Streunender Wolf und rotes Seidentuch

Henning Mankells Roman "Der Chinese"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Wallander-Epoche ist für Henning Mankell passé, und der schwedische Erfolgsautor hat in jüngster Vergangenheit mit seinen Romanen "Die italienischen Schuhe" (2007), "Kennedys Hirn" (2006) und "Tiefe" (2005) eindrücklich bewiesen, dass er sich auf literarischem Terrain auch abseits der konventionellen Krimipfade zu bewegen versteht. Obwohl - so ganz ohne Thrillerelemente und kriminalistischen Spannungsbogen kamen auch diese nicht aus. Nun hat Mankell, der im Februar seinen 60. Geburtstag feierte, mit seinem Roman "Der Chinese" ganz weit ausgeholt: Eine Mordserie, die an Brutalität kaum noch zu überbieten ist, eine weltumspannende Verschwörungstheorie und die Lebenskrise einer Frau in den mittleren Jahren werden vereint.

Am Anfang begegnen wir einem hungrigen Wolf, der sich auf das Dorf Hesjövallen zubewegt. Es ist Winter, bitterkalt, und das Tier befindet sich auf Nahrungssuche. Es frisst ein Menschenbein, das noch in einem Lederschuh steckt. Der Einstieg ist schaurig, hat aber dennoch Symbolcharakter, denn viel schlimmer ist, was von Menschenhand angerichtet wurde: 19 Menschen sind auf bestialische Weise im Dorf zu Tode gemetzelt worden. Die Polizei findet lediglich ein rotes Seidenband, und die Ermittlungen ergeben, dass eine scharf geschliffene Klinge die Tatwaffe gewesen sein muss.

Nur drei Dorfbewohner überleben das Massaker. Wie sich herausstellt, standen sie - im Gegensatz zu allen Opfern - in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis zu den drei seit mehreren Generationen ansässigen Großfamilien des Dorfes.

Die Polizei tritt bei ihren Ermittlungen auf der Stelle, die Medien und die Politiker machen Druck und fordern eine rasche Aufklärung. Richtig in Fahrt kommt die Handlung erst mit dem Auftritt der Richterin Birgitta Roslin, die eher zufällig privat mit dem Fall konfrontiert wird. Ihr fällt der Name Andrén in der Opferliste auf - die Familie ihrer Adoptiveltern. Nach und nach rückt die Weinliebhaberin Roslin, die eine triste Ehe mit einem Zugschaffner führt und ihre gesundheitlichen Probleme auf die leichte Schulter nimmt, in den Mittelpunkt und richtet eine zweite, inoffizielle Ermittlungsebene ein.

Während die Polizei nach einem paranoiden Täter sucht, vermutet die Richterin nach einer Internetrecherche ein weitverzweigtes Netz. Sie findet heraus, dass wenige Tage vor den Morden in Schweden eine Schlosserfamilie namens Andrén im US-Bundesstaat Nevada ebenfalls brutalen Morden zum Opfer gefallen ist. In alten Tagebuchaufzeichnungen eines in die USA ausgewanderten Mitglieds der Andrén-Familie treten dann erstmals Berührungspunkte zwischen Schweden, USA und China zutage. Darin heißt es, dass "kernige schwedische Burschen hier in Mengen gebraucht werden, statt der verschlagenen chinesischen Kulis. Die Chinesen sind schmutzig und treiben magische Künste."

Als Birgitta Roslin beim Besuch eines chinesischen Restaurants unweit des schwedischen Tatortes Hesjövallen auffällt, dass an einer der Lampen ein dekoratives rotes Seidenband fehlt, ist sie sicher, dass das Restaurant mit der Bluttat in Verbindung steht.

Im zweiten, zu langatmig geratenen Teil des Romans unternimmt Henning Mankell einen Ausflug ins 19. Jahrhundert, um die von Birgitta Roslin recherchierten Zusammenhänge historisch zu unterfüttern. Damit nimmt er dem Roman frühzeitig einen Großteil der Spannung, denn die hier ausgelegten Spuren weisen eindeutig nach China.

So geht es im letzten Drittel des Romans weniger um die Aufklärung der schrecklichen Morde (hinter denen eine weltweit operierende chinesische Mafia steckt), sondern um das Schicksal der Richterin Roslin. Sie mutiert von der Jägerin zur Gejagten, ein von London aus operierender Chinesen-Clan trachtet ihr mehrmals nach dem Leben. In diesen Passagen, in denen Birgitta am Ende nur knapp einem Giftanschlag entgeht, läuft Mankell zu erzählerischer Höchstform auf und evoziert eine Stimmung des Mitfieberns. Der Leser bangt um die Richterin, kann am Ende aber erleichtert aufatmen.

Die Handlungsbrücke, die den Wolf und die animalisch anmutenden Taten im schwedischen Dorf mit dem Seidentuch und der weltweit operierenden chinesischen Mafia verbinden soll, steht auf einem ziemlich wackligen Fundament. Auch die historisch-konstruierte, dem Roman zugrunde liegende Verschwörungs-Rache-Theorie wirkt an den Haaren herbeigezogen und lässt die Handlung zudem im (beinahe überflüssigen) Mittelteil über Gebühr ausufern. "Der Chinese" ist fraglos einer der schwächeren Mankell-Romane.


Titelbild

Henning Mankell: Der Chinese. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008.
450 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783552054363

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