

Dieses berüchtigte Buch ist von der Literaturwissenschaftlerin Céline Kaiser nun einer erneuten Lektüre unterzogen worden. Dabei handelt es sich erklärtermaßen nicht nur um eine historisch angelegte Studie, sondern zugleich um einen aktuellen Beitrag zur Analyse ethisch begründeter Machtverhältnisse und moralischer Zensur: Angeregt durch Judith Butlers "Kritik der ethischen Gewalt" und ihren Untersuchungen zur "Hate Speech" versucht Kaiser anhand Nordaus Entartungsdiskurses zu zeigen, wie ein aus der Pose des souveränen Subjekts vorgebrachter "ethische[r] Rigorismus sich aus der Verwerfung des Anderen speist" und jederzeit in Gewalt und Zensur umschlagen kann.

Nordau selbst hat sich zwar mit konkreten Vorschlägen, dem ausgemachten Verfall entgegenzuwirken, stets zurückgehalten, Kaiser zeigt jedoch überzeugend, inwieweit seiner sich rein diagnostisch gebenden "Rhetorik der Entartung" mit ihrem biologischen Reduktionismus das Gewaltpotential immer schon inhärent ist: Vom Aufzeigen ansteckender Krankheitsherde in der Gesellschaft scheint es nicht mehr weit bis zur Forderung, diesen in einer Radikalkur zu Leibe zu rücken.

Dabei wird Nordaus Kampf von einer verzweifelten Sehnsucht nach einer rationalen Ordnung angetrieben, die er durch die moderne abstrakte Kunst mit ihrer Auflösung der traditionellen Formen und ihrer scheinbar sinnlosen, chaotischen Sprache bedroht sieht. Er hingegen ist bestrebt, aus der Position des souveränen medizinischen Diagnostikers heraus eine regelrechte "Polizeiordnung" zu etablieren, die es erlauben soll, Wahnsinn und Vernunft, legitime und krankhafte Kunst zu unterscheiden.

Zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang seiner sprachwissenschaftlich begründeten Kritik des Mystizismus und Irrationalismus zu: Im Kontext zeitgenössischer Experimente über Ideenassoziation und Analogiebildung, wie sie in Medizin und Psychiatrie durchgeführt wurden, um eine Sprache der Vernunft von der Sprache des Wahns unterscheiden zu können, versucht der sich als radikaler Aufklärer verstehende Nordau, Regeln aufzustellen, wann eine Rede (oder auch ein Kunstwerk) als krankhaft - und somit als "entartet" - und wann als vernünftig beziehungsweise gesund zu gelten hat. Dabei zielt er vor allem auf eine poetische Sprache ab, die sich durch Analogien, Klang und Syntax leiten lässt und jede eindeutige Verbindung von Zeichen und Bedeutung verneint beziehungsweise auflöst. Als Erkennungsmerkmal gelten ihm dabei "falsche" sprachliche Verknüpfungen zwischen eigentlich völlig disparaten Dingen, das heißt die "krankhafte" Konstruktion bedeutsamer Zusammenhänge anhand bloß oberflächlicher Analogien. Mit anderen Worten, Nordau unterstellt der modernen Kunst und Kultur eine wahnhafte Hermeneutik des Verdachts, die in ihrem beständigen Streben, Kontingenz in Kohärenz zu verwandeln, eine "mystische" Ordnung hinter den Dingen herstellt, damit aber jede vernünftige Ordnung der Sprache und somit jeden rationalen Diskurs zu zersetzen droht.

In diesem Sinne führt die Autorin Nordaus Pathologisierung der modernen Kunst, seinen Kampf gegen die sich der rationalen Kontrolle entziehenden Möglichkeiten der Sprache auf die unreflektierte, das Andere und Abweichende ausschließende Vernunft des souveränen Sprechers zurück. Sie verortet folglich den modernen Entartungs-Diskurs und die ihm inhärente ethische Gewalt in der Tradition der Aufklärung, und ihre ebenso brillante wie anregende Nordau-Studie ist entsprechend auch als vehemente Kritik dieses Erbes der Aufklärung zu lesen.

Dabei stellen derartige Versuche, eine sprachwissenschaftlich argumentierende "Polizeiordnung" aufzustellen, für Kaiser keineswegs rein historische Erscheinungen dar. In einem - angesichts des biologistischen Begründungszusammenhangs Nordaus mitunter etwas gewagten - Vergleich setzt sie Nordaus pathologisierende Sprachkritik mit Umberto Ecos Kritik der "Überinterpretation" in Beziehung. Dabei geht es Eco um die Frage, wie sich schlüssige, vernünftige Verbindungen zwischen einzelnen sprachlichen Elementen oder - und genau auf diesen Zusammenhang kommt es ihm an - historischen Ereignissen von "paranoiden" unterscheiden lassen: Charakteristisch für Überinterpretationen ist ihm zufolge die Herstellung unbegründeter, "mystischer" Verbindungen zwischen eigentlich bedeutungslosen Koinzidenzen, Banalitäten oder Zufällen.

Stellt sich hier wie bei Nordau in der Tat die Frage nach den Kriterien der Unterscheidung zwischen vernünftigen und "paranoiden" Verknüpfungen, berücksichtigt Kaiser mitunter zuwenig den Kontext von Ecos Kritik, der möglicherweise auch ein anderes Licht auf Nordau geworfen hätte: Ecos Warnung vor unreflektierten Überinterpretationen resultierte aus seiner Auseinandersetzung mit esoterischen Welterklärungsmodellen und Verschwörungstheorien, deren Funktionsweise er in seinem Roman "Das Foucaultsche Pendel" auf ebenso geniale wie treffende Weise persifliert hatte. In diesem Zusammenhang hatte er sich auch mit dem Grundtext moderner Verschwörungstheorien, den antisemitischen "Protokollen der Weisen von Zion", beschäftigt, die just zur selben Zeit entstanden, als der aufgeklärte Zionist Max Nordau gegen die Hermeneutik des Verdachts und den Mystizismus in der modernen Kultur zu Felde zog. Könnte man Nordaus Kritik "falscher" Verknüpfungen in diesem Sinne nicht auch als Antwort auf die um 1900 grassierenden esoterischen Welterklärungsmodelle und antisemitischen Verschwörungsfantasien lesen? Insofern muss man Kaisers Verdacht gegen sämtliche Versuche, "falsche" und "wahnhafte" Interpretationen dingfest zu machen, nicht an jedem Punkt folgen. Auch ohne in Nordaus biologistische und menschenverachtende "Rhetorik der Entartung" zu verfallen - das Problem, wie man "paranoiden Überinterpretationen", "falschen Verknüpfungen" und bösartigen Verschwörungstheorien begegnen soll, bleibt bestehen.


Titelbild

Celine Kaiser: Rhetorik der Entartung. Max Nordau und die Sprache der Verletzung.
Transcript Verlag, Bielefeld 2007.
238 Seiten, 27,80 EUR.
ISBN-13: 9783899426724

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