Alle haben mitgemacht und keiner war dabei

Ein kommentierter Band versammelt "Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938"

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im November 1961 stellte das österreichische Fernsehen seinen Zuschauern erstmals den "Herrn Karl" vor. Mit dieser Figur schufen der einzigartige Schauspieler, Schriftsteller und Kabarettist Helmut Qualtinger und Carl Merz eine Art Durchschnittsösterreicher in der Wiener Variante, einen Kleinbürger, bestens geeignet, das opportunistische Mitläufertum all derer zu attackieren, die während der Nazizeit immer mitgemacht haben, ohne jemals dabei gewesen zu sein.

Eine der Episoden, die der "Herr Karl" in seiner unnachahmlich Lebenserzählung zum Besten gibt, ist die Sache "im 38'ger Jahr" mit dem "Jud im Gemeindehaus, a gewisser Tennenbaum... sonst a netter Mensch..." Jetzt aber musste er die Straße schrubben "...net er allan... de anderen Juden eh aa... hab i ihn hing 'führt, daß ers aufwischt... und der Hausmaaster hat zuag 'schaut und hat g'lacht... er war immer bei aner Hetz dabei..." Und später sagt der "Herr Karl" noch: "Dabei hab ich ja gar nichts davon g'habt... Andere, mein Lieber, de ham si g'sund g'stessn... Existenzen wurden damals aufgebaut... G'schäfte arisiert, Häuser... Kinos! I hab nur an Juden g'führt. I war ein Opfer. Andere san reich worden. I war a Idealist...". Nach der Ausstrahlung gab es empörte Reaktionen. Der "Herr Karl" hatte ins Schwarze getroffen - mitten in die bequeme österreichische Nachkriegslüge vom ersten Opfer Hitlers.

Hans Safrian und Hans Werk zitieren in ihrer kommentierten Dokumentensammlung über den alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938 die vollständige Passage aus dem "Herrn Karl". Denn was Qualtinger und Merz bereits 1961 thematisierten, blieb Jahrzehnte noch in Österreich verdrängt und wurde abgestritten. Auch der vorliegende Dokumentenband erregte 1988, als er erstmals erschien, großes mediales Aufsehen und das immerhin zu einem Zeitpunkt, wie die Herausgeber bemerken, "als breitere Auseinandersetzungen über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Österreich stattfanden." Nun liegt eine Neuausgabe des Bandes vor, die ergänzt wurde mit neuen Dokumenten aus der Wiener Ministerialbürokratie.

Die Aktion, zu der "Herr Karl" den Juden Tennenbaum "führte", nannte sich "Reibaktion". Eine in den ersten Tagen nach dem "Anschluss" Österreichs beliebte Form der Erniedrigung der eben noch als normale Nachbarn sich fühlenden jüdischen Bürger Wiens. Auf dem Cover des Bandes sieht man drei Menschen bei der "Reibaktion". Sie knien auf der Straße, neben sich einen Putzeimer, in den Händen ein Putzlappen, um, wie es ein Zeitzeuge schildert, "die mit Ölfarbe auf den Strassenbelag gemalten Parolen für die unterdrückte Volksabstimmung [die sogenannen ,Schuschnigg-Parolen', HGL] abzureiben". Einer schaut trotz dieser Demütigung selbstbewusst in die Kamera und es gehört zu den tröstenden Geschichten angesichts dieser Unmenschlichkeiten, die am Beginn des großen Mordens stehen, dass dieser Junge nach Amerika auswandern konnte. 1988 erhielt er zufällig das Buch, und auf dem Einbandfoto konnte er sich und seine Mutter identifizieren. Als 18-jähriger war er damals mit seiner Mutter zur "Reibaktion" abgeholt worden.

Die schockierenden Erlebnisse mit einer hasserfüllten, jede Demütigung der Juden johlend quittierenden Menschenmenge trieben viele Wiener Juden aus dem Land. Flugs bemächtigten sich Profiteure des Eigentums der Entrechteten. "Wilde Arisierungen" waren während dieser Phase des unorganisierten Terrors an der Tagesordnung. So genannte "wilde Kommissare" übernahmen die jüdischen Betriebe und Geschäfte derjenigen, die noch in Wien geblieben waren, oder ,in Schutzhaft' genommen wurden, und nutzten die pseudoformale Funktion zur persönlichen Bereicherung. Die versammelten Dokumente geben einen ebenso erschreckenden wie klarstellenden Eindruck von dem "unordentlichen Terror" und der "unorganisierten Umverteilung", mit dem in Wien ein tief sitzender antisemitischer Hass zum Ausdruck kam.

Die Herausgeber weisen darauf hin, dass diese Form des ,wilden' Antisemitismus in Wien besonders ausgeprägt war und ein trauriges ,Alleinstellungsmerkmal' Wiens im ,Reich' darstellte. Zugleich drohte aber dieser antisemitische Aufruhr außer Kontrolle zu geraten. Deshalb war es den neuen Machthabern daran gelegen, die antisemitischen Impulse in kontrollierte und organisierte Formen zu lenken. Aus diesen, mit vielen Dokumenten belegten Anstrengungen der Naziherren, wurde das "Wiener Modell", das zum Vorbild für die rechtliche Diskriminierung und Enteignung der Juden auch im ,Altreich' wurde.

Das mit dem "Wiener Modell" einhergehende Ende der ,wilden' Übergriffe verschaffte den verbliebenen Juden eine Atempause und gab Anlass zu neuer Hoffnung. Es mutet aus heutiger Sicht besonders tragisch an, dass diese Erwartungen sich sehr oft an Gauleiter Josef Bürckel knüpften. Der Band versammelt Eingaben und Bittgesuche gepeinigter jüdischer Bürger, die dem Gauleiter ihre Sorgen mitteilten in der verzweifelten Hoffnung, er würde für "Gerechtigkeit" sorgen wollen. Eine ganz andere Vorstellung von "Gerechtigkeit" hatten jene denunziatorischen Briefschreiber, die sich von den Behörden Hilfe in eigener Sache erhofften. Tatsächlich wurden in den Monaten bis zum November-Progrom auch ,Umverteilungen' vorgenommen, etwa indem die "wilden Kommissare" abgesetzt wurden und der Betrieb oder das Geschäft ,verdienten Parteigenossen' zugeteilt wurde. Liest man dergleichen ,Eingaben' und ,Bittgesuche' so erschüttert die diesen Briefen zugrundeliegende untertänige, opportunistische und denunziatorische Haltung bis heute. Eben jene, die die Figur "Herr Karl" den Österreichern 1961 erstmals spiegelte.


Titelbild

Hans Safrian / Hans Witek: Und keiner war dabei. Dokumentationen des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938.
Picus Verlag, Wien 2008.
332 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783854526308

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