Die Logik des Intimen

Kafkas Leben und Welt - Über Neuerscheinungen zum 125. Geburtstag des Prager Autors

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den jüngsten Zukunftsvisionen unserer Tage gehört das "Lebensaufzeichnungs-Interface" - eine Minikamera in einer Glaskugel, die man als Anhänger tragen kann. Im Minutentakt kann so das eigene Leben festgehalten werden. Franz Kafka mit seiner Faszination für technische Neuerungen hätte sich zumindest in bestimmten Phasen brennend für dieses Gerät interessiert. Immerhin "erfand" er schon im Januar 1913 in einem Brief an seine Verlobte Felice Bauer ganz nebenbei den Anrufbeantworter - also fast ein halbes Jahrhundert vor dem Japaner Kazuo Hashimoto. Kafka wäre begeistert gewesen, hätte er Felice solch eine Kamera umhängen können: In ihren Briefen konnte sie ihm gar nicht ausführlich genug ihre kleine Angestelltenwelt in Berlin beschreiben, so gierig war ihr Prager Verehrer, sich in ihr Leben imaginativ verlieren zu können, aus sicherer Distanz, versteht sich.

Sein eigenes Dasein und Schaffen erschien ihm bekanntlich viel weniger dokumentierenswert. Niemand weiß, wie viele seiner Manuskripte er vernichtet hat, und eindeutig war auch die Verfügung des Versicherungsjuristen Dr. Franz Kafka: Nach seinem Tod sollte sein Freund Max Brod den schriftlichen Nachlass, darunter seine drei Romane, "restlos und ungelesen verbrennen". Dass spätere Generationen sich noch für seine alltäglichsten Spuren interessieren würden, hätte er sich wohl selbst in seinen schlimmsten Albträumen nicht ausmalen können.

So findet man in Hartmut Binders "Kafkas Welt", einer schwergewichtigen, mit 1200 Abbildungen opulent gestalteten, Kafkas Hang zum Sich-Kleinmachen souverän ignorierenden "Lebenschronik in Bildern", nicht nur jedes Café, in dem der Autor einst saß, jede Wohnung und jeden ihm in Sanatorien über den Weg gelaufenen Kurgast. Sondern auch "Fiffi", einen kleinen Papierflieger, den Kafka 1910 seiner Lieblingsschwester Ottla schickte. Und seine Haarbürste aus dem letzten Lebensjahr.

An Umfang und begleitenden Kommentaren übertrifft Binders Bildband Klaus Wagenbachs Standardwerk "Franz Kafka - Bilder aus seinem Leben", das jetzt aus Anlass des 125. Geburtstages des Autors in einer erweiterten Neuausgabe vorliegt, bei weitem. Lücken enthält es freilich ebenfalls. So fehlt Michal Mareš, der den jungen Kafka einst zu Versammlungen tschechischer Anarchisten einlud. Während Wagenbach, der für seine Entdeckung des "linken" Kafka schon in den Fünfzigern nicht zuletzt von Binder heftig kritisiert wurde, neben Mareš auch Aufnahmen von Demonstrationen in der explosiven Multikultimetropole an der Moldau präsentiert, dominieren bei Binder eher düster-romantische Stadtansichten. Das "magische" Prag mit seinen finsteren Gassen mag der Sehnsuchtsort heutiger Kafka-Exegeten und -Leser sein - Kafka selbst träumte ein Leben lang von Berlin. Die Geschichte seiner allzu lange unerfüllt gebliebenen Sehnsucht nach der Hauptstadt der Moderne erzählt Hans-Gerd Koch, Mitherausgeber der Kritischen Ausgabe, in einem überaus anregenden, reich bebilderten Bändchen.

Darin widerlegt Koch die Vorstellung, der Autor habe sich allein aufgrund seiner familiären Verstrickungen nicht von "Mütterchen" Prag befreien können - ein Klischee, das nun von Louis Begley widerbelebt wird: Kafka habe nicht einmal den Versuch gemacht, aus dem doppelten Gefängnis von Elternhaus und Versicherungsanstalt auszubrechen, weil ihm "diese Lebensweise paradoxerweise am besten passte". Begleys wohl primär für ein amerikanisches Publikum geschriebene Einführung bietet wenig Neues, ignoriert die neuere Forschung und erschöpft sich im letzten Teil weitgehend in Nacherzählungen von Kafkas Werken. Von dem jüdisch-amerikanischen Romancier mit osteuropäischem, aber auch juristischem Hintergrund hätte man eine persönlichere, auch originellere Kafka-Lektüre erwartet.

Dass Kafka nach dem "Gerichtshof im Hotel", dem ersten Bruch mit Felice im Juli 1914, in Wahrheit wild entschlossen war, sein Glück als freier Schriftsteller in Berlin zu versuchen, und es schon eines Weltkrieges bedurfte, um ihn weiter an Prag zu fesseln, hat Reiner Stach bereits 2002 belegt, im ersten Band seiner auf drei Teile angelegten monumentalen Kafka-Biografie. Für die jetzt erschienene Fortsetzung, die die Jahre von 1916 bis zu Kafkas Tod 1924 behandelt, ist dies der Ausgangspunkt: ein in den Kriegsjahren in Prag von seinen literarischen Kontakten in Deutschland weitgehend abgeschnittener Kafka, der sich nach der Demütigung durch Felice noch dazu innerlich eingegraben hat. Kühl, fast arrogant sind jetzt seine Briefe nach Berlin, in denen er, offenbar am Rande der Schizophrenie, häufig in der dritten Person von sich schreibt ("Du hast letzthin einige fantastische Fragen über den Bräutigam von F. an mich gestellt."). Und die innere Spaltung zunächst mit Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Depressionen bezahlt.

Erneut lautet das Zauberwort "historische Empathie", mit dem der Osnabrücker Literaturwissenschaftler die Dokumente zum Leben erweckt. Wie überzeugend ihm das gelingt, erweist sich gerade dort, wo alle Faszination für diesen Autor an ihre Grenzen stößt: bei Kafkas verblüffend beharrlichem Bemühen, an die Front zu kommen. "Warum weißt Du nicht, dass es ein Glück für mich wäre, ... Soldat zu werden", schrieb er 1915 an Felice - ungeachtet seiner früheren Beteuerungen, für die Strapazen einer Ehe gesundheitlich untauglich zu sein. Dahinter steckte weder Nationalismus noch Naivität, schließlich kannte Kafka die Realität des modernen Krieges durch sein berufliches Engagement für die Kriegsverletztenfürsorge besser als viele andere.

Vielmehr war es nach Stach Kafkas "Logik des Intimen", die hochsensibel auf den latenten sozialen Druck in seiner Umgebung reagierte. Seinen verdutzten Vorgesetzten, die ihn bei Kriegsausbruch als unentbehrlich reklamiert hatten, drohte er deshalb gar mit Kündigung. Doch gewährten diese ihm lieber einen langen Urlaub, als dass sie ihren besten Mitarbeiter der Kriegsmaschinerie geopfert hätten. Stachs Urteil ist eindeutig: "Dass Kafka an seinem vierunddreißigsten Geburtstag noch am Leben war, hatte er mit hoher Wahrscheinlichkeit (seinen Vorgesetzten) Pfohl und Marschner zu verdanken." Die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt war durchaus keine inhumane, "kafkaeske" Behörde, im Gegenteil. Kafka wurde von ihr bis zuletzt auf eine auch für heutige Verhältnisse erstaunliche Weise protegiert und unterstützt, selbst nach seiner Erkrankung und unter der neuen tschechischen Leitung nach 1918.

In dem Kampf um Freiheit und Autonomie, den Kafka seit Kriegsausbruch führte, präpariert Stach eine verständliche, in der Folge aber fatale Devise heraus: "ich werde niemals mehr in ein Sanatorium gehen", hatte Kafka bereits 1915 entschieden, in Erinnerung an seine Erfahrungen mit dem entmündigenden Kurbetrieb in Erlenbach oder Jungborn. Daran konnte auch der "Blutsturz" vom 11. August 1917, der Ausbruch seiner Tuberkuloseerkrankung, nichts ändern. Statt sich, wie etwa Max Brod es erwartete, in die Hände von Spezialisten in Kurzentren wie Davos zu begeben, fuhr er lieber nach Zürau aufs Land zu seiner Schwester Ottla, ließ Familie und Freunde an seinem Eigensinn verzweifeln. In seinem "privaten Mythos" (Stach) erschien die Krankheit als eine Art befreiende Strafe, ihre medizinische Bedeutung konnte er allzu lange verdrängen. Selbst nachdem er im Inflationswinter 1923, also zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, doch noch nach Berlin gezogen war, beschrieb der längst Schwerstkranke die Großstadt in einem Brief an die Versicherung allen Ernstes als idyllischen Luftkurort, um bleiben zu können.

Es sind gerade solch komplexen psychischen Entwicklungen, Entscheidungssituationen und Ereignisse, die diese Biografie auf so großartige Weise nach-erlebbar macht: das erotische "Wunder" von Marienbad mit Felice, die demütigende Auseinandersetzung mit dem Vater um das "Paria-Mädchen" Julie Wohryzek, die spannungsvolle Beziehung mit der tschechischen Journalistin Milena Jesenská, Kafkas immer intensivere Beschäftigung mit dem Judentum und zuletzt sein qualvolles Sterben in Kierling im Kreis seiner "kleinen Familie" mit seiner Lebensgefährtin Dora Diamant und dem treuen Freund Robert Klopstock. Ebenso, wie daraus Literatur entsprang: in der Prager Alchimistengasse die Texte des "Landarzt"-Bandes, später die Zürauer Aphorismen, in Spindelmühle der "Schloss"-Roman. Wobei die behutsamen biografischen Deutungen Stachs - etwa das mysteriöse Geräusch in "Der Bau" als der pfeifende Atem des Autors - die Texte nur noch großartiger erscheinen lassen.

Stachs Arsenal an literarischen und filmähnlichen Mitteln führt im Konzert zu einer eindrucksvollen Dynamisierung und erkenntnisfördernden Emotionalisierung des Stoffes, lässt diese Lebensbeschreibung zu einem großen Leseerlebnis werden: darunter Panoramablicke, überraschende Perspektivwechsel, szenische Einstiege. Und extreme Nahaufnahmen: "Kafka erwacht. Er spürt, etwas ist nicht in Ordnung. In der Kehle sitzt es, im Mund sammelt sich Speichel, er versucht ihn loszuwerden." Manchmal wünschen sich wohl auch Biografen ein Lebensaufzeichnungs-Interface.


Titelbild

Louis Begley: Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe. Über Franz Kafka.
Übersetzt aus dem Englischen von Christa Krüger.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008.
224 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783421043627

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Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008.
256 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783803136251

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Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
726 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783100751195

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Titelbild

Hans-Gerd Koch: Kafka in Berlin. Eine historische Stadtreise.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008.
137 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783803112521

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Titelbild

Hartmut Binder: Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
688 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783498006433

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