Der manchmal komische Ernst

Dirk von Petersdorffs Roman "Lebensanfang" zeigt, was Literatur kann

Von Ole PetrasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ole Petras

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gnade der späten Rezension äußert sich in der Möglichkeit, es besser zu wissen - in diesem Fall: ein Buch besser zu finden - als viele der teils hämischen Kritiken nahelegen. So lobt Rolf-Bernhard Essig in der "Zeit" an Dirk von Petersdorffs Romandebüt "Lebensanfang" vor allem den "manchmal komischen Ernst" der Darstellung und das "Wagnis des Gefühligen", bemerkt dann aber doch das "kitschnah ehrliche Pathos eines stolzen Vaters." Anja Hirsch begründet in der "FAZ" ihre Empfehlung zur "genauen Lektüre" mit dem Eindruck, dass "diese persönliche Erzählung an manchen Stellen aus den Angeln" gerate. Meike Fessman muss in der "SZ" die "niedrigsten Instinkte des Kritikers" unterdrücken: "den Reflex spöttischer Abwehr." Jörg Magenau schließlich fühlt sich in der "taz" "bestürzend an weibliche Betroffenheitsprosa aus den 70er-Jahren" erinnert.

"Lebensanfang", so der Tenor, liefere eine schöne Beschreibung von Vaterschaft, sei aber insgesamt far too much. Nun mag ein jeder seine Schamgrenze ausloten; der allen Rezensionen implizite Vorwurf der Unterkomplexität lässt sich durch einen Wechsel der Perspektive leicht aushebeln.

Nimmt man den Untertitel der Erzählung wörtlich und bezieht die "wahre Geschichte" auf ihren Autor, so tritt dieser - zumindest für alle, die nicht das Glück haben, ihn persönlich zu kennen - zuerst als Schreiber in Erscheinung. Als ein Schreiber von Gedichten, als Verfasser eines Essaybandes ("Verlorene Kämpfe"), als Promovent und Habilitant, der sich mit dem "Selbstverständnis romantischer Intellektueller" und der "Ich-Konstitution in der Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts" auseinandergesetzt hat. Schon hier also erste Hinweise auf eine vielleicht problematische Beziehung zum Subjekt.

Aber es geht weiter. Dirk von Petersdorffs erster, 1992 bei S. Fischer erschienener Gedichtband trägt den für ein Debüt ungewöhnlichen Titel "Wie es weitergeht" und beginnt mit einem Gedicht, das "Vom Ende" überschrieben ist. Das Schreiben, so suggerieren die Titel, ist weniger Schöpfung als ein mutwilliges Anhalten der um alles zirkulierenden Schrift. "I am what I am" lautet dementsprechend das Fazit der Bespiegelung des Selbst, das gar nicht anders kann, als sich zur Schnittstelle verschiedener Texte zu erklären, for better or worse. Das zweite Werk des Kleistpreisträgers baut diese Unsicherheit aus; das Ich wird zur "Zeitlösung". Petersdorffs vielleicht schönster Band, "Bekenntnisse und Postkarten" aus dem Jahr 1999, führt im Windschatten Augustinus' und Rousseaus das postmoderne Patchwork, die "westliche Beliebigkeit" an ihren Ursprung zurück. Selbst das Subjekt ist geworden, legt dieser Band nahe, es wurde erdacht, und wird verschwinden. "Junge, du bist ein Text, bring dich in Ordnung!" ruft die "Erdmutter, die große Rezensentin" das lyrische Ich in dem einleitenden Prosagedicht an.

"Die Teufel in Arezzo" von 2004 grundieren die Konsequenzen dieser Überlegung. Das praktische Wissen um die unzähligen Stätten der Kultur, aus denen sich, so formulierte es Roland Barthes, der Text wie ein Gewebe zusammensetzt, führt den Schreiber an den Rande der - allerdings wortreich dokumentierten - Sprachlosigkeit. Die fröhliche Unbeschwertheit, mit der Petersdorff Clemens Brentano und die Talking Heads, die Sesamstraße und Hegel ins Syntagma pflanzte, weicht einem melancholischen Blick auf die implodierte Moderne. "Das war eins irgendeinem Mann groß", ließe sich mit Gottfried Benn einwerfen, "und hieß auch Rausch und Heimat."

In diesem Sinn lässt sich der Titel der vorliegenden Erzählung nicht nur auf die Geburt der Zwillinge Max und Luise beziehen, sondern bezeichnet die Reinkarnation des Lesers, der, eben weil das Bewusstsein seinen blinden Fleck nicht kennt, durch die Augen seiner Kinder erstmals einen weniger abgeklärten Blick auf Welt werfen kann. Im ausgestellten stupor mundi regeneriert sich die verlorene Nähe von Wort und Sache, von Zeichen und Referent. Die fortwährende Uneigentlichkeit des Sprechens, die Ironie und Metaphorik, verdrängt der ganz altmodische Versuch, Sachverhalte zu begreifen.

"Die Stille ist des Ungestümen Herr" - ein Merksatz aus dem zuvor als esoterisch abgetanen Tao-Te-King wird dem Erzähler zur konkreten Handlungsanweisung: "Also musste ich still sein, wenn Max und Luise schrien." Dieses Verfahren, philosophische Texte auf ihre lebenspraktische Anwendbarkeit zu überprüfen, entfaltet einen nicht geringen Witz: "Ich las weiter in den Büchern über Elternschaft, über das Leben mit Kindern. Nietzsche hatte von den Verwandlungen des Menschen gesprochen." Gerade durch die pointierte und somit distanzierte Verschriftlichung von Texten, die plötzlich aus der grauen Theorie ins Leben treten, entpuppt sich die Kulturgeschichte als dringend benötigter Wissensfundus. Selbst Jürgen Habermas' mitunter kryptische Einlassungen zur Diskursethik entfalten ein Potential an Trost, eben weil sie, ganz im Gegensatz zum gestressten Vater, "an die Möglichkeit des Friedens und der Verständigung glauben."

Die vorgeschlagene Lesart, das Werk in seinem Kontext zu sehen, und vor allem die Textualität als bestimmendes Merkmal zu betrachten, ist gleichwohl nicht unproblematisch. Denn um die neugewonnene Dechiffrierlust nicht als elitäres Unterfangen zu denunzieren, greift Petersdorff neben Volksliedern und Kinderbüchern auch solche Bestände des kulturellen Wissen auf, die sich der Komplexität konsequent verweigern. Hierzu zählen Miroslav Klose und die Popband "Wir sind Helden" ebenso wie die E-Mails der Schwägerin, welche einer Seifenoper von Großstadtleben entsprungen zu sein scheinen.

"Lebensanfang" ist immer dort am stärksten, wo kleine Gesten als Teile großer Zusammenhänge begriffen werden: Die Datierung einer Eiche weist diese als Friedensbaum aus; beim Anblick einer Statue befremdet die Art und Weise, in der Maria ihr Kind hält; eine Ärztin sagt: "Da ist Leben." Hier wird die Geschichte "wahr", nicht weil es sich um das Tagebuch eines neurotischen Germanisten handelt, sondern weil die erzählte Welt der unseren derart ähnlich sieht, dass wir uns darin verlieren.

"Lebensanfang" ist, wenn man den Bogen so weit zu spannen bereit ist, auch das Symptom einer Zeit, die der alles relativierenden Zersplitterung in Sonderdiskurse und Teilsysteme angesichts faktischer Konflikte zu entgehen sucht, ohne die postmoderne Sendung mit dem lauwarmen Bade auszuschütten. Petersdorff wagt einen Neuanfang in seiner Poetik, deren weiterer Verlauf und Richtung abzuwarten bleibt. Religion ist immer eine Lösung - wer weiß.


Titelbild

Dirk von Petersdorff: Lebensanfang. Eine wahre Geschichte.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
170 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783406563768

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