Absicht und Gelegenheit

Ein Sammelband zu Verbrechen im Krieg

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Krieg führt, will töten. Gleichwohl handelt es sich in vielen Fällen um ein Töten nach Regeln: Seit langem versuchen die Beteiligten, Gewalt auch in dieser extremen Form des politischen Konflikts unter Kontrolle zu halten. Dieses Bestreben ist nur selten pazifistisch begründet. Vielmehr geht es aus wohlverstandenem Eigennutz der Parteien darum, eine vollständige Zerstörung zu verhindern und ein Zusammenleben auch nach dem Krieg zu ermöglichen.

Als Kriegsverbrechen galt lange, was den so etablierten Regeln widersprach; die Haager Landkriegsordnung von 1907 stellte dann einen ersten Versuch dar, das Erlaubte und Verbotene verbindlich festzuschreiben. Unklar bleibt bis heute, wie und vor allem von wem Verletzungen des Kriegsrechts zu ahnden sind. Dennoch: Grundsätzlich ist die Unterscheidung etabliert, dass im Krieg zwischen Staaten bestimmte Handlungen zulässig sind und andere Handlungen nicht.

Allerdings ist offensichtlich, dass sich die Akteure in der Praxis häufig nicht an diese Unterscheidung halten. Der Staatenkrieg ist in den letzten Jahrzehnten zur Ausnahme geworden. Mehr und mehr hat man es mit asymmetrischen Kriegen zu tun, in denen Partisanen eine technologisch weit überlegene Streitmacht unter Druck setzen. Die Antwort darauf kann in der Strategie bestehen, den Rückzugsraum der Partisanen zu vernichten. Dieser Rückzugsraum aber ist das ganze Land mitsamt seiner Bevölkerung, so dass sich die Kriegsführung vor allem gegen Zivilisten richtet. Zugespitzt wird die Situation noch dadurch, dass die Soldaten unter dem Dauerstress, ständig einen Angriff befürchten zu müssen, gewalttätiger reagieren als militärisch erforderlich.

Solche Verhältnisse, wie sie heute im Irak und gebietsweise in Afghanistan bestehen, lassen kaum Hoffnung auf eine Kriegsführung zu, in der in absehbarer Zeit Verbrechen seltener werden. An ihnen lässt sich exemplarisch das Begriffspaar erfassen, das Timm C. Richter in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Sammelbands zu "Krieg und Verbrechen" als grundlegend für die Analyse benennt: das Wechselverhältnis von Intention und Situation. Die Intention bezeichnet die strategische Entscheidung einer politischen oder militärischen Führung, Kriegsregeln in einem bestimmten Maß zu verletzen. Situation meint den Umgang der Ausführenden vor Ort mit den Vorgaben, die fast stets interpretationsfähig sind. Denkbar ist der Fall, dass der Kampf eine Zuspitzung erfährt, die zu einem zuvor nicht geplanten Verbrechen führt. Täter können einen verbrecherischen Befehl aus ideologischer Überzeugung oder Karrierehoffnung radikal auslegen, sie können aber auch das Mindestmaß dessen tun, was verlangt wurde, oder sogar weniger, wenn ihnen eine situationsbedingte Ausrede einfällt.

Nun könnte man einwenden, dass derlei Unterscheidungen spitzfindig sind und es den Ermordeten gleichgültig sein kann, ob ihnen ein zentral beschlossener Plan das Leben gekostet hat oder das Pech, einer besonders brutalen Kompanie begegnet zu sein. Freilich werden die Straf- und Gegenmaßnahmen je andere sein: Genügt es im zweiten Fall, Organisation und Ausbildung der Armee zu verbessern, muss man im ersten Fall überlegen, welcher Umgang mit der Staats- und Armeeführung möglich ist.

Dem Band liegt eine Konferenz zugrunde, die einen vergleichenden Blick auf Verbrechen in verschiedenen Kriegen erlauben sollte. Allerdings beziehen sich fast alle Beiträge auf Deutschland und den Zweiten Weltkrieg. Aus dem Rahmen fallen nur die Beiträge von Jens Thiel zu Deportationen belgischer Zivilisten durch die deutschen Besatzer im Ersten Weltkrieg, von Chungki Song zu Einsatz und Übergriffen koreanischer Bewacher in japanischen Kriegsgefangenenlagern im Zweiten Weltkrieg und von Thomas Speckmann zur Abgrenzung von Kombattanten und Nichtkombattanten in den "Neuen Kriegen" der Gegenwart. Klaus Jochen Arnold stellt Überlegungen zum Vergleich als historischer Erkenntniskategorie an, Frank Grelka vergleicht die Instrumentalisierung ukrainischer Nationalisten durch die deutschen Besatzer im Ersten und im Zweiten Weltkrieg.

Sebastian Weitkamp untersucht die Ermordung des kriegsgefangenen französischen Generals Mesny im Januar 1945, Florian Dierl deutsche Kriegsverbrechen auf Kreta. Alle anderen Beiträge haben den deutschen Krieg im Osten zum Thema, der von vornherein als Extrem eines Vernichtungskriegs geplant war. Die Führungen von Staat, SS und Wehrmacht unternahmen von Beginn an alles, um den Krieg zu brutalisieren. Auf der Ebene der Intention sind die zahlreichen analysierten Einzelfälle also kaum unterschieden.

Situativ ergeben sich freilich Differenzen. So zeigt Jörg Hasenclever anhand der drei Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete, die 1941/42 im Osten amtierten, dass es sehr wohl Handlungsspielräume gab. Folge war allerdings nur, dass die Wehrmacht in unterschiedlichem Ausmaß an der Ermordung von Juden beteiligt war, das Resultat des Völkermords aber war gleich. Die Dynamik von Intention und Situation lässt sich wohl besser anhand von Fällen untersuchen, in denen nicht von Beginn an der Wille zum Verbrechen da ist.

Nachteilig wirkt sich auch das Format der Aufsätze aus, die zum Teil mit Dissertationsprojekten und anderen größeren Arbeiten verbunden sind. Zwar erlauben die immerhin 23 Beiträge Blicke auf viele unterschiedliche Ereignisse, doch ist auf durchschnittlich etwa zehn Seiten der Raum zu knapp, die Umstände, die zu Verbrechen führten oder sie radikalisierten, überzeugend zu schildern. Dabei verlangte gerade ein Ansatz, der dem situativen Moment eine wichtige Rolle zuschreibt, eine Beschreibung möglichst vieler konkreter Begleitumstände der Kriegsverbrechen. So aber erfährt man wenig mehr als die Resultate, die man dann eben glauben muss. Möglicherweise stimmt die These von Martin Cüppers, dass das eine der beiden SS-Regimenter, die im August 1941 die Juden in zwei benachbarten Gebieten in der Sowjetunion ermorden sollten, dabei rücksichtsloser vorging als das andere - aus seiner Beschreibung allerdings geht das nicht hervor. Florian Dierl kann anhand verfügbarer Quellen Werdegang und Disposition des Hauptmanns Richard Sand nachzeichnen, der auf Kreta griechische Zivilisten ermorden ließ - in welcher konkreten Situation er am 12. und 13. November 1944 handelte, bleibt so vage, dass sich brauchbare Aussagen über die Dynamik von Intention und Situation nicht gewinnen lassen.

Ein abschließender Teil ist der Bestrafung von Kriegsverbrechen gewidmet. Das Fazit, soweit es die NS-Verbrecher betrifft, ist erwartungsgemäß ernüchternd. Alexa Stiller schildert, wie der Nürnberger Prozeß gegen die Verantwortlichen im Umkreis des Rasse- und Siedlungshauptamts der SS mangels Kenntnis von Verantwortlichkeiten und Organisationsstrukturen zu recht milden Urteilen führte. Matthias Schröder zeigt, wie sich deutschbaltische SS-Führer nach dem Krieg, in antikommunistischer Kontinuität, den Westalliierten zur Verfügung stellten und dafür Schutz vor einer ohnehin nicht übermäßig verfolgungswilligen Justiz erhielten.

So könnte man mit einer gewissen Erleichterung feststellen, dass heute ein internationaler Strafgerichtshof etabliert wird und mehr und mehr nicht allein Staaten in ihrer Immunität, sondern auch Völker und Menschen mit ihren Rechten als Subjekte des internationalen Rechts gesehen werden. Daniel Marc Segessers Beitrag zu Diskussionen, die bis 1945 über die Ahndung von Kriegsverbrechen geführt wurden, verweist auf eine frühe Phase dieser Entwicklung. Schon damals wurde diskutiert, ob nicht der Angriffskrieg selbst ein Verbrechen darstelle.

Leider ist nirgends im Band die Problematik einer Justiz diskutiert, die bis auf weiteres von den wirtschaftlich und militärisch mächtigsten Staaten finanziert wird. Vielleicht entwickelt sie künftig eine institutionelle Eigendynamik. In der näheren Zukunft aber dürfte als Aggressor gelten, wer in einen Konflikt mit dem Westen geraten ist. Mit den USA steht ohnehin der militärisch bei weitem stärkste Staat außerhalb der internationalen Jurisdiktion. "Kriegsverbrechen" geraten so in eine Doppelrolle. Einerseits gibt es sie, und die Leute, die nächstens deswegen angeklagt werden, dürften selten Mitleid verdienen. Andererseits wird der Vorwurf, Kriegsverbrecher zu sein, selbst zu einer Waffe im Krieg, die auf Delegitimierung zielt. Wenn der Staat als bestimmende Einheit des Völkerrechts an Bedeutung verliert, bringt das nicht nur Rechte für die Unterdrückten, sondern vor allem Handlungsspielräume für die Sieger, die über Recht und Unrecht entscheiden.

Leider fehlt dieser Aspekt in dem Band. Die Justiz kann Kriegsverbrechen nur mühsam aufarbeiten und, wie die neueste Geschichte zeigt, kaum je verhindern: Die Täter zielen mit ihren Verbrechen gerade auf eine Machtposition, die sie vor Verfolgung schützt.

Kontrolle ist wohl am ehesten mittels Medienmacht möglich, und auch das nur bei relativ schwachen demokratischen oder halbdemokratischen Staaten, die um ihren Ruf fürchten müssen. So agiert Israel außerordentlich zurückhaltend gegenüber palästinensischen Terroristen und unternahm Jugoslawien 1998/99 nur wenig gegen albanische Partisanen. Soviel Skrupel aber sind gefährlich - schließlich bombte die NATO 1999 die albanische UCK in die Lage, weite Teile des Kosovo ethnisch von Serben säubern zu können, und verfolgte dann die jugoslawischen Machthaber wegen Kriegsverbrechen, die sie wohl überwiegend tatsächlich veranlasst hatten.

Das Verhältnis von Krieg und Verbrechen ändert sich also. Wer einen Konflikt verliert, wird außerdem juristisch verfolgt, schlimmstenfalls aufgehängt wie Saddam Hussein. Das dürfte kaum die Bereitschaft zur Kapitulation fördern. Zweitens aber, das deutet Thomas Speckmann an, wird die Unterscheidung von Soldaten und Zivilisten in den "Neuen Kriegen" hinfällig. Das sprengt das bisherige Kriegsrecht. Man muss die Methoden der USA in Guantanamo nicht gutheißen - die Forderung von Menschenrechtsgruppen, die Häftlinge entweder als Kriegsgefangene oder als Straftäter zu behandeln, verfehlt jedoch das Problem. Man hat keine Soldaten einer Armee vor sich, mit der man irgendwann Frieden schließen könnte; mit wem sollte man verhandeln? Anders als Verbrecher, die ihrem Gewinnstreben oder kurzfristigen Impulsen folgen, sind religiöse Fanatiker auch nicht resozialisierbar: sie folgen ja der eigenen Moral. Wenn sie noch nichts getan haben, dann planen sie, bei bestem Gewissen, etwas zu tun. Ihnen entweder eine konkrete Tat zuzuordnen oder aber sie freizulassen, kann deshalb nicht die Alternative sein.

Das Verhältnis von Krieg und Verbrechen ist grundsätzlich neu zu bestimmen; Richters Sammelband liefert zu einem bestimmten und in vieler Hinsicht einzigartigen Krieg meist interessante Fallskizzen, die hier nicht alle gewürdigt werden konnten. Für eine systematische Reflexion darüber, was Kriegsverbrechen sind und wie Intention und Situation sich befördern oder hemmen, finden sich aber nur Anhaltspunkte.


Titelbild

Timm C. Richter (Hg.): Krieg und Verbrechen.
Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2006.
267 Seiten, 36,90 EUR.
ISBN-10: 3899750802
ISBN-13: 9783899750805

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