"Der Platz auf meinem Seile …"

Zum Tode Peter Rühmkorfs

Von Christian MaintzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Maintz

"Wir turnen in höchsten Höhen herum, / selbstredend und selbstreimend, / von einem Individuum / aus nichts als Worten träumend" - mit diesen suggestiven Versen beginnt Peter Rühmkorfs wohl bekanntestes Gedicht "Hochseil", 1975 in dem Band "Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich" erstmals erschienen. Der Tanz des Artisten in luftiger Höhe - "grad zwischen Freund Hein und Freund Heine" - ist eine Zentralmetapher des am 8. Juni im Alter von 78 Jahren gestorbenen, überragenden deutschen Nachkriegslyrikers. Sie charakterisiert sein Selbstverständnis als Autor in vielfältigen Konnotationen: die 'erhabene', aber auch exzentrische Position oberhalb der sozialen Normalität, den scheinbar leichthändig und -füßig, in Wahrheit jedoch mittels erheblicher Arbeitsanstrengung erzielten Illusionseffekt der Levitation - der Aufhebung von Erdenschwere, die Gefährdung durch künstlerische oder sehr reale Abstürze, nicht zuletzt auch die ästhetische Exklusivität ("Ich habe gute Weile, / der Platz auf meinem Seile / wird immer uneinnehmbar sein", heißt es selbstbewußt in "Variation auf ,Abendlied' von Matthias Claudius", einem anderen Rühmkorf'schen Hit.)

Trotz aller auch repräsentativen Züge von Leben und Werk ist Peter Rühmkorf in der deutschen Nachkriegsliteratur immer eine Ausnahmegestalt geblieben; zu keinem Zeitpunkt hätte man ihn als einen wirklich etablierten, "durchgesetzten" Schriftsteller betrachten können wie etwa seine Generations- und Weggefährten aus der Gruppe 47, Günter Grass, Martin Walser oder Hans Magnus Enzensberger. Für eine breite Leserschaft waren seine Gedichte und Essays, Dramen und Märchen (einen Roman hat er nie geschrieben) schlicht zu voraussetzungsreich, zu bildungsgesättigt. Andererseits dann aber auch wieder irritierend spöttisch, ironisch, ja drastisch-vulgär. Aus der Perspektive konservativer Zeitgenossen war der Satiriker und Polemiker Rühmkorf, der Adenauer-"Restauratorium", Springer-Presse und fortschreitende Ökonomisierung der deutschen Gesellschaft mit obsessiver Schärfe befehdete, ein höchst beunruhigender Geist. Für linke Revolutionäre wiederum war der Erotiker und Blumenfreund, der "affirmative" Poet Rühmkorf vielfach ein unsicherer Bundesgenosse.

"In meinen Kopf passen viele Widersprüche", überschrieb Rühmkorf denn auch einen seiner Aufsätze. Dieses Motto könnte über seinem Gesamtwerk stehen: Souverän verknüpft der Dichter traditionelle Paradoxien, so etwa diejenige zwischen Aufklärung und Sprachmagie, zwischen satirischer Kritik und hedonistischer Daseinsfeier, vor allem aber zwischen einer stupenden Leichtigkeit, auch Ironie und Komik einerseits - und einem tiefen, bekenntnishaften Ausdrucksernst andererseits. Eine weitere dialektische Spannung des Rühmkorf'schen Œuvres entsteht durch dessen dezidiert modernes, stark reflexives Bewusstsein - und seine großenteils traditionelle, altmeisterliche Form. Rühmkorf hat in einer Zeit, als dies stark verpönt war, am Reim, an gebundenen Formen, an Volksliedstrophen, Oden und Sonetten festgehalten; in seinem letzte Gedichtband "Paradiesvogelschiß", wenige Wochen vor seinem Krebstod erschienen, steht der programmatische Vierzeiler: "Der Jambus hätt sich ausgequatscht? / Mitnichten, wiederhol ihn! / Und ist der Stiefel durchgelatscht, / besohl ihn!"

Rühmkorfs Lyrik (wie auch seine Prosa) ist enorm vielstimmig. Barockdichtung und Expressionismus, Klopstock, Heine, Bellmann, Benn und Ringelnatz - die Reihe seiner Vorbilder und Inspiratoren ist lang und durchaus heterogen. Zu den literarischen Leitfiguren kommen unterschiedlichste sprachliche Stillagen vom Hoch- und Beschwörungston bis zum flapsigen Alltagsjargon. Das Wunder der Rühmkorf'schen Poesie besteht jedoch darin, dass er sein Material nie im Sinne bloßer Zitatmontagen verwendet; vielmehr eignet er es sich in hohem Maße an, bringt es auf eminent persönliche Weise neu zum Klingen. Auch Rühmkorfs explizite Parodien beziehungsweise "Variationen" - etwa auf Hölderlin, Claudius oder Eichendorff - sind nie äußerliche Imitationen, sondern bilden höchst inspirierte Dialoge zwischen einem Sänger des 20. Jahrhunderts und seinen Vorläufern aus früheren Epochen.

Rühmkorfs Werk, das den Geist aufgeweckter Gegenwartsanalyse mit der archaischen Schönheit des Gesangs verbindet, ist singulär in der deutschen Nachkriegsliteratur. Der Essayist und Märchendichter, vor allem natürlich der Lyriker Rühmkorf verlängert die erlauchte Ahnenreihe eminenter nationaler Sprachkünstler in die Jetztzeit. Sein Kollege und Jahrgangsgenosse Enzensberger sah in ihm denn auch den "größten lebenden Vers-Virtuosen Deutschlands". Rühmkorf selbst hat sich demgegenüber oft als einen Solitär innerhalb der literarischen Landschaft empfunden, hat mangelnde Resonanz und Komplizenschaft beklagt, sah auch keine Nachfolger auf den von ihm eingeschlagenen Wegen.

Wenn die Zeichen der Zeit nicht trügen, steht es aber keineswegs schlecht um die zukünftige Rühmkorf-Rezeption. "Postmoderne" Trends in Literaturkritik und -wissenschaft haben avantgardistische Dogmen weithin gelockert. Der Erfolg eines komischen Lyrikers wie Robert Gernhardt kann hier als bemerkenswertes Symptom für einen Paradigmenwechsel gesehen werden. Für viele jüngere Autoren ist Rühmkorf mittlerweile ein wichtiger Inspirator, wie etwa Matthias Politycki in seinem Nachruf bezeugt. Als vielleicht beständigste Qualität des Rühmkorf'schen Werkes könnte sich die Tatsache erweisen, dass hier - bei aller formalen Stilisierung und Virtuosität - noch einmal ein wahrhaftes Subjekt, ein authentisches Ich "ersungen" wird. In einem seiner letzten Interviews sagt Rühmkorf über seinen früh verstorbenen Freund und Kombattanten Werner Riegel und sich selbst: "Wichtig war uns, daß nicht das lyrische Ich bei uns herrschte, sondern das waren immer wir."