Morphologie der Literatur

Julien Gracq verbindet gedankliche Strenge mit ausdrucksstarker Bildlichkeit

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Jahre hinweg hat sich der österreichische Literaturverlag Droschl bemüht, die Werke des großen französischen Schrifstellers Julien Gracq (1910-2007) zu vermitteln. In treffsicheren und genauen Übersetzungen von Dieter Hornig wurden dem deutschsprachigen Publikum über Jahre hinweg sorgfältig übersetzte Gracqiana vorgelegt.

Der vorliegende Band "Gespräche" bietet sechs unterschiedlich umfangreiche Unterhaltungen, die in Frankreich im Zeitrahmen zwischen 1970 und 2001 von bekannten Literaturwissenschaftlern, Literaturkritikern und Schriftstellern mit Gracq geführt und veröffentlicht wurden.

Etliche Bücher und Schriften Gracqs sind von ihrem essayistischem Charakter geprägt, die oftmals in Form von Selbstgesprächen zu Fragen der Literatur und Literaturerzeugung Stellung nehmen, aber auch die Auseinandersetzung mit den Büchern anderer Autoren nicht scheuen. Bis in die Titel seiner eigenen Bücher hinein lässt sich bei Gracq das enge Verhältnis zwischen wahrgenommener Literatur und dem in der Wanderung versunkenem Nachdenken darüber nachweisen: "Lesend schreiben" (1997) oder "Der große Weg. Tagebuch eines Wanderers" (1996).

Im Gespräch mit Jean-Louis de Rambures weist Gracq ausdrücklich auf die produktive Funktion seiner täglichen Spaziergänge in Bezug auf das Schreiben hin: "Wenn ich einen kurzen Text schreibe, dessen Niederschrift genau kontrolliert werden muß, dient mir das Gehen übrigens oft zur beinahe mechanischen Feineinstellung eines Satzes, mit dem ich unzufrieden war: es bewirkt eine Art Mehlbeuteln. Der unterwegs wieder und wieder gewendete Satz, der mir dann am Ende des Spaziergangs im Gedächtnis bleibt, hat oft seine tote Last abgeschüttelt".

Gracqs Texte sind in der Tat geschliffenen Kieseln vergleichbar, die von verschiedenen Seiten betrachtet werden können. Die Form des Interviews ist allerdings ungewöhnlich für Julien Gracq, der über Jahrzehnte hinweg den Literaturbetrieb und seine Geschäftigkeit beinahe demonstrativ gemieden hatte. Ihm ging der Ruf des heimlichen Fürsten der französischen Literatur voraus. Den renommierten Prix Goncourts hatte er 1951 erhalten - und abgelehnt, was einen Skandal provozierte.

1938 legte er mit "Schloß Argol" seinen ersten Roman vor, der 1987 in deutscher Übersetzung erschienen und heute noch erhältlich ist. Der französische Verlag Gallimard hatte diesen Erstling seinerzeit nicht in sein Programm aufnehmen wollen. Dass Gracq im hohen Alter noch zu Lebzeiten in die berühmte Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen wurde, war eine große Ehre für ihn, die ihm nicht zuletzt deshalb eine Genugtuung gewesen sein dürfte, da die Pléiade von Gallimard betrieben wird.

Die Gespräche bieten nicht jene gewünschten Einblicke in eine Schriftstellerwerkstatt, wie man sich diese landläufig vorstellt. Gracq war zeitlebens eine eigenwillige Persönlichkeit und entsprechend unabhängig ist seine Art, Fragen zu beantworten oder gar auszuweichen. Ausführlich geht Gracq vor allem auf seinen Beruf als Geografielehrer in einem Pariser Gymnasium ein. Die Sensibilisierung für geomorphologische Studien eröffnete ihm auch für sein Schreiben neue Blickfelder: "Ich schreibe der Tatsache, daß ich in einer Gegend mit gemäßigtem Relief geboren bin, eine gewisse Bedeutung zu".

In anderen Passagen äußert sich Gracq über Richard Wagner, auf den er sich in verschiedensten Betrachtungen immer wieder konzentriert hatte. Wagners Oper, frei von "pädagogischer Befleckung", die den Zuschauer zu verschlingen scheint, bietet Gracq "eine unerschöpfliche Quelle emotionaler Orgien", auch wenn er verstehen kann, "daß ihm andere dies zum Vorwurf machen". Der ledigliche Ohrenschmaus wird nach Gracq bei Wagner überwunden und in eine existenzielle Dimension überführt.

An anderer Stelle unterstreicht er seine Sehnsucht nach einer "geeigneten Formel" im Sinne einer konkreten Lebensänderung im Hinweis auf die Reliquien des Mittelalters, die durch Symbolisierung aufgeweicht wurden. Der Surrealismus, so Gracq, griff die Suche nach Reliquien insofern wieder auf, als er sich nicht mit konstruierten Surrogaten zufrieden gab, sondern das Konkrete für ein gelebtes Leben suchte.

Der Autor war zeitlebens ein Suchender auf der Wanderung gewesen und hatte nicht von ungefähr einst Deutschland als einen "unermeßlichen Energievorrat inmitten von Europa" bezeichnet. Er war mit Ernst Jünger, aber auch mit André Breton befreundet.

Julien Gracq verstarb 97jährig im Dezember 2007 in Angers, das in der Nähe seines Geburts- und Wohnorts Saint-Florent-le-Vieil liegt.


Titelbild

Julien Gracq: Gespräche.
Übersetzt aus dem Französischen von Dieter Hornig.
Literaturverlag Droschl, Graz 2008.
248 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783854207306

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