Von der Vielfalt und Ähnlichkeit der Märchen

Über Hans-Jörg Uthers Handbuch zu Grimms Kinder- und Hausmärchen

Von Stefanie HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Erzählforschung zu Märchen ist ein langwieriges und umfangreiches Thema. Bereits in den 1930er-Jahren hat Lutz Mackensen das "Handwörterbuch des deutschen Märchens" herausgegeben, seit 1980 gibt der De Gruyter Verlag die "Enzyklopädie des Märchens" heraus: ein Nachschlagewerk, das inzwischen bei Band 13,1 und dem Buchstaben T angelangt ist. Es sollen noch fünf Teilbände folgen. Damit der Leser nicht mehr so lange warten und sich nicht in alle Bände vertiefen muss, hat Hans-Jörg Uther, der seit 1973 an der "Enzyklopädie" mitarbeitet, jetzt ein dickes Handbuch (in einem Band!) zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm vorgelegt.

Wie in der "Enzyklopädie" geht es auch hier um komparatistische und historische Erzählforschung. Nachgewiesen werden verschiedene Grimm'sche Fassungen, differierende Versionen bei Charles Perrault, Basile und anderen. Ausführliche Literaturhinweise und eine akribisch erstellte Typen- und Motivkonkordanz nach den Erzählforschern Antti Aarne und Stith Thompson sowie ein vorzügliches Stichwortverzeichnis machen das Buch zu einem unentbehrlichen Standardwerk für jeden, der sich auch nur am Rande mit Märchen beschäftigt. Die Hinweise zu Einzelinterpretationen sind im Umfang recht unterschiedlich und können meist nicht die Vielfalt der Ansätze abbilden, so dass einige Artikel eher deskriptiv als interpretativ zu bezeichnen sind. Dafür entschädigt das fundierte Kapitel "Zur Geschichte der Kinder- und Hausmärchen", das mit der Editionsgeschichte, der Grimm'schen Textarbeit und der Gattungsdiskussion von Märchen versus Sage und zum Erziehungsbuch um 1800 umfassend in die Thematik einführt. Besondere Freude machen die Informationen zu den Illustrationen. Demnach lehnten die Grimms die Illustration der ersten Ausgabe ab, so dass die Märchen erstmals eine Bebilderung in einer englischen Ausgabe erfuhren - durch niemand Geringeren als den berühmten Karikaturisten George Cruikshank. So wie im eigentlichen Handbuch-Teil erzählende Motiv-Traditionen rekonstruiert werden, werden hier in aller Kürze auch besonders beliebte Bildmotiv-Traditionen aufgeführt: Bei Aschenputtel sind es etwa Schuh- oder Taubenszene, bei Schneewittchen Glassarg und Apfelszene. Und seit dem 20. Jahrhundert finden sich die Bildmotive auch in Kartenspielen, Malbüchern, auf Puzzles oder Briefmarken.

Uther hat also mehr als ein vorzügliches Nachschlagewerk vorgelegt: Ein Werk das Lust macht, sich weiter und wieder mit Märchen zu beschäftigen.


Titelbild

Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm.
De Gruyter, Berlin 2008.
644 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783110194418

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