Sprachkröses Nachkriegstheater

Die Andere Bibliothek ruft Robert Neumanns Trümmerroman zurück ins Gedächtnis

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Namen hat man schon irgendwo gehört: Robert Neumann. Dennoch will einem kein Titel einfallen, den man von dem sprachgewitzten Womanizer aus Wien gelesen hat.

Nun steht einer Bekanntschaft mit dem seit 1933 im Londoner Exil lebenden, in der englischen Sprache heimisch gewordenen Neumann nichts mehr im Wege: Die Andere Bibliothek hat sich seiner angenommen und den einzigen österreichischen Trümmerroman, die beachtenswerten "Kinder von Wien", liebevoll gestaltet und neu ediert.

1927 wies kein Geringerer als Thomas Mann auf Neumanns Titel "Mit fremden Federn" als das angeblich beste Buch des Jahres hin. In dieser Persiflagensammlung verriss der Sohn eines jüdischen Bankiers Modeschriftsteller seiner Zeit. Das Buch, heute großteils so unverständlich wie seine Opfer vergessen, verschaffte dem schandmäuligen Wiener Dandy mit hohem Frauenverschleiß Eingang nicht nur in die lokale Szene. Doch bereits der Folgeband der "Federn", "Unter falscher Flagge", brachte Neumann 1933 in Nazi-Deutschland den Schimpfnamen "Literaturjud" ein und kam auf den Index. Bis zur Ausrufung des austrofaschistischen Ständestaats hielt es der Essayist, in die eine oder andere Ehe, Vaterschaft und Fernamouren verstrickt, in Österreich aus. Nachdem sich von der Kunst des klugen Bonmots nicht mehr leben ließ, überredete man ihn, die Biografie einer zwielichtigen Persönlichkeit zu schreiben, des Waffenschiebers Basil Zaharoff. Diesen späteren Spion in britischen Diensten hatte der Autor einmal persönlich kennengelernt. Doch die Geschichte erwies sich schließlich als zu brisant, kam erst nur auf Deutsch und Französisch heraus, und gereichte dem Autor, der nun seine Zelte in England aufgeschlagen hatte, sogar zum Nachteil: Als antibritischer Ausländer eingestuft, der darüber hinaus in wilder Ehe lebte, internierte man ihn kurz, bis er sich in England niederlassen konnte. Nach einem Intermezzo in der Schweiz übersiedelte Neumann ganz nach London, nahm im Lauf weniger Jahre die fremde Sprache an und wechselte das Metier: Aus dem Literatur- und Sprachkritiker nach Karl Kraus' Wiener Schule wurde ein anglo-amerikanischer Romancier, der schon in den nächsten Jahren einige Erfolge verbuchen konnte.

Nach seinem viel beachteteten Palästina-Auswanderer-Roman "By the Rivers of Babylon" schrieb er 1946, im Lauf nur weniger Monate, unter den Eindrücken der Nachkriegsrealität in den Trümmerstädten Europas, "The Children of Vienna". In England und Amerika verstand man den Roman als Stimme der Verzweifelten aus den Ruinen der Verlierer und rezensierte ihn wohlwollend. In Wien dagegen hat man die 1948 von Neumanns damaliger Frau besorgte deutsche Übersetzung sogleich verrissen. Man warf dem Buch Hässlichkeit vor: sprachliche, moralische, inhaltliche. Die Zeitung "Neues Österreich" bezeichnete Neumanns Einblick in die Zerstörung als eine "Überfülle an Widerwärtigem" und ein "zynisches Kaleidoskop" dessen, was man lieber ausgeblendet hätte.

Dieses (Todes-)Urteil hat lang davon abgehalten, sich mit den "Kindern von Wien" zu beschäftigen: Den Briten war das Thema auf Dauer nicht englisch genug, den Wienern passte die "abwegige, abstoßende, unappetitliche" Sprache nicht: obendrein war der Schauplatz nicht so beschrieben, wie man sich an diesem Ort ein neues Image geben wollte. Immerhin ging es um Perspektiven des Neuanfangs, das aus dem Boden zu stampfende Wirtschaftswunder, an das man glauben (machen) wollte.

Und in der Tat: Neumann errichtet kein Gedankengebäude auf einem Plot-Grundriss. Er lässt tief in den Abgrund des Bombentrichters, unter einen Schutthaufen mit Menschenschicksalen blicken: In der Un-Sprache der Ungeduldeten, Hergelaufenen und Halbangepassten verständigt sich in einer Kellerruine unter Trümmern, die einmal eine multikulturelle Metropole in Mitteleuropa gewesen sein muss, eine Handvoll Kinder. In einem Konglomerat aus Hochdeutsch, Wienerisch, Rotwelsch, Polnisch, Jiddisch und Brocken aus Sprachen der Besatzungsarmeen, vor allem Russisch und Amerikanisch, gelingt ihnen - und hier liegt das optimistische Element des Romans - das Einverständnis, zu welchem die Generation davor - Täter, Mitläufer, Untätige - unfähig ist. Heiß begehrtes und letztlich auch schicksalsträchtiges Herzstück des Kellerlochs ist eine unbeschadete Kloschüssel, mit dem Luxus einer Wasserspülung ausgestattet. Der Protagonist hat den Abort zu seinem Büro ernannt: Einerseits leidet der Bursche an Durchfall, andererseits zeigt uns der Autor mit diesem Motiv, dass es ihm ums möglichst hygienische Entsorgen menschlichen Abraums geht.

Der Keller des zerbombten Hauses befindet sich "in der Nähe der Sophienkirche", die es in Wien nicht gibt; auch die topografischen Namen "Schwarzplatz" und "Latzelhof" wird man vergebens auf dem Stadtplan suchen: Im Grunde könnten die "Kinder von Wien" auch "Kinder von Irgendwo" oder "Kinder Europas" heißen. Man kennt sie aus Edgar Hilsenraths Schieber-Berlin und Wolfgang Borcherts "Nachts schlafen die Ratten doch": Sie haben keine Namen, es sei denn, selbst ausgedachte oder ihnen angedichtete Schimpfnamen: Jid nennt sich der lebendige und überlebenslustige Überlebende eines KZs, 13 Jahre alt, der einmal auf den mehrsilbigen Doppelnamen Jizchok Jiddelbaum hörte und alle durch seine Bildungswut irritiert. Goy nennt er anerkennend seinen Freund, Überbleibsel oder Ausreißer eines Kinderverschickungslagers - oder besser gesagt Opfer der Heirats- und Kinderverschickungswut seiner leiblichen Mutter; Goy wollte Fleischhacker werden, hat es in Ermangelung dauerhafter Aufenthaltsorte und wegen fehlendem Frischfleisch aber nicht geschafft. Dann gibt es die Namensvetterin der Urmutter, Ewa, eine kerngesunde Prostituierte, aus Polen kommend, wo die Frauen durch die Nazis zu Prostituierten erniedrigt wurden. Sie wurde vom eigenen Vater, einem Briefträger mit Liebe zur Uniform, zu Besserem, nämlich einem Aufstieg in den Grafenstand samt Pelzhut, bestimmt. Und dann ist da noch ihre Freundin Ate, die zwar Adeltraut heißt, sich aber anders nennt, damit das allzu Deutsche im Namen nicht auffällt, wenngleich es ihrem vagen mythologischen Dafürhalten nach sogar noch teutonischer ist. Ate war daheim in Halle stets die beste Schülerin, liebte Hitler so sehr, dass sie ihm die eigenen Eltern opferte und stieg für die führertreue Denunziation in der Hierarchie des BDM nach oben. Nun hält sie die alten Ideale immer noch hoch, gegen die Besatzer klandestin, unter Freunden, das heißt im Keller, offen. In ihrer Überlebensumgebung sieht es ihr keiner nach, und so kann sie vor Jid und den anderen über Juden und andere Volksfeinde lästern, soviel sie will. Parolen und Flüche gelten in der Schicksalsgemeinschaft der Überlebenden, die sich auch vor den Erwachsenen in die Ruine des Generalshauses verkrochen haben, nichts. Neben den Großen gibt es noch die beiden Kleinen unter den Straßenkindern: den goldigen Lockenkopf Curls, Sohn des Hausherrn, der seiner Mutter, der Gräfin, harrt, auf dass in ein neues Leben aufgebrochen werde, eine Art Little Lord unter den Kindern; und das gespenstische Kindl, ein Mädchen mit Blähbauch und Zündholzbeinchen, das als Maskottchen im Kinderwagen mitgeschoben wird, bis es sang- und klanglos sein Leben aushaucht wie vor ihr der kleine Bruder.

Mit Gelegenheitsdiebstahl - Jid, der gern Chirurg wäre, ist ein begnadeter Langfinger -, Zuhälterei gegen Tschicks (Zigaretten auf Wienerisch) - der Spezialität von Goy, Raub(mord) und Prostitution hält man sich über Wasser und sich die Erwachsenen vom Leibe, die den Kindern mit gestempelten Papieren, nicht mehr zeitgemäßer Autorität und nackter Gemeinheit ihren Lebensraum nehmen wollen. Unter ihnen sind Wendehälse, Ex-Nazis, KZ-Heimkehrer, Schwarzmarktopportunisten und scheinheilige Geistliche.

Die Protagonisten kommen miteinander aus und mit der Welt um sie zurecht, da sie Schlimmeres erfahren haben und mit allen Wassern gewaschen sind. Die Erwachsenen sind die Welt draußen, die lächerlich wirkt und vom Keller aus - wie in Tolstois Geschichte vom armen Schuster - vielfach nur durch ihr Schuhwerk und ihre Stimmen wahrnehmbar ist. Dieses Mittels bedient sich Neumann nicht zuletzt, um die Entmachtung und Entmannung der Autoritäten darzustellen: Sie sind vom alten Bezug abgeschnitten, ihres angestammten Ranges beschnitten, von der Geschichte zusammengestutzt.

Wenn man den Keller, in dem die Kinder hausen und in den sie von den Anstrengungen des Überlebens-Organisierens heimkehren, als Bühne nimmt - denn das ganze Buch wirkt wie ein Theaterstück -, so stellen darin die Erwachsenen und ihre zerstörte, kaputt gemachte Welt bloß die Objekte der Mauerschau, wie sie die pragmatischen Kinder vornehmen. Nur dass die Mauerschau eine Hinauf-, statt einer Herunterschau ist und jene Froschperspektive keine naiven Schelme, sondern mit allen Wassern gewaschene Allzu-Erwachsene vornehmen.

Dem entspricht auch die tiefere Botschaft, die uns Neumann mit seiner Parabel vermitteln wird: Der Engel, der in dieser Diebeshöhle auftaucht, die Kinder zu retten beziehungsweise ins Verlies der Waisen hinabsteigt, aus dem diese vertrieben werden sollen, hat die Gestalt von Reverend Smith, einem schwarzen Militärgeistlichen. Aus seinem Mund kommt der Rat: Steht einer auf einer Seifenkiste und predigt, kommt er ungeschoren davon, wenn er rechtzeitig die Seiten wechselt. Und wenn man im Abgrund der Underdogs lebt, sei das Licht oben ohnehin so fern, dass sich die feinen Unterschiede erst viel später zur Debatte stellen.

Eine eigenartige Botschaft. Wollte Neumann dem Kleinen Mann damit das Phrasendreschen und -verdreschen verzeihen, Kriegs- und Volksverhetzung als allzu menschlich relativieren? Die Geschichte - die auch mit dem Bezug auf Samuel Becketts "Warten auf Godot" kokettiert - geht schlecht aus: Der Reverend, der anfangs nichtsahnend selbst dem Unschuldslamm ähnelt, für das er die Kinder hält, wird von den ausgekochten Gören ausgenutzt, um dann, im bilateralen Annäherungsprozess, alles Aufgesetzte, seinen kirchlich-demokratisch-karitativen Auftrag, abzulegen. Im selben Ausmaß rücken die Kinder ihre wahren Geschichten heraus. Für einen Jeep und Passierscheine stiehlt und betrügt der Gutmensch sogar, nur um die Kinderbande in die sichere Schweiz führen zu können. Er will ihr Noah sein. Doch kleine Verzögerungen - das Warten auf die BDM-Schickse Ate, ein platter Reifen - lassen eintreten, was der aufgeklärte Jid, alter ego Neumanns, ohnehin nicht glauben konnte: Es gibt kein Happy End. Und so bringt ausgerechnet ein Kollege des Reverends, ein weißer Militärgeistlicher, den Retter im letzten Augenblick zu Fall, indem er ihn zu Unrecht der Unzucht mit Ewa beschuldigt, auf die er selbst - ein Präservativ in seiner Brieftasche beweist es - ein Auge geworfen hat.

Im Vorwort verrät uns der Autor, was mit den Überlebenden der Kinderbande, hätten sie's geschafft, weiter passiert sein könnte. Dennoch ist "Die Kinder von Wien" schwarz vor Pessimismus: Niemand hat etwas gelernt, Vertrauen erscheint als Dummheit und der Gute wird vom Bösen ausgeschaltet, ohne dass dieser sich wehren könnte.

Eine Haltung, die dem Wiederaufbaugeist und neu erstarkten Gottvertrauen, den Durchhalteparolen Österreichs im Limbus der Besatzungszeit, komplett widerstrebte. Man wollte Neumanns Roman nicht haben.

Just mit diesem Exilautor lässt sich allerdings eine empfindliche Lücke in der österreichischen Literatur schließen: Denn das Schutt-Wien der direkten Nachkriegsjahre, aus der Kulisse des Films "Der dritte Mann" ein hinlänglich bekanntes Terrain, wird hierorts in keiner Trümmerliteratur beschrieben. Im Unterschied zu Deutschland, wo man, vor allem mittels der von der amerikanischen Besatzung geförderten Gattung Kurzgeschichte, Anblick und Lebensgefühl der Ruinenstädte literarisch verarbeitet hat, fehlt in der Literatur Österreichs die unmittelbare Betrachtung der Lage ganz. Hier erfolgte die Aufarbeitung des Krieges aus großer Entfernung, durch die Augen von späten Heimkehrern - mit den versprengten Stimmen von Helden, die fremd bleiben, weil sie beobachten, aufdecken und die neu errichtete Ordnung in Frage stellen. So schlägt dem Protagonisten von Hans Leberts großartigem Roman "Die Wolfshaut", der erst 1960 erschien, der Hass der (Dorf-)Gesellschaft entgegen. Auch sein Roman "Der Feuerkreis", in dem es innerfamiliär um Täterschaft und Kriegsschuld geht, wurde von Zeitgenossen totgeschwiegen und ist heute so gut wie unbekannt. Und Gerhard Fritsch, der in "Fasching" auf ähnliche Weise das Scheitern eines Kriegsschuld entlarvenden Protagonisten an der Schweigensmauer eines Dorfes zeigt, wagte sich mit seinem Buch gar erst 1967 an die Öffentlichkeit. In "Fasching" rettet ein Wehrmachtsdeserteur in Frauenkleidern eine Kleinstadt vor dem sinnlosen Opfer für den "Endsieg". Als er 12 Jahre später aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, verhöhnen die Bürger - nun im Steirermäntelchen statt in braunen Uniformen - ihn als Transvestiten und lynchen ihn beinahe. Man hat dem erfolgreichen Autor und Funktionär Fritsch ("Moos auf den Steinen", 1956) diesen und den folgenden Roman "Katzenmusik" nicht verziehen; er male zu schwarz, hieß es. Als der bisexuelle Fritsch sich erhängte, trug er Frauenkleider, was den Beweis für seine 'Abartigkeit' lieferte, die pessimistische Sicht auf die Mitmenschen gleich mit eingeschlossen.

Aufgrund der Qualität seines Werk unantastbar war freilich die Position des geschichtsverweigernden Historikers Heimito von Doderer, heute als Marcel Proust Österreichs gewürdigt, dessen "Strudlhofstiege" soeben ein Déjà-Lu als Hörspiel erfährt: Der Post-Impressionist Doderer trat erst im letzten Lebensviertel an die Öffentlichkeit - das heißt eine Generation älter als die Vorgenannten; mit einem Werk, in welchem es um den Einfluss geht, den private Vorkommnisse auf das Leben haben gegen die auch die Tatsache nicht ankommt, dass eine ganze Generation ihre Jugendzeit in den Dienst des Ersten und ihr Mannesalter dem Zweiten Weltkrieg stellen musste.

Soweit zur Bedenkzeit, die man in Österreich unter dem Schock des Krieges brauchte, bis man im Roman daraus Lehren zog. Unmittelbar nach der Kapitulation, als Neumann in London in kurzer Zeit "The Children of Vienna" schrieb, klaffte in Wien - im Unterschied zu Deutschland - vorerst in der Prosa eine empfindliche Lücke - sieht man von Memoiren ab. In den Notzeiten wurde nur Lyrik gedruckt: neben Zeitschriften wie Otto Basils "Der Plan" gab es Publikationsmöglichkeiten, vor allem unter der Ägide der Kirche oder mit Förderung einzelner Gönner (zum Beispiel Christine Lavant, für die sich das Ehepaar Teuffenbach engagierte). Es erschienen Gedichtbände wie Paul Celans Erstlingsband (beim Mathematikbuchverlag Sexl und mit so vielen Druckfehlern, dass ihn der Dichter gleich wieder einstampfen ließ). Edgar Jené und Albert Paris Gütersloh machten an der Kunstakademie mit dem Surrealismus bekannt. Immerhin war Österreich beim ersten Treffen der Gruppe 47 mit drei Personen vertreten, den einzigen Damen Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann sowie dem aus Paris angereisten Celan. Seit 1952 betrieb das remigrierte Inszenier-Genie Hans Weigel mit Hilfe des von den Amerikanern finanzierten Senders "Rot-Weiß-Rot" intensiv Nachwuchsförderung und konnte indirekt eine neue Literaturszene etablieren, mit jungen, frischen Stimmen.

Dahingegen wichen die arrivierten Autoren der österreichischen Literatur, die sich mit dem nationalsozialistischen Schriftstellerverband hatten arrangieren müssen und schon von der austrofaschistischen Regierung Dollfuß gewohnt waren, heiße Eisen zu umgehen, nach dem Krieg auf gänzlich unverfängliche Themen aus. Die heimische Kirche bewies damals ein großes Herz für Abbitte, selbst wenn es mehr um Wille zum Frieden als um echte Reue ging. Seit 1953 veranstaltete das Land Steiermark Dichtertreffen auf Burg Pürgg, um ehemalige Nazi-Dichter und die neue Generation österreichischer Schriftsteller zusammen zu bringen.

Hierzulande herrschte bis zur Waldheim-Affäre das im Staatsvertrag 1955 von russischer Seite zementierte Common Agreement von Österreich als erstem Opfer der Naziaggressoren 1938, und so stellte man sich der Täterrolle nicht - zumindest nicht in der Prosa.

Das selbe Material wie in Deutschland: Scherbenhaufen, Schutt, Heimkehr in eine Landschaft von Bombentrichtern - vermochte in Österreichern kein Gestaltungsbedürfnis zu wecken. Die literarische Produktion setzt dort später ein, in der Bildenden Kunst und der Lyrik mit surrealen Impulsen und abstrakter, in Erzählungen und Romanen erst nach langjähriger Aufarbeitung, in Form von Kritik am neu genannten Aufschwung. Diese Literatur wurde vom Publikum schlecht aufgenommen und war bald von den Ladentischen verschwunden. Die österreichischen Autoren Thomas Bernhard, Robert Menasse und Elfriede Jelinek machten sich für die Verleugneten stark und haben dafür gesorgt, dass man Fritsch und Lebert heute wieder zu lesen bekommt.

Auch dem Exil-Österreicher Robert Neumann hat man seine Literatur nicht gedankt. Seine eigenhändige Übersetzung seines Trümmerromans von 1974, ergänzt um die Fotografien von Ernst Haas, eines Österreichers, der mit den Amerikanern ins kaputte Wien einzog, erhält durch die vorliegende Neuauflage eine zweite Chance, in der österreichischen Literatur auf den rechten Platz gerückt zu werden.


Titelbild

Robert Neumann: Die Kinder von Wien. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
384 Seiten, 26,50 EUR.
ISBN-13: 9783821862002

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch