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Über Hanjo Kestings persönliche Literaturgeschichte "Ein Blatt vom Machandelbaum"

Von Evelyne von BeymeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelyne von Beyme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irritierend und sonderbar erscheint der Titel "Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945" dem in gewissen Erwartungsmustern befangenen Leser zunächst. Bereits schon der poetisch-chiffrierende Obertitel "ein Blatt vom Machandelbaum" sorgt für Verwunderung. Man weiß nicht so recht, worauf der Verfasser hinaus möchte - ist es ein Roman, eine Autobiografie? Nein, ist es nicht. Wie der Untertitel verrät, handelt es sich um eine neuartige Form, Literaturgeschichte zu schreiben. Vielleicht ist Literaturgeschichte auch der falsche Ausdruck für das, was Hanjo Kesting mit diesem Kompendium im Sinn hat. Es ist ein persönlicher Blick auf die Literatur - Literatur im weitesten Sinne -, die sich an Leben und Werk einzelner Schriftsteller des 20. Jahrhunderts orientiert.

Lange schon wenden sich die Literaturgeschichten nur noch an ein - im wahrsten Sinne des Wortes - erlesenes Publikum. Sie sind für Germanisten geschrieben. Menschen, die ein reges Interesse für Literatur besitzen, rühren die Literaturgeschichten in der Regel nicht einmal an. Das ist dem wissenschaftlich-trockenen Gestus zu verdanken, aber auch der Kritik an psychologischen und biografisch-positivistischen Vorgehensweisen, die die Literaturgeschichtsschreibung zwangsläufig in eine eher sterile Bahn hineingeführt haben. Die Literaturgeschichte hat sich dem Menschen entfremdet. Damit werden die Leseinteressierten außerhalb des germanistischen Kreises um eine ganz entschiedene Erfahrung gebracht: die Erfahrung, über die eigene literarische Kultur aus einer großräumig angelegten, historische Ereignisse berücksichtigenden, umfassenden Perspektive heraus zu reflektieren und von ihr Anregungen zu erfahren. Was prägte die deutsche literarische Kultur vor und nach 1945? Was wird aus heutiger Sicht als entscheidend dafür angesehen? Solche Anregungen sind es, die dem Leser helfen, ein kulturelles Bewusstsein herauszubilden, mitunter sogar einen Zugang zur Kultur überhaupt erst zu vermitteln. Die Geschichtsschreibung hat diese Tatsachen längst berücksichtigt. Seit nahezu hundert Jahren gibt es neben der sich an ein wissenschaftliches Publikum richtenden Historiografie eine publizistische Form der Geschichtsschreibung (bekanntester Vertreter einer solchen Linie ist hier Sebastian Haffner), die sich an einen intellektuellen Adressatenkreis wendet.

Kesting, der Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte studierte und über dreißig Jahre lang für den NDR-Hörfunk gearbeitet hat, ist sich ganz offensichtlich dieser Tatsache bewusst. Mit seinem "Blatt vom Machandelbaum" möchte er die deutschen Leser ansprechen, sie mitreißen, zum Lesen, reflektieren und diskutieren über die eigene Kultur bewegen.

Nur so wird verständlich, weswegen seiner literarisch orientierte Kulturgeschichte keinerlei Erklärungen vorangestellt sind. Anstelle einer solchen trifft der Leser auf eine Lyrik-Einleitung - das Gedicht "Von dem Machandelboom" aus den "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm, auf das sich auch der Titel von Kestings Buch bezieht. Leitmotivisch wird dies fortgesetzt. Immer wieder wird zur Einleitung eines neuen Teils ein Gedicht oder Prosastück, in dem der Machandelbaum vorkommt, als Motto selektiert. Der Leser wird zum Nachfragen angeregt - was hat es mit diesem Machandelbaum auf sich, dass der Verfasser so oft auf diesen Rekurs nimmt? Das Wort 'Machandel' hat sich im 15. Jahrhundert im norddeutschen Raum ausgeprägt und bildet die Vorform für den weitaus bekannteren Ausdruck 'Wacholder'. Die Bezeichnung 'Machandelbaum' ist heutzutage weit in Vergessenheit geraten. Dennoch trägt sie einen außergewöhnlichen, ja, man ist fast geneigt zu sagen, magischen Klang. Der Machandelbaum gerät bei Kesting zum Schlüsselwort für die deutsche Kultur. Kesting kommt es auf den Kontext an, der ein literarischer ist: Alle dieser kurzen Motto-Texte, die den Machandelbaum in sich fassen, sind von deutschsprachigen Schriftstellern geschrieben wie den Gebrüdern Grimm, Bertolt Brecht oder Paul Celan.

Kesting rückt die Schriftsteller in den Blick - angefangen bei Erich Kästner, über Klaus Mann, Carl Zuckmayer, Alfred Andersch, Heinrich Böll, Marcel Reich-Ranicki bis hin zu Sigfried Lenz, Walter Kempowski, Gisela Elsner und Günter Grass. Seine literarische Kulturgeschichte umfasst einen Zeitraum von circa 80 Jahren. Formal setzt sich die Monografie aus fünf Teilen zusammen, die einer historisch-thematischen Gliederungsweise folgen. Der erste Part ist der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen gewidmet, die über Werk und Vita einzelner literarischer Persönlichkeiten veranschaulicht wird. Der zweite Part lässt die Quellen sprechen, wenn er sich mittels der angeführten Berichte von Schriftstellern mit Deutschland während der "Stunde Null" auseinandersetzt. Der "verspäteten Generation" gilt der dritte Teil. Es folgen die Kritiker, die Kesting im vierten Teil seines Buchs porträtiert. Den Abschluss liefert ein Blick auf die Gründerfiguren wie beispielsweise Walter Kempowski, der unter der charakterisierenden Überschrift "Chronist der Epoche" vorgestellt wird.

Unter der Bezeichnung 'Schriftsteller' - dies könnte ihm zuweilen zum Vorwurf gemacht werden - fasst Kesting jedoch nicht nur den Verfasser von Literatur im engen Begriffsverständnis. Auch ein historischer Publizist wie Sebastian Haffner fällt für Kesting unter diese Bezeichnung; dies nicht nur aufgrund seiner erfolgreichen Autobiografie "Geschichte eines Deutschen". Nicht immer begründet Kesting diese Ausweitung. Doch wird nach längerer Lektüre ersichtlich, dass hier ein weiteres Verständnis von Literatur der Lektüre zugrunde gelegt wird, das darauf drängt, dem Rezipienten eine breites Spektrum an literarischen Genres vorzulegen. Über die einzelnen Autoren nähert sich Kesting den unterschiedlichen Genres wie Gedicht, Hörspiel, Feature, Rezension, Bericht, Tagebuch, (Auto-)Biografie, Essay, Kurzgeschichte oder auch Roman an, die zu bestimmten Zeiten ihre Blütezeit erlebten, mitunter aber auch heute angesichts des sich weitläufig herausgebildeten, eng begrenzten Vorstellungsbildes von Literatur häufig in Vergessenheit geraten.

Wie aus dem Aufbau und dem poetischen Obertitel "Ein Blatt vom Machandelbaum" ersichtlich wird, nimmt sich Kesting von der Bezeichnung als Schriftsteller keineswegs aus. Vielleicht ist es gerade dies, was seine literarische Kulturgeschichte so lesenswert macht. Denn Kesting schreibt spannend und mitreißend. Dabei verbindet ihn mit dem von ihm unter anderem vorgestellten Schriftsteller Zuckmayer eine Gemeinsamkeit: Wie dieser in seinem "Geheimreport", so versucht auch Kesting, jedem der porträtierten Schriftsteller und dessen Werk, so weit es ihm möglich ist, gerecht zu werden. Ein Unternehmen, das ihm auf weiten Strecken gelungen ist.


Titelbild

Hanjo Kesting: Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
284 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302747

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