Mein Haus, meine Familie, mein Gewehr

Kyle Cassidy eröffnet mit seinem Bildband "Bewaffnetes Amerika" einen beeindruckenden Einblick in die Seele einer Nation

Von Micha WischniewskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Micha Wischniewski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Blick in die Ferne hat stets eine gewisse Unschärfe zur Folge: Details verschwimmen zugunsten eines vereinfachten Gesamteindruckes, in dem Nuancen bis zur Unkenntlichkeit verwischen oder gar umgedeutet werden. Verschärft wird dieses Phänomen in jenen Fällen, in denen das Objekt, dessen man ansichtig geworden ist, vor Ort zu den beiden am heißesten diskutierten Themen gehört, die die dortige Gesellschaft gegenwärtig bewegen. In der Tat stellen Waffenbesitz und Abtreibung die beiden Komplexe dar, über die die US-Bevölkerung am erbittertsten, polemischsten und unnachgiebigsten debattiert. Jenseits einer klaren Schwarz-Weiß-Aufteilung der Befürworter und Gegner, die mit einer Dämonisierung des jeweils anderen 'Lagers' einhergeht, wird die Diskussion selten geführt, und so nimmt es sich geradezu als kleines Wunder aus, was Kyle Cassidy unternommen und schließlich als Hochglanzbildband veröffentlicht hat: Zwei Jahre lang durchreiste er die USA von einer Küste zur anderen, besuchte Waffenbesitzer in ihren Wohnungen, und stellte jedem einzelnen die gleiche Frage: "Warum besitzen Sie Waffen?"

Das Ergebnis weiß auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu beeindrucken, denn sowohl als eigenständiges Werk als auch als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses 'funktioniert' "Bewaffnetes Amerika" ganz ausgezeichnet. Auf rein ästhetischer Ebene hat Cassidy einen gelungenen Porträtband geschaffen, der mit Fotos aufwarten kann, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen und ihn gekonnt charakterisieren. Gerade Cassidys Prämisse, die Porträtierten nicht herbei zu bitten, sondern sie in ihren eigenen vier Wänden zu besuchen, verleiht den so Abgelichteten eine persönliche Note, die im Falle einer 'normalen' Studioarbeit nie erreicht worden wäre. Gleichzeitig weist ein solches Vorgehen aber auch über das rein Künstlerische hinaus und macht deutlich, wie unzureichend es ist, in einem Land, in dem Schätzungen zufolge bis zu 50 Prozent der Haushalte mit Schusswaffen ausgerüstet sind, mit Stereotypen zu arbeiten. "Bewaffnetes Amerika" führt eindrücklich vor Augen, dass Waffenbesitz in den USA weder an die Ethnie noch an das soziale Milieu oder an eine bestimmte politische Überzeugung geknüpft ist, sondern dass es sich um ein Phänomen solch umfassender Verbreitung handelt, dass Versuche, es mittels äußerer Faktoren zu erklären, kaum zu aussagekräftigen Ergebnissen oder gar einer 'Zielgruppeneingrenzung' führen werden.

Das, was die in Cassidys Buch gezeigten Menschen eint, ist ihre - wie auch immer motivierte - Entscheidung, eine Waffe zu besitzen, und genau damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Nicht nur die Lebenswelten der Porträtierten weisen mitunter kaum, wenn nicht gar keine, Überschneidungen auf, auch in ihrem Verhältnis zu Waffen sind profunde Unterschiede auszumachen. So ist es bemerkenswert, dass sich die meisten der gezeigten Waffenbesitzer in eine von drei Kategorien einordnen lassen: Jene, die ihre Waffe voller Stolz präsentieren und sie (unter anderem) als Statussymbol wahrnehmen, jene mit einer relativ indifferenten Haltung, für die eine Pistole den gleichen Stellenwert wie ein Auto oder ein beliebiges anderes Werkzeug hat, und zu guter Letzt jene, die geradezu verschämt ihren Waffenbesitz zugeben und nicht umhinkönnen, ein wenig geniert zu wirken. Dem jeweiligen Verhältnis zur Waffe entspricht die Art und Weise ihrer Präsentation während der Portraitaufnahmen. Dabei ist allerdings festzuhalten, dass auch diese persönliche Beziehung zur eigenen Waffe - wie bereits der Waffenbesitz als solches - nicht dazu einlädt, Zerrbilder zu hofieren oder die eigenen (europäischen) Vorurteile bestätigt zu finden; zu bunt ist das Bild, zu heterogen sind die Menschen mitsamt ihrem Aussagen und Attitüden, als dass sie sich problemlos in den Setzkasten simpler Dichotomien einfügen ließen. Ebendiese Vielgestaltigkeit, dieses stete Widersetzen, das lieb gewonnene Stereotype unnachgiebig untergräbt, diese Aufrichtigkeit auch den Fotografierten gegenüber - kurz: dieser Mut, sich jenseits der bloßen Agitation zu bewegen und sich der Kultur der Simplifizierung zu verweigern, lässt Kyle Cassidys "Bewaffnetes Amerika" zu einem gleichermaßen aufschlussreichen wie aufrichtigen Blick in die Seele der USA werden.


Titelbild

Kyle Cassidy: Bewaffnetes Amerika. Waffenbesitzer und ihr Zuhause im Porträt.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Nico Laubisch.
Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2008.
111 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783896028105

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