Mutter ist an allem schuld

Roman Roceks Biografie Nikolaus Lenaus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Biografien boomen. So kann es kaum verwundern, dass selbst über einem weniger bekannten Literaten des 19. Jahrhunderts wie Nikolaus Lenau nicht nur eine, sondern innerhalb weniger Jahre gleich zwei Biographien geschrieben wurden. Nur drei Jahre nach Michael Ritters 2002 unter dem Titel "Zeit des Herbstes" erschienener Lebensbeschreibung des Dichters ließ Roman Rocek die seine unter dem Titel "Dämonie des Biedermeiers" folgen, ohne allerdings das Buch seines Vorgängers auch nur mit einem einzigen Wort zu würdigen.

Zwar charakterisiert Rocek die Vita seines Protagonisten im Untertitel ganz konventionell als "Lebenstragödie", doch möchte er gerade den "düsteren Schleier der Melancholie und [des] Weltschmerz[es]" lüften, den das 20. Jahrhundert "aus sentimentalem Missverstehen" und um "die elementare Wucht" von Lenaus Freiheitsdrang "zu bemänteln" um den Dichter und seine Lyrik gehängt habe. Denn kein anderer österreichischer Klassiker, versichert Roman Rocek, sei "derart konsequent darum bemüht" gewesen, "die ins Zwielicht gerutschten Triebkräfte ihrer Epoche wieder aufzuhellen und so deren Zwänge und Ideologien stärker hervortreten zu lassen." So sei es also an ihm selbst, "unserem Dichter jene Monografie zu erarbeiten, die seinem Rang entspricht." Hierzu dient ihm nicht zuletzt eine mehr als 100 Seiten starke, außergewöhnlich gründliche Darstellung von Lenaus nur wenige Jahre umfassenden Amerika-Aufenthalt. Erwähnenswert sind hier vor allem die zahlreichen beigefügten Landschaftsstiche meist aus dem Archiv des Autors.

Neben einigen kleineren Biologismen, die Rocek etwa von "Nikis angeborener Listigkeit" sprechen lassen, fallen vor allem die immer wiederkehrenden Schuldzuweisungen an Lenaus Mutter ins Auge. Ein ums andere Mal exkulpiert Rocek die von ihm durchaus nicht verschwiegenen Unarten des erwachsenen Lenau, indem er sie ihrer Erziehung anlastet, was ja durchaus nicht immer ganz falsch sein muss, sich bei Rocek jedoch zum misogynen Klischee auswächst, das besagt, Mütter seien eben an allem schuld. Sicher spielte Lenaus "Bevorzugung" gegenüber den Schwestern eine Rolle dabei, dass er "allmählich eigensinnig, ja herrschsüchtig" wurde. Doch wurden um 19. Jahrhundert so ziemlich alle Söhne ihren Schwestern gegenüber bevorzugt, ohne dass sie alle in späteren Jahren Lenaus negative Eigenschaften geteilt hätten. Überhaupt macht Rocek die "Wurzeln" von Lenaus "psychische[r] Störung [...] vor allem im Verhalten der dominanten, überbetreuenden Mutter" aus. "Zeit seines Lebens" werde "die Mutterimago ihn daher nicht nur auf der infantil-narzißtischen Entwicklungsstufe festhalten, sondern ihn immer wieder dazu antreiben, alles, was ihm Liebe und Befriedigung spenden könnte, im nächsten Augenblick wieder zu zerstören." Zudem hätten ihre "Erziehungsfehler" zu Lenaus "Größenwahn" geführt und seine "emotionelle Labilität" sei "zum Großteil von der Inkonstanz der Mutter, vor allem von ihrer Bereitschaft geprägt [...], augenblicklich - und zugegeben recht wirkungsvoll - zu polarisieren."

Darin tritt nicht nur Lenaus "starke Fixierung auf die Mutter" zutage, sondern ebenso die des Buchs.


Titelbild

Roman Rocek: Dämonie des Biedermeier. Nikolaus Lenaus Lebenstragödie.
Böhlau Verlag, Wien 2006.
398 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3205993691
ISBN-13: 9783205993698

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