Zweierlei Kongo

Ein Nachtrag zu Leo Frobenius und ein Seitenblick auf Joseph Conrad

Von Markus JochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Joch

Worin besteht das spezifisch literaturwissenschaftliche Interesse an den Postcolonial Studies, einem Forschungssegment, dem sich auch Historiker und Politologen widmen? Darauf haben die Postcolonials der Germanistik hauptsächlich drei Antworten gegeben. Mit Homi Bhabha sehen sie, dass sich die Destabilisierung nationaler und/oder ethnischer Identitäten am markantesten in der Literatur abzeichnet (nachzulesen etwa in den von Christoph Hamann und Cornelia Sieber edierten "Räumen der Hybridität"). Inspiriert von Edward Saids Forderung nach einer kontrapunktischen Lektüre, rekonstruieren sie mit den Verhandlungen außereuropäischer Kulturen eine wenig bekannte Tradition deutscher Literatur, um geweihte Texte neu zu erschließen, bislang randständige zentraler zu positionieren (exemplarisch dazu die Arbeiten von Axel Dunker). Zudem interessieren sie sich für den Roman der Ethnologie und umgekehrt, angeregt durch die von Autoren wie James Clifford und Clifford Geertz angestoßene Writing-Culture-Debatte, für die rhetorischen und performativen Figuren ethnologischer Texte.

Letztere Option erlaubt es unter anderem, Unterschiede zwischen Quasi- und Hochliteratur auszumessen. Als Beispiel dafür seien hier die Präsentationen Schwarzafrikas beim frühen Leo Frobenius gewählt, dem populärsten Vertreter der wilhelminischen Völkerkunde. Seine Expeditionsberichte vom Kongo aus den Jahren 1905 bis 1907 strotzen nur so vor Rassismus, gleichwohl ermöglicht es gerade das ideologisch kontaminierte Material, zu veranschaulichen, wie Stereotype vom schwarzen Menschen im Kaiserreich lanciert wurden. Wirkung erzielte der junge Frobenius, weil er als reisender Ethnologe zwischen der Rolle des bloßen Schreibers, des aufzeichnenden und informierenden écrivant, und der des écrivain pendelte, eines Schriftstellers, der sich auf ein für das zeitgenössische Publikum unterhaltsames Erzählen verstand. Im zweiten Schritt kontrastiere ich die auf der Schnittstelle von Ethnologie und Populärliteratur angesiedelten Texte mit einer thematisch und topografisch benachbarten Erzählung, die jedoch zur buchstäblichen, mehr, zur Weltliteratur zählt.

Der Vergleich mit Joseph Conrads Erinnerungen an den Kongo (1899) wird zugunsten von "Herz der Finsternis" ausfallen. Dies nicht, um die Ethnologie zu ärgern: Der Disziplin ausgerechnet Frobenius, ihren schillerndsten Ahnen, vorzuhalten, wäre absurd, da die deutsche Völkerkunde ihn bereits in den 1970er-Jahren als wissenschaftlich unseriösen Vielschreiber mit chauvinistischen Tendenzen entzauberte. Es geht darum, Frobenius' Techniken der Selbstpopularisierung über bloße Ideologiekritik hinaus zu beobachten, um im Licht seiner Mentalität einige Differenzqualitäten Conrads hervorzuheben. Der Akzent auf relativen Vorzügen ist dem sich verändernden Conrad-Bild geschuldet.

1975 hielt Chinua Achebe, der nigerianische Autor von Weltrang, an der University of Massachusetts in Amherst einen Vortrag, in dem er nicht nur anprangerte, dass Conrads Novelle "Heart of Darkness" die Afrikaner bis zur Dehumanisierung herabwürdige und Afrika als Zone der Geschichtslosigkeit präsentiere. Er skandalisierte auch die Kanonisierung des Textes im Westen, die er einem unbewussten Rassismus selbst noch in den höchsten akademischen Rängen zuschrieb. Die im angelsächsischen Raum seit längerem als Beispiel eines Writing back der Dekolonisierten geltende Abrechnung ist mittlerweile auch im Blickfeld deutscher Literaturwissenschaftler aufgetaucht. Zu verdanken ist das der 2000 erfolgten Übertragung ins Deutsche, dem Umstand, dass Tobias Döring 2005 im Nachwort zur neuen, bei dtv erschienenen Übersetzung von "Heart of Darkness" den "Zwischenruf" Achebes erwähnte, sowie einer Conrad-Biografie vom vergangenen Jahr, "Fahrt ins Geheimnis".

In seiner überhaupt sehr gelungenen Studie stellt Elmar Schenkel fest, dass den meisten weißen Lesern die rassistischen Anteile eines geweihten Textes ohne Achebes schneidende Kritik niemals aufgefallen wären. "Doch sollte man nach dieser Erkenntnis wieder den Schritt zurück in die Geschichte tun und sehen, wie ganz anders und primitiv Conrads literarische Zeitgenossen die Frage von Kolonialismus und Rassismus behandelt haben. Dann fallen die Unsicherheiten bei Marlow auf [Conrads Alter ego], die Selbstbefragungen und -beschuldigungen, die europäische Scham, die immer wieder aufscheint zwischen all dem chauvinistischen Getue, das Marlow auch an den Tag legt." Der summarische Befund ("Zeitgenossen") soll hier ausbuchstabiert werden. Gerade auf der Folie des deutschen Kongo-Berichts kann man differentiell bestimmen, in welchen Punkten Conrad seiner Zeit verhaftet war und in welchen ihr voraus.

I.

Was führte Frobenius 1904 an den Kongo-Kassai? Zu dieser Zeit war die Region nicht mehr, wie noch drei Dekaden zuvor, ein weißer Fleck auf den Weltkarten; die Entdeckerrolle, die Henry M. Stanley oder Hermann von Wissmann gespielt hatten, entfiel also. Den Nachfolgenden trieb neben Abenteuerlust das Unbehagen an der eigenen Forschungspraxis. Um 1900 führte die Völkerkunde die Tatsache, dass sich in weit voneinander entfernten Erdteilen zahlreiche Elemente des geistigen und materiellen Kulturbesitzes finden lassen, die in Form und Funktion übereinstimmen, auf Diffusion zurück, sei es durch Völkerwanderung, sei es durch mündliche Überlieferung oder Handel. Das Verbreitungsgebiet identischer Güterreihen brachte als erster Frobenius auf den terminus technicus der Kulturkreise, doch waren diejenigen seiner frühen, vor der Expedition verfassten Arbeiten arg weit geschnitten. So sollte der "malajo-nigritische" Kreis sich von Ozeanien nach Westafrika erstrecken, bestehend aus Elementen wie Bambusbogen, Bananenanbau, Holzpauke und - hoher Wertschätzung von Kunst. Nun ist letzteres Merkmal so allgemeiner Natur, dass nicht einmal der indirekte Kontakt durch tausende Kilometer getrennter Völker zwingend erscheint. Von den papierenen Ordnungen eines Schreibtisch- und Museumsethnologen suchte sich Frobenius zu lösen; die Erforschung der Bantu-Stämme am Kongo versprach eine realistischere, auf überschaubare Gebiete formatierte Konstruktion kultureller Einheiten. So machte er sich auf die erste seiner "Deutschen Innerafrikanischen Forschungsexpeditionen".

Dass die Reiseroute nicht durch deutsches Kolonialgebiet führte, sondern in das der Konkurrenz, hier in das der Belgier, kennzeichnete die meisten seiner Exkursionen. Wie auch anders, sie dienten ihm zur Überprüfung einer stark auf materielle Kulturgüter fixierten Theorie und zur Anlage ethnografischer Sammlungen, nicht aber eigentlicher Feldforschung, die für die deutsche Kolonialmacht verwertbar gewesen wäre. Als Kolonialwissenschaftler kann Frobenius allerdings gelten, soweit er die Infrastruktur der anderen nutzte. In diesem Fall waren es die Handelsniederlassungen der Compagnie du Casai, die Versorgung und Unterkunft gewährten, einheimische Trägerkolonnen vermittelten und sich als Basislager für die Erkundungsmärsche eigneten.

Wie besessen sammelt der Deutsche Informationen zu indigenen Trachten, Tatauierungsmustern, Musikinstrumenten, Fetischen, Sexualriten und Totenkulten, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Der Inventarisierungswahn füllt am Ende neunzehn Tage- und dreißig Notizbücher; die Fülle der Aufzeichnungen zeugt von einer sich obsessiv entwickelnden Sammelleidenschaft, die den ursprünglichen Zweck, eine Basis für ethnologische Argumentation zu schaffen, überbordet - nur ein Bruchteil wird später ausgewertet.

Der ursprüngliche Zweck der Reise tritt während derselben auch deshalb zurück, weil der ehemalige Kaufmannslehrling in großem Stil Gegenstände der Alltags- und Zeremonialkultur erwirbt, im ungleichen Tausch gegen europäische Gebrauchsgüter. Für seine gewaltigen Lieferungen von Exotica hat er zuvor im Hamburger Völkerkundemuseum einen zahlungskräftigen Abnehmer gefunden. In dem Maß, in dem er unterwegs realisiert, dass die Kooperation mit Hamburg funktioniert und ihm auch in Zukunft finanzielle Unabhängigkeit von den Universitäten verschaffen kann, beginnt sich der akademische Außenseiter von der geplanten Bantu-Ethnografie de facto zu entfernen. Ohne die ,wissenschaftliche' Sammelbewegung abzubrechen, verwendet er mehr und mehr Zeit aufs Schreiben, Ausschmücken, Erzählen; lockere Anekdotenfolge und subjektiver Stimmungsbericht beginnen die nüchterne Ethnografie zu dominieren. Sich die Lizenz zum Unterhalten zu erteilen, liegt für den Autor umso näher, als er mit dem Berliner Lokal-Anzeiger einen Vertrag als Reporter geschlossen hat. Die schon in der Buchfassung ("Im Schatten des Kongostaates", 1907) durchscheinende Tendenz zum Erlebnisbericht bricht in den Zeitungsartikeln vollends durch.

Wenn der "am Kongo weilende Spezialberichterstatter" etwa "das Grauenvolle, die Menschenfresserei" rapportiert, nimmt er einen Topos auf, der seit der Entdeckung der Neuen Welt zu den stabilsten in der Darstellung der 'Wilden' zählt und doch ein immergrünes Sujet abgibt, dessen sich um 1900 auch zahlreiche Berichte aus Melanesien bedienen. Ähnlich wie der dort weilende Unterhaltungschriftsteller Stephan von Kotze schätzt Frobenius am Kannibalismus-Motiv, dass es neben einem gewissen Thrill die Möglichkeit bietet, in die Rolle des älteren Menschheitsbruders zu schlüpfen, der immer wieder kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen muss, dass die Lernfähigkeit des jüngeren zu wünschen übrig lässt. Die trübe-selbstgefälligen Pointierungen gelten einem verschämt eingestandenen Atavismus der Eingeborenen: "Erst nach langen Redereien erfahre ich, dass der Knochen vom letzten Mahle ist. Dazu folgt aber sogleich die beschwichtigende und eingrenzende Ergänzung: 'Wir essen sehr selten Menschen.' Das ist ja immerhin beruhigend und erfreulich, erinnert mich jedoch an die Erklärung eines Mumballa, die mir später zuteil ward: 'Wir sind keine Menschenfresser, wir essen nur die im Kriege Getöteten.' Man sieht welch feine Unterschiede es gibt."

Dem Verdacht, ein Kulturgefälle zwischen Schwarz und Weiß effekthascherisch glauben zu machen, konnte Frobenius freilich leichter als von Kotze entgehen, da er bei aller Spekulation auf Sensationswerten den Anspruch auf seriöse Ethnografie aufrechterhielt, zumindest die Buchfassung mit Erläuterungen etwa zu den Feinheiten des Rundbaus bei den Bakalele durchsetzte.

An einer Selbstinszenierung als Abenteurer hindert das nicht. Die zynische Beiläufigkeit, mit der der bewaffnete Gelehrte tödliche Schüsse auf einen widerspenstigen Badinga erwähnt - "Also setzte ich das Görzsche Zielrohr auf meine Büchse, und dann hat der Vorderste von jenen Burschen [...] von der Welt Abschied genommen" -, bildet das Komplement zur Normalhaltung, einer paternalistischen Heroik, die mit konsequenter Infantilisierung der Einheimischen einhergeht. Das lässt sich, was die Buchfassung betrifft, in nuce an einer Episode vom 13. April 1905 erhellen, die um eine Begegnung mit den kriegerischen Babunda kreist.

Schon die Erwähnung des Datums stellt einmal mehr die Intimität des veröffentlichten Tagebuchs her. Wiedergegeben wird eine Kampfhandlung, während der die schwarze Begleitmannschaft zunächst der Mut verlässt. Sehr bald jedoch richtet sie sich an Entscheidungsfreude und Unerschrockenheit des weißen Führers wieder auf. Dabei bezieht die Passage ihre atmosphärische Dichte nicht allein aus dem süffigen Stil des Autors. Zum Pfeilregen der Babunda lässt der Erzähler auch noch ein heftiges Tropengewitter einsetzen - und genau an dieser Stelle stößt der Leser auf die Fotografie eines im Regenwald einschlagenden Blitzes. Ein ob des Einschlags verzagender Beobachtungsposten muss in vorzivilisatorischer Manier zur Vernunft gebracht werden: "Ich gab ihm eine Ohrfeige und jagte ihn auf seinen Posten zurück." - Abschnitte wie diese lassen erkennen, dass das Zusammenspiel von Text und Bild für eine Dramatisierung und Authentisierung sorgte, die auch die rassistischen Stereotype unterschwellig beglaubigte.

Die großzügigen Illustrationen, mit denen "Im Schatten des Kongostaats" aufwartete, verdankte sich einem Fortschritt in der Bilddrucktechnik. Die Ende der 1880er-Jahre entwickelte Autotypie erlaubte bei Zeichnungen wie Lichtbildern durch ein Rasterverfahren die Wiedergabe von Halbton-Abstufungen. Damit wurde eine schnelle und preiswerte Reproduktion möglich. Die für einen Reisebericht aus Afrika bis dahin singuläre Vielzahl von Bildern zu Flora, Fauna, Witterung und Expeditionsleben sorgte nun nicht nur für eine fesselnde Stimmung von Exotik. Verstärkt wurde vor allem die schon vom Text herausgestellte Autorität des Dagewesen-Seins. Eine visuelle Anschauung verleiht den Worten nun mal "eine Aura von Realismus und Glaubwürdigkeit" (Johannes Fabian). Der Eindruck einer unbezweifelbaren, 'naturalistischen' Dokumentation ist auf die verbal erzeugten Bilder vom schwarzen Menschen zweifellos übergegangen.

Gleichwohl versteht sich der Autor auch auf ein anderes Register der Selbst- und Fremddarstellung, nämlich das der freundlich-jovialen Kooperation. Zu denken ist an die lobenden Worte für den zuverlässig untertänigen Schwarzen, verkörpert von einem Koch, der sich zudem als treffsicherer Schütze auszeichnet. Die Zusammenarbeit von Schwarz und Weiß in einer flachen, zivilisierten, wenn auch klaren Hierarchie ist die eine Suggestion, auf die sich ein Kolonialismus des guten Gewissens zu stützen weiß. Die andere besteht darin, die deutsche Rolle - streng aber gerecht - deutlich von der der weißen Peiniger abzugrenzen. Als Erklärung für die erwähnte Feindseligkeit der Babunda führt Frobenius die üblen Erfahrungen an, die sie mit einem Monsieur Josti gemacht hätten, einem Kautschukhändler, dessen Faktorei ein Bild des Grauens geboten habe. "Verwesende Leichen verpesteten die Luft. So hatten wir unter den Nachwirkungen der Ausschreitungen dieses Mannes zu leiden." Nicht, dass an der Legitimität der Verwertung schwarzer Arbeitskraft grundsätzlich zu zweifeln wäre, für den Deutschen ist "die gesunde Erziehung eines gesunden Arbeitszwangs" so geboten wie unvermeidlich. Innerhalb der schicksalhaften Entwicklung aber werden Unterschiede gemacht.

So pressten die Belgier Kautschuk und Elfenbein aus dem Land, ohne selbst für neue, langfristigen Ertrag versprechende Pflanzungen zu sorgen. Am bedauerlichsten die unnötig brutale Durchsetzung der Produktionsziele - der Kongostaat suche die Menschen durch Furcht zur Arbeit zu zwingen, statt sie durch ein System von Gratifikationen zu erziehen. Verantwortlich für die Missstände sei, dass die belgische Gesellschaft ihre negative Auslese in die Privatkolonie Leopolds II. verfrachte. Während das deutsche Kolonialprojekt in den Händen geschulter Kaufleute und verantwortungsvoller Beamter liege, agierten dort unglücklich Verliebte, Bankrotteure und Glücksritter, Gestalten, die den Verlockungen ihrer Macht - Plünderung, Alkoholismus, sexuelle Exzesse - zwangsläufig erlägen. Monsieur Josti soll für den traurigen Höhepunkt von Auswüchsen stehen, die einer deutschen, also sauberen Kolonialmission nicht zu denken geben müssen. Insofern erlaubt der Expeditionsbericht eine symptomale Lektüre, die auf eine für die kolonialen Nachzügler typische Mentalität verweist. Frobenius' Publikumserfolg erklärt sich auch damit, die Überzeugung der "ewigen Zweiten" (Russell Berman), im innereuropäischen Vergleich zumindest moralisch auf der Überholspur zu sein, stabilisiert zu haben. Dies unmittelbar nach dem Genozid an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, um an eine Koinzidenz zu erinnern.

II.

Die auf dem Hintergrund des Kongo-Staats konturierten Phantasien eines unschuldigen Imperialismus, die reinlichen Unterscheidungen von europäischer Überlegenheit und afrikanischer Barbarei, zu vermittelnder Arbeitsmoral und schierer Ausbeutung, kontrastieren der Parallelerzählung Conrads. Während Frobenius sich im Namen der Kultur als Kraftnatur aufführt, die Barbarei aber exterritorialisiert, beginnen dem Helden aus "Herz der Finsternis" die Gewissheiten verloren zu gehen. Zementiert Frobenius die Entgegensetzung von Normalität und Auswuchs, so erlebt Marlow, selbst ein Angestellter der Handelskompanie und des Arbeitsideals als seelischer Stütze durchaus bedürftig, die Barbarei im Wohlgeregelten, die kontraktgemäße Vernichtung durch Arbeit: "Auf der Klippe explodierte wieder eine Sprengladung, und durch den Boden unter meinen Füßen lief ein leises Beben. Die Arbeit ging weiter. Die Arbeit! Und dies war der Ort, wohin sich einige der Helfer zurückgezogen hatten, um zu sterben. Sie starben langsam - das war sehr deutlich. Sie waren keine Feinde, sie waren keine Verbrecher, sie waren nichts Irdisches mehr - nichts als schwarze Schatten der Krankheit und des Hungers [...]. Herangeschleppt aus allen Schlupfwinkeln der Küste, mit der ganzen Rechtmäßigkeit zeitlicher Verträge."

Die Szene im Totenhain lässt die mörderischen Exzesse eines Kurtz, der im Roman die symbolische Position einnimmt, die im Expeditionsbericht Josti zukommt, nicht als Verletzung der Geschäftsgrundlage erscheinen, sondern als die hypertrophe, zur Kenntlichkeit entstellte Form des normalen Raubzugs. Zumal mit Kurtz, im Gegensatz zu Josti, ein Mann der atavistischen Grausamkeit verfällt, der innerhalb der erzählten Welt durchaus Format und Führungsrolle verkörpert, mithin nicht für ein Versagen der zweiten Reihe stehen kann. Beruhigender gerät die Botschaft bei Frobenius: Berge von Totenköpfen sind in seinen Artikeln immer noch das Werk exzentrischer schwarzer Häuptlinge, ein Beweis für die Notwendigkeit weißer Präsenz, nicht ihrer Abgründe.

Nun zeigt sich der kritischste Leser Conrads aber gerade von der Szene im Totenhain unbeeindruckt. Für Achebe fällt sie in die Kategorie "herzzerreißende Ergüsse", zeuge sie doch nur von der "englischen liberalen Tradition [...], die von allen anständigen Engländern tiefe Betroffenheit über die Greueltaten König Leopolds von Belgien in Bulgarien oder dem Kongo oder wo immer verlangte." Die moralische Pflichtübung habe es allemal erlaubt, "der letzten Frage nach der Gleichheit zwischen weißen und schwarzen Menschen auszuweichen." Damit ist die liberale Mentalität im Allgemeinen treffend beschrieben. Conrads Erzählung wie auch die 1904 erschienene Anklageschrift des britischen Konsuls Roger Casement, die die Verbrechen im Freistaat noch weit publikumswirksamer aufdeckte, führten nur dazu, dass britische und andere Regierungskreise Druck auf Leopold ausübten, eine Untersuchungskommission zuzulassen, und à la longue zur Überabgabe der Privatkolonie an den belgischen Staat (1908). In den Chor der Entrüstung stimmte eine Reihe angelsächsischer Schriftsteller ein, darunter selbst ein Imperialist wie Sir Arthur Conan Doyle, dem die Gleichwertigkeit von Weiß und Schwarz nicht wirklich eine Herzensangelegenheit war. "Hier ließ sich", resümiert Schenkel, "für so manchen einiges an schlechtem Gewissen wie an kolonialer Konkurrenz abtragen". Den Zeigefinger erheben, ohne das Kolonialprojekt prinzipiell, mithin auch das eigene, in Frage stellen zu müssen: An der Alibiveranstaltung hat sich auch ein deutscher Autor gern beteiligt. Aber Conrad selbst?

Die Tendenz von Frobenius und anderen, mit Ausbeutung und Brutalität zwei konstitutive Elemente des Kolonialismus abzuspalten, auf die Belgier zu projizieren und in den Grenzen des Kongo-Staats einzuhegen, durchkreuzt dieser Erzähler bereits durch die Familiengenealogie, mit der er die Figur des Kurtz ausstattet. "Seine Mutter war Halbengländerin, sein Vater Halbfranzose. Ganz Europa war am Zustandekommen des Herrn Kurtz beteiligt gewesen; und alsbald erfuhr ich [Marlow] auch, daß ihn die Internationale Gesellschaft zur Unterdrückung primitiver Bräuche eigens mit der Ausarbeitung eines Berichts betraut hatte, der ihr zur Orientierung für die Zukunft dienen sollte." Eine räumliche Eingrenzbarkeit des moralischen Problems dementiert Conrad zudem durch die Entscheidung, auf konkrete geografische Angaben zum Handlungsort zu verzichten, die weißen Protagonisten nicht etwa als Belgier sondern typisierend zu bezeichnen ("Stationsdirektor", "Agent") und die Masse der weißen Angestellten der Handelsgesellschaft als "Pilger" firmieren zu lassen. Damit spielt er auf den quasi-religiösen Anspruch europäischer Kulturmission an, um ihn durchs Konfrontieren mit profanen Begehrlichkeiten ad absurdum zu führen: "Das Wort 'Elfenbein' scholl durch die Luft, wurde geflüstert, wurde geseufzt. Man hätte meinen können, sie beteten es an. Der Pesthauch aberwitziger Raubgier schien das alles, wie Aasgeruch, zu durchdringen."

Es ist nicht allein der Unterschied zwischen radikaler und wohldosierter Kolonialkritik, der Conrad vom zeitgenössischen Umfeld abhebt; ins Auge fällt auch eine singuläre Selbstdistanz. Mit Marlow installiert er einen fiktiven Binnenerzähler, um sich selbst indirekt objektivieren zu können, und das heißt: die Wahrnehmung eines ehemaligen Angestellten des imperialen Systems, der sich der Hybris des europäischen Ausgriffs ebenso bewusst wurde wie der Tatsache, dass er an ihr teilhatte. "Die Eroberung der Welt, die im wesentlichen darauf hinausläuft, daß man sie denen fortnimmt, die eine andere Hautfarbe oder etwas plattere Nasen als wir haben, ist, genau besehen, nichts Erfreuliches. Was mit ihr versöhnt, ist die Idee allein", räsoniert Marlow, bevor er seinen Zuhörern auf der Nellie von seinen Erlebnissen berichtet. Die fabula docet der dann folgenden Geschichte scheint nur darin zu bestehen, dass sich die Idee (Fortschritt durch Produktivität und Handel) an der Wirklichkeit (Plünderung in Permanenz) blamiert. Unbestritten ist das eine der Kernbotschaften, deren zügige, unerbittliche Entfaltung den vielbewunderten Sog der Erzählung erzeugt. Doch gibt es noch eine weitere Bedeutungsebene.

Marlow erkennt in Kurtz' zügelloser Jagd nach dem Elfenbein eine "unglaubliche Verderbtheit", ertappt sich aber bisweilen dabei, dass ihm der gewaltige Output der inner station Respekt einflößt. Am Größenwahn des Leiters entziffert er den "Glauben an die eigene Fähigkeit" und die "Macht der Hingabe" ans Geschäft, zwei Triebfedern, die ihm selbst so ganz fremd nicht sind. Die Ahnung einer wenn auch nur entfernten Verwandtschaft mit dem "hohlen Scharlatan" macht für ihn das eigentlich Beunruhigende aus, "den Schatten des Herrn Kurtz". Das Motiv des manischen Sammelns dient hier auch dazu, eine mentale Friktion zur Sprache zu bringen.

Derlei Nachdenklichkeit, in den acht Jahren zwischen der Kongo-Fahrt und der Niederschrift gewachsen, durch die Delegation ans alter ego Marlow erleichtert (Privileg fiktionalen Erzählens!), beschlich den frühen Frobenius nicht. Undenkbar, dass der titelstiftende "Schatten des Kongostaates" auf ihn selbst fallen könnte, obwohl doch zumindest der leidenschaftliche Sammler von Exotica eine entfernte Verwandtschaft zu seinen Gastgebern erkennen lässt.

Dass er, dessen operative Vokabel in den Expeditionsberichten "einheimsen" hieß, für jedes einzelne ethnografische Objekt vom Hamburgischen Museum zehn Mark erhielt, mithin die mit Nippes bedachten Bantu kräftig übervorteilte, ist nicht einmal der heikelste Punkt. Interessanter sind die historisch-geografischen Umstände. Beim Erwerb der gewaltigen, 8.000 Objekte umfassenden Sammlung kunsthandwerklicher Gegenstände, die die finanzielle Grundlage der folgenden Expeditionen bilden sollte, nahm Frobenius die generöse Hilfe (unentgeltliche Beförderung und anderes) jener Compagnie du Casai in Anspruch, die sich nach zwanzig Jahren entfesselter Profitjagd die Großzügigkeit allerdings leisten konnte und deren ,Geschäftsgebaren' (zehn Millionen tote Kongolesen, schätzt man heute) zum Zeitpunkt der Ausfahrt in Europa bereits bekannt war. Dennoch stellte sich beim Ethnologen als Händler nicht der Hauch eines Problembewusstseins ein. Es sei denn, man betrachtet folgende Reflexion zum Geist des Mammons als Gegenbeweis: "Der Handel mit ethnographischem Kram ist gewissermaßen die große Landstraße, die in eine Interessengemeinschaft und zu einem Einverständnis mit dem Neger hinüberführt. Man vergesse nie, der Neger ist durchaus Materialist [...] der schlimmsten Sorte."

III.

Noch eine Projektion also. Endergebnis Conrad - Frobenius: 2:0. Oder auch 3:0, berücksichtigt man das ästhetische Gefälle zwischen einem straffen, ökonomischen Erzählen, das "allen Ballast des Zufälligen abwarf" (Urs Widmer), und weitschweifigem Schwadronieren. Hauptvorteile des Vergleichens: Es zeigt, dass die Vorstellungen des frühen Frobenius streng genommen schon zu ihrer Zeit reaktionär waren, daher das gängige Exkulpationsargument (,Kind seiner Zeit') nicht recht verfängt. Umgekehrt werden erst im synchronen Vergleich Conrads Verdienste ermessbar.

Wie schon angedeutet, die Qualitäten von "Heart of Darkness" hat Achebe unterbewertet, was man beanstanden darf. Allein, der Kern seiner Einwände bleibt davon unberührt. Die Gegenlektüre legt offen, dass es eine Sache ist es, die Kolonialideologie zu attackieren, und eine ganz andere, Afrika und seine Bewohner korrekt oder auch nur akzeptabel zu zeichnen. Die Wucht des Einspruchs verdankt sich dem Nachweis, dass die rassistischen Momente eines wie selbstverständlich kanonisierten Textes offenkundig sind. Das sei hier lediglich umrissen, und auch nur in Hinblick auf die bislang stark gemachten, vorteilhaften Züge.

1. Die Vaterfigur der modernen afrikanischen Literatur macht auf eine Reihe von Beleidigungen schwarzer Menschen aufmerksam. Ärgste Stelle: "Und zwischendurch mußte ich [Marlow] noch auf den Wilden aufpassen, der heizte. Er war ein veredeltes Exemplar; er konnte einen Kessel bedienen. Er arbeitete dort unter mir, und auf mein Wort, ihm zuzusehen war so possierlich, wie es der Anblick eines Hundes ist, der, mit Hosen und Federhut bekleidet, auf seinen Hinterbeinen geht." Den Philologeneinwand, dass eine literarische Figur spreche, nicht die Autor-Person, hebelt Achebe vorbeugend aus: Für einen Mentalitätsunterschied zwischen der einen und der anderen liefert die Erzählung keinen Anhaltspunkt. In unserem Zusammenhang ist festzuhalten, dass die ausfällige Bemerkung, wenn auch nicht der Syntax, so doch dem süffisanten Zungenschlag nach, vom deutschen Kongo-Fahrer hätte stammen können. Ein erstes Zeichen dafür, dass mentaliter neben Differenzen auch Gemeinsamkeiten bestanden.

2. Achebes Kritik, dass "Heart of Darkness" schwarze Menschen wiederholt als Kannibalen auftreten lässt, was dem Bedürfnis nach einem klaren othering zuzuschreiben sei ("Für Conrad ist es von äußerster Wichtigkeit, daß die Dinge an ihrem Ort sind"), lässt außer acht, dass die weißen "Pilger" als weitaus hemmungsloser charakterisiert werden. Eine Wertungssteuerung, die vom Einsatz des Kannibalismus-Motivs bei Frobenius Welten trennen und zumindest dagegen spricht, dass Conrad "durch und durch" Rassist war. Doch der Vorzug gegenüber dem ethnologischen Paralleltext wiegt wenig, verglichen mit einem Rückstand zum Bewusstsein zeitgenössischer Bildender Künstler, den Achebe mit Genuss hervorhebt. Ganz in der Nähe der Region, deren Einwohner Conrad durchgehend als Wilde bezeichnete, lebte mit den Fang ein Volk, dessen Skulpturen Picasso, Matisse und andere um 1905 als Meisterwerke zu schätzen lernten. Die Kunstfähigkeit schwarzer Menschen lag außerhalb der Vorstellungskraft Conrads, insoweit war er von der Einsicht in die Gleichwertigkeit der Kulturen weiter entfernt als andere.

3. Achebe zeigt, wie eng imagologischer Rassismus und Handlungsführung in "Heart of Darkness" zusammenhängen. Conrad fasste schwarze Menschen als die rückständigen Urverwandten der weißen auf, setzte voraus, dass die so genannten Naturvölker in frühen Stadien der Menschheitsgeschichte steckengeblieben sind, da ihnen jede kulturelle Dynamik fehle. Folglich heißt in der Logik der Erzählung den Kongo hochfahren, in die Vorzeit zu gelangen, wird Kurtz' Regression vom Dauerkontakt mit der Wildnis begünstigt. Dieser Teil der Kritik ist wohl ihr wichtigster, da er zu einem selbst für die Verehrer unhintergehbaren Schluss führt. Was an der Erzählung noch heute fasziniert, die nach und nach kristallisierende Botschaft vom dünnen Firnis der Zivilisation, ist untrennbar verkoppelt mit dem Topos europäischer Zivilisation, wonach das geografische Nebeneinander der Kulturen als ein historisches Nacheinander aufzufassen ist.

Eine im späten 19. Jahrhundert vom ethnologischen Evolutionismus verstärkte Vorstellung: Die Welt kennt nur einen Zeitstrahl, auf dem die einen Kulturen zurück, die anderen vorn liegen. Der universalistischen Zentralperspektive blieb bezeichnenderweise auch der junge Frobenius verhaftet, wie die Rede vom jüngeren und älteren Menschheitsbruder bezeugt. Obgleich sich die Kulturkreis-Lehre, weil auf Ausbreitung kultureller Einheiten im Raum abhebend, als deutscher Gegenentwurf zum angelsächsischen Evolutionismus verstand, löste auch sie sich nicht wirklich von dessen Prämisse. Die Gegenposition, der zufolge es verschiedene, selbständige und koexistierende Typen von Kulturen gibt, die sich nicht in eine Generallinie der Menschheitsentwicklung einfügen lassen, bezog Franz Boas, ein in die USA ausgewanderter Völkerkundler.

Und Conrad? Nach all dem noch von Hochliteratur sprechen? Ich meine schon, unter der Bedingung, dass man beide Blickachsen zusammenführt, das Vorzügliche und das wenig Vorzügliche sieht. Eine stereoskopische Sicht verdienen im Übrigen auch die späteren Werke des hier so gescholtenen Ethnologen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag greift passagenweise auf einen Artikel des Verfassers im "Diskussionsforum Postkoloniale Studien" zurück.