Geschlechtermoral und die Kunstgeschichte des Unsichtbaren

Gender Studies zu Geschlecht und Moral

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Reihe "Heidelberger Frauenstudien" haben Annette Kämmerer und Agnes Speck einen Sammelband zum Thema "Moral und Geschlecht" herausgegeben. Die Autorinnen wollen die gegenwärtige Diskussion mit philosophischen, soziologischen und strafrechtstheoretischen Analysen und Überlegungen etwa zum Movens von Zivilcourage eingreifen oder mit empirischen Untersuchungen solch dreisten Behauptungen begegnen wie der, dass emanzipierte Frauen stärker zu Kriminalität neigten.

Soziales Geschlecht und Moral sehen die Herausgeberinnen "auf das engste miteinander verbunden" und bringen den Zusammenhang auf eine so einfache wie einleuchtende Formel: Was als soziales Geschlecht verstanden wird, hängt nicht zuletzt von moralischen Urteilen ab, diese wiederum vom Geschlecht der moralisch Urteilenden.

Gertrud Nunner-Winkler, eine der prominentesten feministischen Ethikerinnen deutscher Sprache und unter anderem Herausgeberin des 1991 erschienenen Sammelbandes "Weibliche Moral", eröffnet das Buch in der von ihrer bekannten, argumentativ sehr nachvollziehbaren und gut lesbaren Art. Wie bereits in der 1997/98 geführten Kontroverse mit Andrea Maihofer (nachzulesen in "Weibliche Moral - ein Mythos" herausgegeben von D. Horster) überzeugt die Autorin auch hier durch argumentative Stringenz, untermauert mit empirischen Erhebungen. So rechnet sie L. Kohlberg vor, dass er moralische Motivation und moralisches Wissen nicht klar unterscheidet, und weist die These Gilligans und anderer als falsch nach, dass "Flexibilität und Fürsorglichkeit [...] eher typisch für Frauen, Rigidität und Gerechtigkeitsorientierung eher typisch für Männer" sei. "Es ist nicht die Geschlechtszugehörigkeit, die über Kontextsensitivität und Flexibilität der Urteilsbildung entscheidet, sondern die Betroffenheit." Sollen etwa Fallbeispiele zu Abtreibungen moralisch beurteilt werden, neigen Frauen zur kontextgebundenen Erörterung, Männer hingegen zu grundsätzlichen Erwägungen. Bei Fragen zur Kriegsdienstverweigerung ist es hingegen genau umgekehrt. Betroffenheit aber, so Nunner-Winkler, "steht auch nur als Indikator dafür, daß jemand über eine Frage nachgedacht hat". Anhand der gleichen Erhebung belegt sie überzeugend, dass "fürsorgliche Normbegründung" eben nicht typisch weiblich ist, sondern es "von der Struktur der Situation, von der Dilemmavorgabe" abhängt, ob eine Frau oder ein Mann fürsorglich argumentieren oder nicht. Bei Neigung zur Fürsorglichkeit, so die Autorin weiter, handelt es sich zudem nicht um eine frühe Persönlichkeitsprägung sondern um eine erlernte Rolle. Legen nun Frauen im alltäglichen Leben tatsächlich eher eine fürsorgliche Haltung an den Tag, dann "nicht aufgrund einer spezifisch weiblichen Genusausstattung oder einer früh aufgebauten und lebenslang bewahrten Mutterbindung. Fürsorglichkeit ist vielmehr für Männer wie Frauen eine Frage der anstehenden Handlungsprobleme [...] oder der Rollenerwartung." Diese allerdings begründen keine unterschiedlichen ethischen Haltungen. Vielmehr verlangt die gesellschaftliche Moralauffassung, dass jede und jeder ihrer beziehungsweise seiner Rollenerwartung gerecht zu werden habe.

Die These, jedes Geschlecht habe eine eigene Moral, ist jedoch nicht nur empirisch falsch, sondern auch prekär. Ihr liegt die gefährliche Annahme zugrunde, es gäbe "kategoriale Wesensunterschiede zwischen Menschengruppen, die angeborenen oder unabänderlichen Merkmalen geschuldet seien. Nunner-Winkler setzt stattdessen auf die "basale Wesensgleichheit aller Menschen", die die Notwendigkeit "gleicher basaler Rechte" für alle begründe. Hier, an diesem entscheidenden Übergang von der Kritik zur Darlegungen der eigenen Moralauffassung, verliert die Autorin allerdings viel von ihrer Überzeugungskraft, reduziert sie doch das weite Feld der Moral auf die bloße Frage gleicher Rechte.

Nicht alle Beiträge des Bandes befassen sich so unmittelbar mit dem vom Titel vorgegebenen Thema. Daniela Hammer-Tugendhat etwa untersucht die "Konstanz und Veränderung von Weiblichkeitsbildern" in der bildenden Kunst und Petra Krüger erörtert die Möglichkeit einer "Geschlechtertheorie als Fundament feministischer Erkenntnistheorie". Die Wissenschaftlerin möchte einen fruchtbaren Dialog zwischen verschiedenen Positionen des erkenntnistheoretischen mainstreams und feministischer Ansätze initiieren. Die Möglichkeit hierzu sieht sie dadurch eröffnet, dass der platonische Begriff des Wissens, der die erkenntnistheoretische Diskussion über die Jahrtausende hinweg bestimmt habe, als Fundament einer feministischen Erkenntnistheorie nutzbar gemacht werden könne.

Drei feministische Kritiken an traditionellen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie stellt die Autorin kurz vor: zunächst feministischen Empirismus und feministische Postmoderne, die sie beide verwirft. Letztere mit dem erkenntnistheoretisch irrelevanten Argument, dass der "Verzicht auf einen Wahrheitsanspruch und auf allgemeingültige Standards" ein "Hemmnis für das politische Projekt des Feminismus" sei. Einmal angenommen, dies träfe zu, so widerlegt das noch lange nicht die postmoderne Kritik an traditionellen Wahrheitsbegriffen und -ansprüchen. Mit Sandra Harding präferiert sie die Wissenschaftskritik der feministischen Standpunkttheorien. In Anlehnung an Marx, Engels und nicht zuletzt Lukács räumen sie einem bestimmten Erkenntnissubjekt einen privilegierten Erkenntnisstandpunkt ein. "An Stelle des Proletariats treten hier allerdings die Frauen." Die These vom privilegierten Erkenntnisstandpunkt der Unterprivilegierten war schon in der Marxistischen Tradition alles andere als stichhaltig und trifft, bezogen auf das behauptete Erkenntnisprivileg von Frauen, dementsprechend innerhalb des feministischen Diskurses auf heftige Kritik, z. B. 1990 von Cornelia Klinger und jüngst wieder - mit anderer argumentativer Gewichtung - von Carmen Gransee. Gegen Ende ihrer Ausführungen lässt Krüger den Anspruch auf ein besonderes Erkenntnisprivileg, der ja gerade den Clou der Standpunkttheorien jeglichen Standpunktes ausmacht, stillschweigend fallen und spricht völlig überraschend von der Notwendigkeit einer "Modifikation traditioneller Standards und Werte" der Erkenntnistheorie durch "Integration des weiblichen Standpunktes".

Sehr viel überzeugender fällt der Beitrag von Daniela Hammer-Tugenhat aus, ein Glanzlicht des Bandes. Die Professorin für Kunstgeschichte an der Universität für angewandte Kunst in Wien legt eine mit reichlich Bildmaterial versehene kunsthistorische Untersuchung zu Weiblichkeitsentwürfen an den Beispielen der Judith, Salomé, Bathseba und Lukretia vor. "Auch in der Kunst werden Bilder von Geschlechtern entworfen, wird Geschlechterdifferenz konstituiert, werden Bedeutungen geschaffen, die tief in uns wirken, die wir internalisieren und die unser Handeln mitbestimmen", schreibt sie. Demzufolge betreibt sie keine Frauenkunstgeschichte sondern gender studies, wie sie ausdrücklich hervorhebt. Denn erst, wenn von einer "relationalen Struktur" ausgegangen wird, geraten die Geschlechterverhältnisse in ihrer ganzen Komplexität in den Blick.

Judith und Salomé avancierten im fin de siecle zu Figuren der femme fatale par excelence. Besonders eklatant ist die Vereinnahmung der Judith durch die männliche Kulturgeschichte. In ihrer ursprünglichen Version, so zeigt Hammer-Tugendhat, war sie die "kontrafaktische Utopie" einer aktiven, selbständig handelnden Frau, die entscheidend in das politische Geschehen eingreift und einen mächtigen Angreifer und Feldherrn besiegt und tötet. Eigentlich drängt sich sofort die Frage auf, wie eine solche Frauenfigur in die patriarchalische Textsammlung des Alten Testaments geraten konnte. Die Autorin stellt sie allerdings nicht. Aber egal, "Judith ist ein Skandalon". Keine Frau, die Mann ihren Geschlechtsgenossinnen als Ideal vorführen könnte. Zwar hat sie Volk und Staat gerettet, doch ist sie "gleichzeitig eine Bedrohung aller Männer", tödlich gefährlich in ihrer patriarchalisch negativ konnotierten 'Weiberlist'. "Ihre Geschichte signalisiert nicht weniger als die Umkehrung der Geschlechterordnung", fasst Hammer-Tugendhat lapidar zusammen. Zudem sprengt Judith die traditionelle männliche Dichotomie, die Frauen in Heilig und Huren teilt. Judith vereinigt Momente beider Klischees. In dieser "Ambivalenz und Uneindeutigkeit" macht die Autorin ihr "subversives Potential" aus, das die katholische Kirche zu beherrschen versuchte, indem sie sie völlig auf die Heilige reduzierte und als Präfiguration der Mutter Gottes vereinnahmte. Luther hingegen, dem das schlecht möglich war, strich sie kurzerhand aus seiner Übersetzung des Alten Testaments, was zur Folge hat, das ihre Geschichte bis heute in den evangelischen Bibeln fehlt.

Nicht weniger beeindruckend als Hammer-Tugenhats Analyse der Repräsentationsgeschichte Judiths ist die der Lukretia. Von der Analyse künstlerischer Darstellungen der Vergewaltigung und des Selbstmordes der Lukretia, der eigentlich ein Mord war, wie die Autorin feststellt, schlägt sie einen Bogen zu den Massenvergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien. Bei diesem in allen Kriegen begangenen Verbrechen handelt es sich auch um einen "symbolischen Akt, einem semiotischen Akt zwischen Männern, in dem der Frau Zeichencharakter zukommt, aber kein Subjektstatus. Es geht um eine Botschaft zwischen Männern, um die Inanspruchnahme des Besitzes und damit der Macht des jeweils anderen Mannes."

Hammer-Tugendhat plädiert dafür, sich in der Kunstgeschichte mehr mit dem auseinander zu setzen, was die Bilder nicht zeigen, was sie verschweigen, ja verleugnen. Die "Bildrethorik" macht nämlich "die Vergewaltigung zu einem Problem von Frauen", indem sie den Vergewaltiger ausblendet. Er ist schlicht nicht zu sehen. So prägt die künstlerische Gestaltung die "reale Auffassung von Vergewaltigung in unserer Kultur" mit. Daher tritt Hammer-Tugenhat für eine Kunstgeschichte des Unsichtbaren ein: ebenso wichtig wie die Frage nach der Gestaltung eines Kunstwerkes sei diejenige danach, was nicht dargestellt, nicht repräsentiert wird.

Titelbild

Annette Kämmerer / Agnes Speck (Hg.): Geschlecht und Moral.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1999.
ca 140, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3884231510

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