Witwenstand ist Wehestand

Britta-Juliane Kruse präsentiert die Kulturgeschichte des Witwenstandes in Spätmittelalter und Früher Neuzeit

Von Pauline PuppelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pauline Puppel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihrer interdisziplinären Habilitation legt Britta-Juliane Kruse eine Kulturgeschichte des Witwenstands vor. Witwen bildeten in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft einen sozialen Stand, der von den Zeitgenossen in normativen Konzepten konturiert wurde. Die hier erstmals als Textgruppe analysierten Schriften sowie unterschiedliche Abbildungen und Gemälde dokumentieren das zunehmende Interesse der Zeitgenossen an der sozialen Gruppe. Die breite Quellenbasis, die Lehrdialoge, Gebetbücher, Traktate, Sendbriefe, Selbstzeugnisse, Leichenpredigten und landessprachliche Kodizes umfasst, ist sowohl handschriftlich als auch gedruckt überliefert. Es handelt sich einerseits um Quellen, die bisher nahezu unbekannt waren und daher in der Forschung kaum wahrgenommen wurden sowie andererseits um Quellen, die bekannt waren, aber bislang nicht in dieser Zusammenschau interpretiert wurden. Insbesondere die frühneuzeitliche Gebets- und Erbauungsliteratur wird hier erstmals aus literaturwissenschaftlicher Perspektive untersucht. Da zahlreiche Quellen nur sehr schwer zugänglich sind, gibt die Autorin einen gelungenen Überblick über den Inhalt der in den ersten Kapiteln berücksichtigten Texte. Im Anhang finden sich darüber hinaus Regesten der im dritten Kapitel vorgestellten Witwenspiegel.

Im ersten Teil der Arbeit werden zunächst anhand von laiendidaktischen Traktaten Verhaltensregeln für Witwen im Spätmittelalter und im Folgenden aus der Zeit zwischen 1500 und 1720 publizierte Trostschriften und Gebetbücher für die Frage nach dem gottgefälligen Leben von Witwen nach der Reformation vorgestellt. Zentral ist die Textgattung der "Spiegel". Im dritten Kapitel analysiert Kruse mehrere Witwenspiegel, die als Multiplikatoren des Normensystems aufgefasst werden. Das vierte Kapitel ist der Untersuchung von Paul Jacob Marpergers Traktat "Abbildung einer betrübten und wieder getrösteten Witwe" gewidmet. Kruse geht an diesem Beispiel detailliert auf die unterschiedlichen Formen der Witwenversorgung ein. Die Möglichkeiten als verwitwete Frau für den eigenen Lebensunterhalt aufzukommen, zeigt Kruse im sechsten Kapitel auf. Hier stellt sie berufliche Perspektiven und Beschränkungen der Berufstätigkeit vor. Im fünften Kapitel erweitert sie die Analyse der an Witwen adressierten Texte um eine mikrohistorische Untersuchung der Lebenssituation von verwitweten Frauen in der Reichsstadt Nürnberg.

Bei der Analyse archivisch überlieferter Urkunden, Akten und Amtsbücher ist für sie die Frage nach den verborgenen Regeln einer vergangenen Welt erkenntnisleitend. Ihr Ergebnis hätte die Autorin durch die Thesen der 2006 publizierten kulturhistorischen Studie von Gesa Ingendahl über Witwen in Ravensburg ergänzen können.

Kruse ermittelt im Archiv zahlreiche Selbstzeugnisse, die die Rekonstruktion der Biografien der Schwestern Behaim, Magdalena Paumgartner und Katharina Teschler/Tucher, ermöglichen. Die Briefe von Magdalena werden gesondert im siebten Kapitel vorgestellt. Stellvertretend für ähnliche Lebensläufe geben diese narrativen Quellen Einblick in die sozialen Netzwerke und Handlungszusammenhänge sowie in spezifische Strategien und Formen zur Stilisierung der Lebensumstände bürgerlicher Frauen und Witwen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Kruse betont insbesondere die Stiftungspraxis von und für Witwen. Im achten Kapitel werden die verschiedenen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stiftungen wie Almosen, Seelhäuser, Witwensitze und Bildungsstiftungen umfassend erläutert. Zur Thematik von Fürsorge und Versorgung gehört auch der Nachweis der Bedürftigkeit. Im abschließenden neunten Kapitel wendet sich Kruse der Textgattung "Bittgesuch" zu, die am Beispiel der Nürnberger Organisation von Armen- und Witwenunterstützung interpretiert werden.

Obwohl auch Schriften von Adeligen und die adeligen Witwen gewidmeten Schriften in die Untersuchung einbezogen wurden, wird diese ständische Gruppierung ebenso ausgeklammert wie die bäuerlichen Witwen. Nur im Zusammenhang mit dem Traktat des Kameralisten Marperger kommt die Versorgung gemäß ihrer Standeszugehörigkeit knapp zur Sprache. Für das Leben und die normativen Lebensentwürfe bürgerlicher Witwen allerdings löst die transdisziplinär angelegte Studie den im Titel formulierten Anspruch voll ein: Kruse hat eine gut lesbare Kulturgeschichte der Witwen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit vorgelegt, die für Literatur-, Kunst- und Geschichtswissenschaften neue grundlegende Erkenntnisse liefert.


Titelbild

Britta Kruse: Witwen. Kulturgeschichte eines Standes in Spätmittelalter und Früher Neuzeit.
De Gruyter, Berlin 2007.
768 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 3110189267

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