Glitzernde Snap-Shots

Silvia Bovenschens Roman "Verschwunden" ist eine Hommage an das Erzählen

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon lange kommt sie kaum noch aus dem Haus. Und jetzt bittet Daniela Listmann, die an Multipler Sklerose leidet und ihren Tag im Rollstuhl verbringt, ihre Freunde und Bekannte, ihr Geschichten zu erzählen. Geschichten vom Verschwinden sollen es sein. Denn sie will durchaus nicht immer nur fernsehen und die Zeitung lesen, sie will "die kleinen Entzündungen, die berührenden Details, das seltsame Zusammenspiel von seltsamen Begebenheiten" erfahren. Manche ihrer Bekannten weigern sich zunächst, andere sagen gleich zu und berichten von dem Leben draußen. Gustav hat eine Frau gesehen, die in Griechenland auf offener Strecke aus dem Zug steigt, Olga wurde der Laptop gestohlen, und nun ist alles weg, die Mails und Aufzeichnungen, die Briefe und die Adressen, alles, was sie gespeichert hat. Konrad erzählt von Isolde, die sich heftig verliebt hat, und dann hat sich der Freund einfach davon gemacht. Ein Ring verschwindet, Spielkameraden am Strand, ein Elternhaus im Traum.

Das Verhältnis ändert sich. Hatten die Freunde, die Erzähler der Episoden, anfangs angenommen, es ginge Daniela darum, sich das Leben ins Haus zu holen, beginnen sie jetzt, in ihrem eigenen Leben, in ihrem Alltag nach Verschwundenem zu suchen. Und das sind ja nicht nur Gegenstände oder Menschen. Es ist ein Stückchen Leben, das da plötzlich fehlt, ein Stück Wirklichkeit, das plötzlich weg ist. Manchmal merkt man es auch erst, wenn es nicht mehr da ist. Es war so gewohnt, dass man es nicht mehr bemerkt hat. Es war so normal. Und so werden die Freunde Danielas plötzlich zu sehr aufmerksamen Erzählern, die über sich und die Welt nachzudenken beginnen. Was fehlt? Was ist im Überfluss da? Was würde fehlen, wenn es plötzlich nicht mehr da ist?

In ganz unterschiedlichen Stillagen erzählen die Freunde und Bekannten von Daniela Listmann (was für ein sprechender Name), mit Lust, Unlust, Verve, mit unterschiedlichem Humor und tragischem Sinn, mit unterschiedlicher Emphase von dem, was ihnen tagtäglich passiert, was ihnen manchmal auffällt, aber meistens nicht, was sie vergessen, was sie nicht vergessen können, was sie irritiert und stört. Was erst jetzt zu einer Art besonderen Antenne, zu einer besonderen Sensibilität geführt hat.

Und was ist das für ein Buch? Ein Roman? Ein Essay? Einen Plot hat es nicht, kaum eine Rahmenhandlung. Es ist eher wie eine Art Stimmenmosaik zusammengesetzt, ein Tablett voller glitzernder Snap-shots, die nur durch die Tagebucheintragungen von Celia, die schließlich Selbstmord begeht und damit ihr eigenes Verschwinden ganz wahrhaftig erzählt ("Die letzte Mitteilung an mich: Ich werde heute nicht mehr sein"), und Friederikes Monologe zusammengehalten werden, die ihre Freunde unerträglich selbstzufrieden in ihrer "städtischen Intellektuellenmüdigkeit" findet und am Schluss meint, dass wenigstens eins verschwinden sollte: "dieser armselige, wohlfeile, auf Dauer gestellte Zynismus. Lasst es euch gutgehen." Und so ist dieses Buch wohl vor allem eines: eine Hommage an das Erzählen, das noch einmal die Welt neu erfinden kann, das das Verschwundene wieder lebendig macht, das die Welt anhalten und wieder in Schwung versetzen kann.


Titelbild

Silvia Bovenschen: Verschwunden.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
167 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783100035134

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch