Adelsdämmerung mit langem Schatten

Die historische Adelsforschung ist kulturwissenschaftlich anschlussfähig

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die historisch arbeitenden Kulturwissenschaften neigen dazu, Erfolgs- und Verfallsgeschichten nachzuerzählen, oft geht es insbesondere darum, zukunftsträchtige Entwicklungen möglichst früh aufzuspüren. Parallel zum Innovationsgebot, das für die Wissenschaften selbst gilt, suchen diese nach dem Innovativen in den historisch dingfest zu machenden Gegenstandsbereichen ihrer Forschung. Als Forschungsobjekt weniger attraktiv sind die Verfallsgeschichten, die Erzählungen von historischem Abstieg, die sich dafür aber mit seltsamer Hartnäckigkeit zu behaupten wissen: Seit Edward Gibbons epochalem Werk "The History of the Decline and Fall of the Roman Empire" hatte sich für Jahrhunderte ein einseitiges Bild einer dekadenten Spätantike etabliert, in dem sozialgeschichtliche Differenzierungen kaum Platz fanden. Im frühen 20. Jahrhundert behauptete Oswald Spengler in seiner viel gelesenen geschichtsmorphologischen Untersuchung "Der Untergang des Abendlandes" den sich gleichartig schematisch wiederholenden Ablauf aller Kulturen bis hin zum Untergang. Andererseits hatte Johan Huizinga mit "Herbst des Mittelalters" erstmals den Eigenwert einer Spätzeit als Vollendung einer Epoche verstehen gelehrt, ohne das ästhetisch Neue dieser Zeit gleich als Vorphase der Renaissance sehen zu wollen.

Den neuzeitlichen europäischen Adel kann man als notorischen Abstiegskandidaten bezeichnen; vor allem als solcher behauptete er sich lange Zeit als Forschungsgegenstand der Neueren Geschichte. Die Historiker rücken das Datum seines Untergangs oder besser: das Einsetzen seiner Bedeutungslosigkeit - existiert er doch bekanntlich nach wie vor - immer näher an die Gegenwart heran. Der Tenor zahlreicher Publikationen - auch der vier hier vorzustellenden - lautet neuerdings, in allen Phasen seines politischen, ökonomischen und symbolischen Abstiegs habe sich der Adel erfolgreich Strategien des Obenbleibens erarbeitet, sei es ihm gelungen, das Unvermeidliche zumindest hinauszuzögern. Nicht die frühneuzeitliche Ära des Absolutismus, nicht die der Französischen Revolution, vielleicht noch nicht einmal das späte 19. Jahrhundert markiere den point of no return. Erst seit 1918 oder gar seit 1945 sei der deutsche Adel ohne politischen und kulturellen Einfluss gewesen.

Vier Bücher, die sich mit dem Adel von der Frühen Neuzeit bis zur Bonner Republik befassen, legitimieren sich selbst, indem sie die lange Zeit andauernde Bedeutsamkeit einer vermeintlich obsoleten sozialen Gruppe unter Beweis stellen - oder auch die Relevanz einer Semantik, die traditionell dem Adel zugeordnet war, im 20. Jahrhundert aber auch losgelöst von dieser Schicht Bestand hatte.

Hatte die historische Frühneuzeitforschung über Jahrzehnte der adelskritischen Wendung Norbert Elias' widerspruchslos Glauben geschenkt und den Aufstieg des höfischen Absolutismus mit dem Abstieg des Adels identifiziert, so betont Ronald G. Asch in seiner lesenswerten Einführung in die frühneuzeitliche Geschichte des europäischen Adels, dass dessen Strategien in seiner Auseinandersetzung mit der höfischen Welt durchaus erfolgreich gewesen seien. Auf dem aktuellen Stand der Forschung informiert Asch thematisch (nicht chronologisch) gegliedert und vergleichend, vor allem über Deutschland, Frankreich und England, immer wieder auch über die Entwicklungen in Nord-, Süd- und Mittelosteuropa. Sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlich ausgerichtete Längsschnitte (unter anderem zu Herrschaft, Haus, Kultur, Kirche) differenzieren aber nach regionalen Gesichtspunkten. Für den Adel in ganz Europa zentral waren ständische Normen, allen voran die 'Ehre', und Verhaltensideale wie die von Baldassare Castiglione schon im 16. Jahrhundert propagierte sprezzatura, also die Lässigkeit, die Nonchalance des Adeligen. Neue kulturelle Elemente konnten selektiv in das bestehende Wertesystem eingebaut werden, so der 'Geschmack' in Fragen der Kunst und der Architektur.

Der Absolutismus erscheint nun als eine von vielen historischen Krisensituationen, in der der Adel gezwungen war, sich neu zu erfinden. Die Hofkultur, so sieht es die Forschung heute, hat den Adel zu domestizieren versucht, doch ist es ihr nicht endgültig gelungen. Zumindest bis weit ins 18. Jahrhundert hinein konnte der Adel seine kulturelle Hegemonie bewahren und zugleich vielerorts als regionale Herrschaftselite weiterbestehen.

In die Sattelzeit, genauer in die Jahrzehnte zwischen 1770 und 1830, führt Marko Kreutzmanns Monografie zum Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach, einem nicht zuletzt durch den Jenaer Sonderforschungsbereich "Ereignis Weimar-Jena 1800" gründlich erforschten Soziotop. Anhand von zwei adeligen Familien, der uradeligen, aber erst im 18. Jahrhundert eingewanderten Familie von Ziegesar sowie der erst im 18. Jahrhundert nobilitierten Beamtenfamilie Fritsch, versucht Kreutzmann gruppenspezifische Strategien der Bewahrung der Sozialformation und des 'Obenbleibens' (Werner Sombart) in der Gesamtgesellschaft nachzuvollziehen. Das Ergebnis ist im Großen und Ganzen nicht überraschend: Es kam zu keinem Elitenkompromiss, erst recht zur keiner Verschmelzung zwischen Adel und Bürgertum - durchaus aber zu Annäherungen. Insofern die beiden untersuchten Adelsfamilien am Weimarer Hof und in der Verwaltung agierten, waren sie zur Auseinandersetzung mit den zunehmend mit Bürgerlichen besetzten Verwaltungseliten gezwungen. Die Französische Revolution einerseits, die unkonventionelle Regierungspraxis zumindest des jungen Herzogs Carl August andererseits, jenes Herrschers also, der bekanntlich Johann Wolfgang Goethe in sein geheimes Kabinett berief, trugen zu einer Öffnung auf die bürgerliche Moderne hin bei.

Kreutzmann setzt an drei Stellen mit seiner Studie an: Erstens untersucht er die Geschichte der Familie als Ort des symbolischen Kapitals: er interessiert sich für die Bildung und für Praktiken der Geselligkeit in den beiden Familien. Über Heiraten und Patenschaftsbeziehungen baute man Verbindungen zum alteingesessenen Adel auf, doch begann man sich auch mit dem Weimar-Jenaer Bildungsbürgertum zu vernetzen. Silvie von Ziegesar, angebliches Modell der Charlotte in den "Wahlverwandtschaften", projektierte zusammen mit Goethe einen englischen Landschaftspark auf dem Gut der Familie in Drackendorf bei Jena. Ästhetische Bildung begann auch für den Weimarer Adel attraktiv zu werden, gleichzeitig waren aber die Salons keineswegs frei von ständischen Zugangsbeschränkungen.

Zweitens geht es um die Berufschancen der adeligen Protagonisten am Weimarer Hof, der entgegen mancher tradierten Auffassung ebenfalls nicht frei von Standesschranken war. Das bedeutete aber für adelige Karrieren, dass auch nach 1789 mit deren Persistenz durchaus zu rechnen war. Gleichzeitig begannen sich auch Adelige, spätestens gegen Ende des Untersuchungszeitraumes, dem mittlerweile sich durchsetzenden Leistungsprinzip zu stellen. Ein drittes Kapitel befasst sich mit der Politik. Die erste moderne Verfassung, die auf deutschem Boden entstand, also die seit 1816 in Sachsen-Weimar-Eisenach gültige, knüpft zwar an ständische Traditionen an, verleugnet aber auch nicht den modernen Parlamentarismus.

Kreutzmanns Buch bestätigt an einem regionalgeschichtlich gut eingebetteten Beispiel, so könnte man resümieren, die jüngeren adelsgeschichtlichen Forschungen für die Zeit um 1800.

Bereits ins 20. Jahrhundert führt Alexandra Gerstners große Studie zu Neuadelskonzepten in der Moderne, also zwischen der Jahrhundertwende und der Zeit des Nationalsozialismus. Nun kann es nicht mehr um eine sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aufarbeitung der Entwicklung einer sozialen Gruppe gehen, sondern um die sich von dieser endgültig loslösenden Semantik, um jene Bedeutungsmerkmale also, Denotationen und Konnotationen, die seit Jahrhunderten mit dem Begriff 'Adel' verbunden waren und die nach 1900 in neuen Kontexten gehäuft wieder auftauchten. Gerstner knüpft an Reinhart Kosellecks Begriffsgeschichte an, führt sie aber methodisch als 'Neue Ideengeschichte' fort, die nicht nur theoretische Konzepte rekonstruiert, sondern auch deren Umsetzung in politisches Handeln.

Nach 1900 erfährt die traditionelle Semantik eine Ausweitung, Gerstner geht es auch nicht um bloße Begriffsgeschichte, sondern um Deutungsmuster, vielfach anschlussfähige, auf heterogene Diskurse leicht aufzupfropfende sprachliche Formationen, die vor allem für das Bildungsbürgertum attraktiv waren, das sich auf diese Weise Distinktivität zuerkennen wollte. In einer Krisenlage ging es den bürgerlichen Bildungseliten um neue, gesamtgesellschaftlich akzeptable Ordnungen der Ungleichheit, um neue Anhaltspunkte für die schon im 19. Jahrhundert vielfach ins Zentrum des Denkens gerückte große Persönlichkeit. Neu ist nun, dass 'Adel', dass 'das Aristokratische' als machbar erscheint, nicht als ursprünglich gegeben, wie es die Adeligen von Geburt für sich zu postulieren pflegten.

Die Autorin plausibilisiert ihre Prämissen anhand von fünf Fallstudien zu Intellektuellen recht unterschiedlicher Couleur, darunter mit Walther Rathenau, dem konservativen Revolutionär Edgar J. Jung oder mit dem im Umfeld des Expressionismus bekannt gewordenen Kurt Hiller Publizisten, mit denen man in diesem Fragekontext rechnen durfte - und die politisch kaum im Links/rechts-Schema unterzubringen sind. Hinzu kommen der Genealoge und völkische Ideologe Bernhard Koerner und der Paneuropa-Propagator Richard Graf Coudenhove-Calergi, der als einziger in dieser Gruppe Adeliger von Geburt war.

Nach kurzen Biografien entwickelt Gerstner thematisch gegliedert die in den Texten der fünf Autoren ausgeführten Adelskonzepte, die sich vor allem an der völkischen Rassenlehre ("Rassenadel"), am Ideologem der Tat (der Adelige als "Tatmensch") und schließlich am politischen Modell des Führertums orientieren. Die Semantik des Adels darf dazu herhalten, Traditionelles mit Neuem (zum Beipiel Ideen der Züchtung) zusammenzuführen.

Schließlich wird in weiteren fünf Kapiteln die praktische Umsetzung der Deutungsmuster in Vereinen, Parteien, Verbänden, Geheimbünden und Grüppchen untersucht, so etwa Rathenaus (informelle) Annäherung an die künstlerische Avantgarde, die zu seinem Aristokratismus sehr wohl passte, oder die Gründung eines "Rates geistiger Arbeiter", der nur ein Meilenstein von vielen im Leben des rührigen Kurt Hiller war.

Immer wieder dienen aristokratische Deutungsmuster als Alternativen zu modernen Eliten, stützen sie Utopien der Ungleichheit, des Führertums und des elitistischen Rassendenkens. Allen gemeinsam war der typisch avantgardistische oder auch typisch intellektuelle Primat des Wortes, der aber die Brücke zwischen einer Theorie des aristokratischen Tatmenschen und faktischem, 'massenwirksamem' Handeln nicht zu schlagen vermochte. Das Gelingen adeligen Mittlertums blieb also Wunschdenken.

Alexandra Gerstner hat zahlreiche archivalische Quellen ausgewertet und ihr Themenspektrum mit breiten Kontextualisierungen hervorragend abgedeckt. Der Leser erfährt an der jeweils richtigen Stelle Wissenswertes über die vorgängigen Adelskonzepte Friedrich Nietzsches, Paul Anton de Lagardes, Georg Simmels, Max Webers, Arthur Moeller van den Brucks oder Guido Lists. Es entsteht auf diese Weise, ausgehend von immerhin fünf Œuvres, ein Panorama des Aristokratismus der Zeit, das weiteren kulturwissenschaftlichen Forschungen als Basis dienen sollte. Die Autorin, die unter anderem souverän die neuere Forschung zur Geschichte der völkischen Bewegung in Deutschland einarbeitet, betritt auf weiten Strecken Neuland. Ihr Buch füllt eine echte Forschungslücke und ist jetzt schon als Handbuch und demnächst hoffentlich als Standardwerk einer kulturwissenschaftlichen Moderne-Forschung zu bezeichnen.

Ein kleiner Tagungsband führt die Adelsgeschichtsschreibung noch bis 1945 und darüber hinaus fort, beschränkt sich mit einigen Fallstudien aber auf das Gebiet des heutigen Baden-Württemberg. Auch wenn Claus Graf Schenck von Stauffenberg aus Württemberg stammte, so waren doch nur wenige Südwestdeutsche am Attentat des 20. Juli 1944 beteiligt. Nachdem Stephan Malinowski die Verstrickung vieler deutscher Adeliger in die Vorgeschichte und Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland nachgewiesen hat, kann auch der "20. Juli" nicht als hinreichendes Argument für einen Generalpardon dienen. Die jetzt vorliegenden, sehr heterogenen und teils nicht ganz themenbezogenen Studien stellen Oppositionelle und Mitläufer bis hin zu Enthusiasten vor.

Stauffenbergs Neuadelsvorstellung etwa kam aus dem George-Kreis, bleibt aber aufgrund von Quellendefiziten des Verfassers Christopher Dowe eher blass. Die semantische Nähe der Elitevorstellungen des George-Kreises konnte Stauffenberg zunächst zum glühenden Nationalsozialisten machen, während der Keim der späteren Opposition wohl aus der Erkenntnis gewonnen werden konnte, dass der Nationalsozialismus primär die Ressentiments der Kleinbürger bediente. Die auf Leistungsethik beruhende Utopie der Verschwörer, die Dowe rekonstruiert, hat mit traditionellem Adelsverständnis nichts mehr zu tun, lässt aber an schon im 18. Jahrhundert wach werdende Überlegungen zu einem Adel des Verdienstes denken.

Spannend zu lesen sind Rainer Blasius' Biogramme der beiden schwäbischen Diplomaten Konstantin von Neurath und Ernst von Weizsäcker. Die Fama von der grundsätzlich nazikritischen Haltung im Auswärtigen Amt lässt sich heute längst nicht mehr halten.

Eckart Conze vermutet in seinem abschließenden Beitrag die Ursachen der Anfälligkeit des Adels für den Nationalsozialismus erstens in einer wohlfeilen Opferrolle, zweitens in der ebenso wohlfeilen Norm des soldatisch-hingebenden Führertums (beziehungsweise der Komplementarität von Führen und Dienen oder 'Folgen'), drittens in einem ostentativen Antimodernismus. Der Pakt mit dem Nationalsozialismus schwächte den deutschen Adel indessen weiter, ohne dass er freilich 1945 von der historischen Bildfläche verschwand. Sein Untergang ist vielmehr nach wie vor vertagt; man sollte dem Adel weiterhin die ihm gebührende Aufmerksamkeit schenken.


Titelbild

Adel und Nationalsozialismus im deutschen Südwesten.
Herausgegeben vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg.
DRW-Verlag Weinbrenner, Leinfelden-Echterdingen 2007.
240 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783765083730

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Titelbild

Marko Kreutzmann: Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach 1770 bis 1830.
Böhlau Verlag, Köln 2007.
502 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783412200312

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Kein Bild

Ronald G. Asch: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung.
UTB für Wissenschaft, Köln 2008.
322 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783825230869

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Titelbild

Alexandra Gerstner: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2008.
520 Seiten, 79,90 EUR.
ISBN-13: 9783534214440

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