Plötzlich auf dem Brikettberg: Schönheit

Die Gedichte Wolfgang Hilbigs bilden den Auftakt zur Werkausgabe

Von Christian RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der jüngst im Fischer-Verlag erschienene Band "Gedichte" eröffnet eine auf sieben Bände angelegte Ausgabe der Werke des 2007 verstorbenen Büchner-Preisträgers Wolfgang Hilbig. Er versammelt zum einen die zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtbände: Das Debüt "abwesenheit" (1979), den Band "stimme stimme" (1983) - jene einzige Sammlung Hilbigs, welche auch in der DDR erschien -, sowie die Bände "die versprengung" (1986), "Bilder vom Erzählen" (2001) sowie in wechselnden Kontexten, etwa in Zeitschriften und Anthologien, publizierte Gedichte. Zum anderen macht die Ausgabe über 150 Gedichte aus dem Nachlass des in der sächsischen Kleinstadt Meuselwitz geborenen Dichters zugänglich. Hierzu zählen auch ganz frühe Texte aus der ersten Hälfte der 1960er-Jahre, in denen Hilbig lediglich für die Schublade schrieb, denen also eine immense Bedeutung zukommt, um Aufschlüsse über die literarische Entwicklung Hilbigs zu gewinnen und diese chronologisch nachzuvollziehen.

Wie Uwe Kolbe zurecht in seinem kundigen Nachwort vermerkt, wurde Hilbig allzu oft mit dem Etikett des schreibenden Arbeiters beziehungsweise arbeitenden Schriftstellers versehen, und auf seine Sozialisation in der DDR reduziert, und natürlich führt diese Spur nicht völlig ins Leere, spielt die Biografie Hilbigs doch in seinen Gedichten eine zentrale Rolle: das Aufwachsen in der sächsischen Kleinstadt beim Großvater, einem Bergmann, "des lesens und schreibens unkundig", dessen polnische Flüche durch den "wüsten Garten am Tagebau" hallen ("die gewichte"), die Arbeitswelt der Tagebauen und Kesselhäuser; all das sind zentrale Motive der Gedichte: "die bagger versinken im schlamm telegraphendrähte / schwimmen im sand in den verödeten tagebauen / kilometerweit geht der wind unangefochten / schnee die züge haben verspätung sturm die häuser / heulen auf und wieder sonne daß der rauch / nicht aus den kaminen kann" ("das Meer in Sachsen"). Den entworfenen topografischen Räumen der Gedichte haftet jedoch stets etwas zeitenthobenes an - "ich weiß das meer kommt wieder nach sachsen / es verschlingt die arche / stürzt den ararat" - und auch dort, wo Hilbig sich auf konkrete Gegenwarten oder Vergangenheiten bezieht, stellen seine Texte weit mehr als ein bloßes 'Anschreiben' gegen die Arbeits- und Alltagsrealität im DDR-Sozialismus dar. Ebenso zentral ist etwa der Verweis auf eine ältere, nicht überwundene Vergangenheit: "so wie alles alte und überwundene / sich in mir sammelt und gärt // dringt in mich ein durch / den sprachlosen mund / und gebärdet sich / in mir // der beißende rauch und die asche / der krematorien" ("grober rückfall"). Ebenso wie in Hilbigs Prosa, etwa im Roman "Das Provisorium" oder in der Erzählung "Die Angst vor Beethoven", bilden auch in vielen Gedichten Hilbigs ("Reisefieber", "schwarzäther blutäther", "Auschwitz-Prozeß", "rauch") konkrete wie auch chiffrenartige Verweise auf den Holocaust ein in der Hilbig-Rezeption oft vernachlässigtes Zentrum. Das Fortwirken der Vergangenheit und die Zerstörungen, die diese in der Sprache hinterlassen hat, bezog Hilbig stets auch auf jenen deutschen Teilstaat der die Verantwortung für die Vergangenheit allzu gerne in den Westen externalisierte.

Kolbe stellt Hilbig auf überzeugende Weise in eine Tradition des Einzelgängertums und die Reaktion des schreibenden Ichs auf die Umgebung ist der Gang in die Isolation: "ich bin der unbekannt letzte der plötzlich / seitab wegtritt der verschwinden kann / ohne spürbare Spur und der / euch doch gesehen hat und gefühlt" heißt es in "Rechenschaft". Beinahe statisch werden schreibendes Ich und menschliche Gemeinschaft immer wieder gegenüber gestellt. Hilbig stellt sich explizit in eine dichterische Tradition des Einzelnen und in eine literarische Ahnenreihe von Autoren, auf welche sich seine Gedichte immer wieder intertextuell beziehen und der Dichter der Antike ebenso angehören, wie Vertreter der deutschen Romantik (E.T.A. Hoffmann, Novalis) der klassischen Moderne (Ezra Pound, Marcel Proust, Arthur Rimbaud) und des Surrealismus (Lautréamont).

Entgegen zahlreichen Kollegen ist Hilbig der Bezug auf diese Tradition nicht durch Elternhaus, Schule oder Universität frei Haus geliefert worden, sie musste sich mühsam selbst erarbeitet, erschrieben und gegen das Außen verteidigt werden. Der Bezug auf die kanonische Tradition ist insofern auch nichts weniger als ein spielerischer Umgang: Hilbigs Intertextualität hat wenig von den ironischen Vorzeichen der Postmoderne, sie ist keine heiter-intellektuelle Schnitzeljagd. Die literarischen Fixpunkte, etwa der Bezug auf die legendäre 'Definition' des Surrealismus, stellen bei Hilbig nicht Bildungsgut, sondern Überlebensgut dar, das einzig einen Ausweg aus der Tristesse der Umgebung weisen kann: "im düstern Kesselhaus im licht / rußiger lampen plötzlich auf dem brikettberg / saß ein grüner fasan / ein prächtiger clown [...] herrlicher und schöner als ein surrealistischer regenschirm auf einer nähmaschine wie er dort saß" ("Episode").

Einziges Manko der Ausgabe sind die Anmerkungen des Kommentars. Wie aus der Nachbemerkung hervorgeht, ist der Band als Leseausgabe konzipiert worden, so dass die Zahl der Anmerkungen bewusst auf das Notwendigste beschränkt wurde, eine Grundsatzentscheidung, die sicherlich mit dafür verantwortlich ist, dass die Hilbig-Werkausgabe zu einem sehr fairen Preis angeboten werden kann. Auch unter Berücksichtigung dieser (im Band ausdrücklich eingeräumten) Prämisse ist der Kommentar über weite Strecken jedoch äußerst dürftig: zu vielen Gedichten finden sich mit Ausnahme der Jahreszahl überhaupt keine Angaben, und die wenigen Anmerkungen bieten oft genug lediglich Allgemeingut: "Hermann Hesse - dt. Schriftsteller (1877 Calw - 1962 Montagnola/Tessin)", so die 'Anmerkungen' zum Gedicht "Eine Antwort". Auf ähnliche Weise verzeichnet der Kommentar allgemein bekannte Autoren wie E.A. Poe oder Novalis. Wie gesagt: die Ausgabe behauptet nicht, einen umfassenden kritischen Apparat zu liefern, aber es stellt sich schon die Frage, für welche Art Leser der Kommentar in dieser Form überhaupt konzipiert wurde. Gibt es den Typus ,Leser moderner Lyrik', der sich eine Werkausgabe kauft und dann - zumal in Zeiten von Wikipedia - 'Ein-Satz-Erklärungen' zu allgemeinen Begriffen wie 'Todesstreifen', 'Olymp', 'Hades' oder 'Rotes Meer' braucht? Auch wenn einige Textvarianten zu Gedichten genannt werden und der ein oder andere Hinweis dann doch spezifischer ist: es wäre sehr zu hoffen, dass dieses nicht der Maßstab für die noch ausstehenden Bände der Werkausgabe ist.

Trotz dieser Kritik ist der Band jedem zu empfehlen, der sich einen der interessantesten deutschen Lyriker der letzten Jahrzehnte erschließen will: eindrucksvoll zeigt sich Hilbigs Variationsbreite an lyrischen Formen: Sonette wechseln mit Liedformen, Oden und Gedichten in freien Versen. Auch die bisher unveröffentlichten Texte bleiben in ihrer Qualität - mit Ausnahme einiger früher Gedichte - nicht hinter den bisher publizierten Texten zurück: es findet keine 'Resteverwertung' statt, so dass sich die Anschaffung auch für denjenigen lohnt, der die früher publizierten Gedichtbände schon besitzt.

In den letzten Jahren wurde Hilbig wohl eher als ausführlich mit Preisen und euphorischen Rezensionen ausgestatteter Romancier denn als Lyriker wahrgenommen, und Hilbigs Nachwende-Roman "Ich" zählte sicherlich zu den sperrigsten Vertretern des Kanons der Roman-Bibliothek der "Süddeutschen Zeitung": Der Auftakt der Werkausgabe macht deutlich, dass eine vergleichbare (Blatt)Sammlung von hundert Gedichten der zweiten Jahrhunderthälfte mindestens einen Hilbig enthalten müsste.


Titelbild

Wolfgang Hilbig: Werke in 7 Bänden. Band I: Gedichte.
Herausgegeben von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
538 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783100336415

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