Auf der Suche nach einer Heimat

Die bewegende Autobiografie der Jesidin Gülnaz Beyaz

Von Levin RöderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Levin Röder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im August 2007 explodierten in den nordirakischen Bergdörfern El Khatanijah und El Adnanijah in der Nähe der Stadt Sindschar, etwa 120 Kilometer westlich von Mossul, mehrere mit Sprengstoff beladene Tanklastwagen. Dem Unglück fielen über fünfhundert Menschen zum Opfer. Die Dörfer gehören zu den letzten Enklaven einer alten kurdischen Religionsgemeinschaft: den Jesiden. In ihrer kurdischen Heimat seit Jahrhunderten verfolgt, haben sich die schätzungsweise 600.000 Jesiden in das Grenzgebiet zwischen Irak, Iran, Syrien und der Türkei zurückgezogen. Aufgrund staatlicher Sanktionen flohen sie Anfang der 1980er-Jahre aus der Türkei vor allem nach Deutschland. Hier leben seither 60.000 Menschen jesidischer Religionszugehörigkeit - weitgehend unbehelligt und unbemerkt.

Aufsehen erregte dagegen ein Vorfall im Jahr 2003: Zwei jesidische Kurden stehen vor dem Bielefelder Landgericht. Mit zweiundzwanzig Schüssen hatte einer der beiden jungen Männer einen entfernten Verwandten niedergeschossen, der zuvor an einem Anschlag auf seinen Onkel beteiligt gewesen war. Das Motiv: "Blutrache" - als Sühne für eine Ehrverletzung. Was die Gesetze des kurdischen Familienclans verlangen, löst in der deutschen Öffentlichkeit einen Schock aus. Erst jetzt bemerkt sie, was da für Menschen in ihrer Mitte leben - und verurteilt sie pauschal: Die Medien stempeln sie zu Barbaren ab, die Richter urteilen ohne Kenntnis der kulturellen Hintergründe: "heimtückischer Mord".

Was die Bluttat auslöste, davon war in der öffentlichen Darstellung keine Rede: Eine jesidische Kurdin, Unternehmerin und sechsfache Mutter, hatte sich von ihrem Mann getrennt. Vollzieht die deutsche Justiz die Scheidung als Verwaltungsakt, löst die Trennung der Frau von ihrem Mann (wohlgemerkt nicht umgekehrt) in der kurdischen Kultur einen mitunter blutigen Mechanismus aus. Wie es dazu kommen konnte, schildert die Betroffene in dem Buch "Mein Leben im Schatten der Blutrache" nun selbst. Hilfestellung leisteten ihr der Journalist und Autobiografiker Ralf Pasch und die Autorin Katrin Rohnstock, die mit ihrem Berliner Unternehmen Rohnstock Biografien seit zehn Jahren Autobiografien für Privatpersonen und Firmengeschichten aufschreibt. Sie erarbeiteten die Geschichte der Gülnaz Beyaz in jahrelanger Kleinarbeit, recherchierten zur bis dato kaum erforschten jesidischen Religion, kristallisierten die Geschichten heraus und legen nun dieses Buch vor, dass sich spannender liest als so mancher Krimi. Mit viel Einfühlungsvermögen und erzählerischem Geschick ist es den Autoren gelungen, eine Brücke zwischen Orient und Okzident zu schlagen und den Leser für die fremde Kultur zu sensibilisieren.

Gülnaz wird im unzugänglichen Hochland Anatoliens, im Osten der Türkei, an der syrischen Grenze geboren. Hier wächst sie auf, konfrontiert mit dem Hass der muslimischen Mehrheit auf die jesidischen "Teufelsanbeter". Aus der befremdlichen Umgebung ihrer Heimat flieht die Familie in die Fremde nach Deutschland. Hier darf Gülnaz weder am christlichen Religionsunterricht teilnehmen, noch im Badeanzug eine Schwimmhalle betreten. Als sie es gegen den Willen ihres Vaters dennoch tut, meldet er sie kurzerhand von der Schule ab. Der Konflikt spitzt sich zu, als Gülnaz sich - gleich ihrer Schwester - weigert, den in der Türkei inhaftierten Cousin zu ehelichen. Er eskaliert, als sie einen jungen Iraker heiratet, den der Vater als Bräutigam nicht akzeptiert. Der vermeintliche Ausbruch - ihr Mann ist in Deutschland aufgewachsen, wirkt moderner und offener - entpuppt sich als Illusion. Nach der Geburt von sechs Kindern und einer Karriere als Immobilienhändlerin, Fahrlehrerin und Betreiberin mehrerer Fahrschulen, die ihr Mann permanent und zuweilen brutal hintertreibt, wagt sie die Trennung - auf eigene Faust.

In einer Gemeinschaft, in der die Frau nicht einmal allein auf die Straße gehen darf, ist das ein Schlag mitten ins Gesicht - eine schwere Ehrverletzung. Die Familie des Ehemanns schmiedet Rachepläne. Der traditionelle Familienrat - eine Schlichtungsinstanz - versagt. Der Krieg bricht offen aus, als ein Verwandter von Gülnaz' Ehemann, um dessen verletzte Ehre wiederherzustellen, auf offener Straße ihren Bruder erschießen will. Weil der eine Schutzweste trägt, überlebt er den Anschlag schwer verletzt. Die Täter werden von den deutschen Richtern mangels Beweisen freigesprochen. Ihren Höhepunkt findet die Tragödie in dem Gegenschlag, zu dem der archaische Fluch der Heyf, wie die Blutrache auf Kurdisch heißt, Gülnaz' Familie "verpflichtet". Ihr Bruder tötet daraufhin einen entfernten Verwandten von Gülnaz' Exmann - er schießt ein ganzes Magazin leer. Das Bielefelder Landgericht verurteilt ihn und einen zweiten Bruder, der jegliche Beteiligung an der Tat abstreitet, zu lebenslangen Haftstrafen. Gülnaz und weitere Familienmitglieder werden vorübergehend unter dem Verdacht inhaftiert, die Tat angestiftet zu haben.

Doch Gülnaz gibt nicht auf. Weiterer Anfeindungen und vereitelter Anschläge zum Trotz hat sie von vorn begonnen, baute erneut eine Fahrschule auf, heute sind es bereits zwei. Und sie hat den Mut gefunden, ihre Geschichte zu erzählen, deren ganz besonderer Wert darin liegt, uns einen Einblick in die fremde Welt der Jesiden zu gewähren, die mitten unter uns leben.


Titelbild

Ralf Pasch / Kathrin Rohnstock: Mein Leben im Schatten der Blutrache. Die Geschichte der Gülnaz Beyaz.
dtv Verlag, München 2008.
240 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783423344807

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