Solschenizyn und wir

Aus Anlass seines Buches "Im Interesse der Sache"

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Heinrich Böll behauptet im Spiegel vom 30. März 1970, Alexander Solschenizyn habe "die verfluchte Herablassung des Westens gegenüber der sowjetischen Literatur nicht nur ins Wanken gebracht". Auch ich bin gegen diese Herablassung. Aber erstens glaube ich nicht, daß Solschenizyns Werk, so wichtig es ist, sie tatsächlich erschüttern kann; und zweitens scheinen mir Pauschalgefühle, die ganzen Völkern oder Nationalliteraturen gelten, immer bedenklich, und das keineswegs nur, wenn sie in negativer Richtung gehen. Die kritiklose Bewunderung des Russischen beispielsweise ist nicht weniger dubios und ärgerlich als die von Böll verfluchte Geringschätzung.

Hinter der ungewöhnlich starken Befangenheit dem Russischen gegenüber verbergen sich immer Argwohn, Furcht und Ratlosigkeit angesichts einer gigantischen Macht, die, allen sachlichen Informationen zum Trotz, nach wie vor als unheimlich und wohl auch als mysteriös empfunden wird. Diese bis ans Hysterische grenzende und zugleich vollkommen begreifliche Befangenheit kennt man in allen westlichen Ländern. Für ihre bundesrepublikanische Spielart ist jedoch charakteristisch, daß sich hier zur Unsicherheit, zur Angst und zur puren Sensationslust auch noch das schlechte Gewissen gesellt.

Daher vor allem gerät das Verhältnis vieler Deutscher zum Russischen oder zum Sowjetischen oft so prekär und so verkrampft, daher auch die Neigung zu extremen Urteilen, die zwischen Arroganz und Adoration schwanken. In diesem Verhältnis, ließe sich vereinfachend sagen, kommen zwei generelle und sich gegenseitig bedingende Tendenzen des Nationalcharakters zum Vorschein: die deutsche Überheblichkeit und der deutsche Minderwertigkeitskomplex.

Daß auf das Echo, das die sowjetische Literatur in der Bundesrepublik findet, solche Tendenzen Einfluß ausüben, liegt auf der Hand; die Solschenizyn-Rezeption läßt dies abermals erkennen.

Vor rund elf Jahren, als Pasternaks "Doktor Schiwago" den Westen erreicht hatte, wurden uns dieselben überschwenglichen Prädikate und Superlative aufgetischt, was niemanden zu stören scheint. Auf jeden Fall haben sich Solschenizyns Bücher als ein glänzendes Geschäft erwiesen, von dem freilich er selber überhaupt nicht profitiert. Und sicher ist, daß in diesem westlichen Rummel die unterschiedlichsten Faktoren wirksam werden: von Sympathie und Respekt bis zur Marktschreierei und bis zum Antikommunismus.

Dies alles gilt für die Bundesrepublik ebenfalls. Indes, wo es nachgerade üblich ist, die Verfolgung eines Schriftstellers schon für einen Qualitätsbeweis zu halten, wo man - nach einem Wort von Curtius - das, was als Dichtung produziert wird, als "Weltanschauung" zu konsumieren pflegt, wo schließlich ein nationales Trauma das Verhältnis zum Russischen belastet - da konnte es schwerlich ausbleiben, daß etwas entstand, was sich nur als ein Solschenizyn-Mythos bezeichnen läßt.

Dabei geht es mir weder um die Biographie Alexander Solschenizyns, der wegen antistalinistischer Äußerungen elf Jahre in Konzentrationslagern und in Verbannung war, noch um die gegenwärtige Situation dieses Autors, dessen Hauptwerke in der Sowjetunion nicht erscheinen dürfen und der Ende 1969 aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Hier soll lediglich von seinen Büchern und ihrer Funktion in der Bundesrepublik die Rede sein.

In einem Essay im Merkur (Mai 1969) nennt Böll Solschenizyns "Ersten Kreis der Hölle" eine "Kathedrale unter den Romanen" und erklärt: "Ich schreibe dem Werk Solschenizyns Offenbarungscharakter zu, einer unpathetischen Offenbarung, nicht nur über das bloß stofflich Geschichtliche des Buchs, den Stalinismus, auch über die Leidensgeschichte der Menschheit." Nachdem Böll schon früher Solschenizyns "Krebsstation" als mögliches Vorbild für den "neuen Realismus hier" gerühmt hatte, meint er nun, "Der erste Kreis" sei "auch eine Offenbarung für die mehr oder weniger hilflos operierende westliche Literatur", er mache "nicht nur einige als ganz gut empfundene westliche Romane", sondern auch "ganze Ergebnisse von Literaturdekaden zu dekorativen Seitenkapellen oder Nischen".

Bölls eingangs zitierter Artikel im Spiegel klingt nicht ganz so hymnisch, ist jedoch abermals vollkommen unkritisch. Hier wird Solschenizyn bescheinigt, daß er "das Wunder vollbracht hat, den sozialistischen Realismus gegenwärtig gemacht, ihm nicht nur wieder Anschluß an die Weltliteratur verschafft zu haben...".

Glaubenssätze, Offenbarungen und Wunder gehören, dachte ich, zum Kompetenzbereich einer anderen Fakultät. Da ich jedenfalls für Offenbarungen nicht zuständig bin, muß ich mich mit dem "Philosophischen Wörterbuch" (Kröners Taschenausgaben Band 13) behelfen. Hier finde ich: "Eine Offenbarung wird nicht mit dem Verstande entgegengenommen, sondern mit dem Herzen (siehe Liebe). Es gehört zum Wesen der Offenbarung, daß die Entgegennahme irrtumsfrei ist."

Von solcher Art scheint mir auch Bölls Verhältnis zu Solschenizyn. Da er sein Werk liebt, versieht er es mit einer Aureole. Aber Aureolen sind immer fragwürdige Lichtquellen, und je stärker sie strahlen, desto weniger lassen sie erkennen.

Diesmal handelt es sich wohl nicht um einen Rückfall ins magisch-theologische Zeitalter, sondern um die Fortsetzung einer so deutschen wie fatalen Tradition. Thomas Manns Tonio Kröger spricht - freilich vor bald siebzig Jahren - von der "anbetungswürdigen russischen Literatur, die so recht eigentlich die heilige Literatur darstellt". Und bei Rilke findet sich das berühmte und schauderhafte Wort: "Rußland grenzt an Gott." Nein, Rußland grenzt nicht an Gott, sondern etwa an China, die russische Literatur ist nicht heilig, sondern irdisch, und nicht anbetungswürdig, sondern zunächst einmal - wie jede andere Literatur, die man ernst nimmt - kritikwürdig. Und wer sich das Buch, das Bölls neueste Äußerung zum Thema Solschenizyn veranlaßt hat, genauer ansieht, der kann in der Tat ein Wunder erleben. Nur wird es, befürchte ich, ein blaues Wunder sein. Der Band (Alexander Solschenizyn: Im Interesse der Sache. Erzählungen) enthält neben dem berühmten "Tag des Iwan Denissowitsch" sechzehn Prosaminiaturen, die, zumindest in der deutschen Übersetzung, den Eindruck belangloser Notizen machen, sowie sechs Erzählungen.

Eine der kürzeren, die in der Sowjetunion nicht gedruckte Geschichte "Die rechte Hand", die an Julij Danieljs (Nikolai Arshaks) allerdings ungleich originellere Parabel "Hände" erinnert - hier wie da geht es um einen hilflosen Revolutionsveteranen, der einst den berüchtigten Spezialabteilungen angehörte und von dem jetzt niemand etwas wissen will -, ist ein sehr lesenswertes Prosastück.

Die übrigen Erzählungen hingegen sind, klar und grob gesagt, sehr schwache literarische Arbeiten. Ihre Schreibweise unterscheidet sie nicht im geringsten von der in der Sowjetunion schon seit Jahrzehnten üblichen Produktion des sozialistischen Realismus: Auch diese Prosa verbindet simple und bisweilen aufdringliche Didaktik mit intellektueller Anspruchslosigkeit, auch hier entsprechen der konventionellen Milieuschilderung schablonenhaft typisierte Figuren (der vorbildliche Funktionär, der bornierte Funktionär, das brave Mütterchen, die Jugendlichen mit gutem Kern in rauher Schale und so fort).

Trotzdem wurden Solschenizyns Erzählungen, zumal die drei längeren, die 1963 in der Zeitschrift "Nowyj mir" erschienen sind, als sensationell empfunden. Denn dies ist zwar sozialistischer Realismus, doch mit veränderten Vorzeichen. So steht im Mittelpunkt des "Zwischenfalls auf der Station Kretschetowka" die hinlänglich bekannte Gestalt des patriotischen Offiziers und musterhaften Kommunisten, der sich während des Krieges nach der Front sehnt, aber zu seiner Schande Dienst im Hinterland hat. Nur daß er keine Skrupel kennt, einen Unschuldigen als Spion zu denunzieren.

"Im Interesse der Sache" ist die übliche Geschichte vom Enthusiasmus der jungen Generation: Schüler bauen sich eigenhändig ihre neue Schule. Nur stellt sich am Ende heraus, daß in dieses Gebäude auf Anordnung der vorgesetzten Parteiinstanzen eine andere Institution einziehen soll.

Während es erst die Schlusspointen sind, die diese Geschichten einigermaßen rechtfertigen, widersetzt sich die Erzählung "Matrjonas Hof" entschiedener der Schönfärberei. Das Außergewöhnliche in der eher zähen und weitschweifigen Beschreibung des Lebens in einem abgelegenen sowjetischen Dorf beschränkt sich allerdings auf Feststellungen wie: "Bauholz war nicht zu bekommen"; "Früher stahl man. das Holz beim Gutsbesitzer, jetzt klaute man Torf beim Trust"; "Von einer Amtsstube zur anderen wurde sie zwei Monate lang gejagt - eines Kommas, eines Punktes wegen."

Wo derartige Sätze vom Mut des Erzählers zeugen und ihm die Dankbarkeit der Leser sichern, da erfüllt die Literatur eine ganz andere Aufgabe als in unserem Teil der Welt, da werden Romane oder Geschichten vor allem zu Vehikeln für Informationen, die sich nur auf diesem Wege verbreiten lassen.

Das gilt auch für den "Iwan Denissowitsch", in dem Solschenizyn den Ablauf eines durchschnittlichen Tages in einem stalinistischen Arbeitslager schildert. Diese exakte und anschauliche Darstellung, in der Millionen ihre eigenen Erlebnisse wiederfanden, übte einen Einfluß aus, wie er sich, glaube ich, keinem anderen in der Sowjetunion nach 1945 publizierten Buch nachsagen läßt. Kein Zweifel, Solschenizyn hatte eine Tat vollbracht, die man gar nicht genug rühmen kann, und ob es sich dabei auch um eine bemerkenswerte ästhetische Leistung handelt, ist eine Frage, die unerheblich scheint und die erst durch leichtsinnige westliche Urteile provoziert wird. So heißt es im unlängst erschienenen fünften Band von "Kindlers Literatur Lexikon", der "Iwan Denissowitsch" sei "nicht nur ein erschütterndes authentisches Dokument des Leidens einer Generation, sondern auch ein Kunstwerk von höchstem Rang". Indes wird das Buch von den meisten Interpreten immer dafür gelobt, was in ihm nicht zu finden ist: Es sei frei von Pathos, Larmoyanz, Sentimentalität und direkter Anklage. Das alles trifft zu und ist auf dem Hintergrund der sowjetischen Literatur erwähnenswert. Aber der Mangel an Untugenden kann noch nicht den Wert eines literarischen Werks ausmachen.

Was bietet Solschenizyn? Eine solide Mixtur aus Chronik und Reportage, aus Tatsachenbericht und Erzählung, in der er die durchaus alltäglichen Vorfälle aus der Sicht des Iwan Denissowitsch Schuchow zeigt, eines Zimmermanns von betont schlichter Geistesart. Seine "weise, kreatürliche Naivität" sei, behauptet Helen von Ssachno in ihrem nützlichen Buch "Der Aufstand der Person", "das Destillat eines ungemein raffinierten künstlerischen Objektivierungsprozesses". Wirklich?

Mir will es vielmehr scheinen, daß wir es hier eher mit einer literarischen Konvention zu tun haben, nämlich mit jener längst erprobten Perspektive, aus der die meisten Bücher schon über den Ersten Weltkrieg geschrieben waren: Geschildert wird, was im Gesichtskreis des kleinen Mannes ist, der nur das Nächstliegende wahrnimmt, alles geduldig erträgt und sich keine Gedanken über die Ursachen und Zusammenhänge macht.

Auf diese Weise war es Solschenizyn gelungen, einerseits die direkte Kritik des Regimes zu umgehen (und nur deshalb durfte das Buch gedruckt werden), andererseits aber einen Helden in den Mittelpunkt zu rücken, mit dem sich unzählige Bürger der Sowjetunion leicht identifizieren konnten. Zugleich konnte das Lager im "Iwan Denissowitsch" von den Lesern gleichnishaft verstanden werden, was man aber im Westen nicht überschätzen sollte: Seit über hundert Jahren sieht das russische Publikum in nahezu jedem in der Literatur dargestellten Zuchthaus und in jeder Irrenanstalt ein Symbol Russlands.

Und was wäre wohl geschehen, wenn ein deutscher Autor in den sechziger Jahren einen gewöhnlichen Tag in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager beschrieben hätte und sein Manuskript nicht besser und nicht schlechter gewesen wäre als der "Iwan Denissowitsch"? Er hätte wahrscheinlich gar keinen Verleger gefunden - jedenfalls nicht in der Bundesrepublik. Lassen wir uns also nichts vormachen: Solschenizyns Buch ist zwar ein Dokument von außerordentlicher zeitgeschichtlicher und moralischer Bedeutung, doch bestimmt weder "ein Kunstwerk von höchstem Rang" noch - dies meint Georg Lukács - "eine Ouvertüre zur kommenden großen Literatur".

Sein aus dem Jahr 1964 stammender Aufsatz über den "Denissowitsch" ist jetzt zusammen mit einem neuen Essay über die "Krebsstation" und den "Ersten Kreis der Hölle" in einer Broschüre erschienen (Georg Lukács: "Solschenizyn". Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied. 85 S., 6,80 DM) die auf ihre Art zum Solschenizyn-Mythos beiträgt. Die beiden Romane hält Lukács für "einen vorläufigen Gipfelpunkt in der gegenwärtigen Weltliteratur" und für "die ersten bedeutenden Vorboten einer neuen Blütezeit".

So wird ähnlich wie von Böll auch von Lukács das Werk Solschenizyns hochgespielt - freilich aus ganz anderen Gründen. Denn was er hier fortsetzt, ist unmißverständlich und unzweifelhaft sein schon seit bald einem halben Jahrhundert geführter Kampf gegen die westliche "Dekadenz", gegen den Expressionismus und den Surrealismus, gegen Kafka und Joyce, Musil und Faulkner und in den letzten Jahren auch gegen Beckett, und andererseits für einen "Realismus", an den er nach wie vor glaubt und den er mit ungemindertem Enthusiasmus predigt. Solschenizyn wird zur Gegenfigur stilisiert, seine Romane müssen als Argumente in einer Polemik herhalten, die mittlerweile nicht nur historisch, sondern schon anachronistisch anmutet.

Auch ich schätze die "Krebsstation" und, vor allem, den "Ersten Kreis", dieses epische Riesengemälde der Stalin-Zeit, das einem enzyklopädischen Entwurf gleichkommt und das am deutlichsten das außerordentliche Format des Erzählers Solschenizyn erkennen läßt. Aber seine Prosa signalisiert mitnichten neue Möglichkeiten der Literatur, vielmehr beschränkt sie sich im wesentlichen auf jene realistische Schreibweise, die noch ganz dem neunzehnten Jahrhundert verpflichtet ist. Solschenizyn daraus einen Vorwurf machen zu wollen, wäre absurd. Schließlich gilt es zu bedenken, daß dort, wo er lebt, die meisten großen Schriftsteller dieses Jahrhunderts, eben die Repräsentanten der angeblichen "Dekadenz", nicht verlegt werden durften und immer noch unbekannt sind. Daher ist Bölls Behauptung, die Literatur dort könne sich nur aus sich selber erneuern ("der Westen hat ihr da nichts zu bieten, nichts zu verkaufen"), nahezu grotesk. Der Westen hat, da ein großer Teil seiner Literatur aus der Zeit seit dem Ersten Weltkrieg in der Sowjetunion diffamiert und unterschlagen wird, unendlich viel zu bieten, wovon unter anderem das außerordentliche Echo auf die Bücher Bölls zeugt. In der Isolation muß jede Literatur verkümmern, keine kann sich aus sich selber erneuern; und gerade Böll weiß ja, daß sich die sowjetischen Schriftsteller nach der Kommunikation mit dem Westen sehnen, einer Kommunikation freilich, die nicht zur Imitation führen muß.

Mit Solschenizyns traditioneller Schreibweise hängt auch die große Beliebtheit seiner beiden Hauptwerke in der Bundesrepublik zusammen. Was veranlaßt denn die vielen Leser, zu den Romanen des Russen zu greifen? Etwa die Hoffnung, hier jene Auskunft über die Sowjetunion zu entdecken, die sich den Zeitungen und den Sachbüchern nicht entnehmen läßt? Das kann die Bestsellererfolge nicht ganz erklären. Es ist wohl eher so, daß ein großer Teil des Publikums in diesen Romanen findet, wonach er sich sehnt und was die heutige deutsche Literatur kaum zu bieten hat.

Denn was immer Solschenizyn erzählt und was er auch bewirken möchte - er mutet den Lesern kaum Anstrengungen zu; so ernst seine Prosa ist, so leicht und bequem läßt sie sich konsumieren; so düster und makaber die geschilderten Vorfälle, so unterhaltsam und spannend sind, wenigstens streckenweise, die beiden Romane, zumal der "Erste Kreis". Wer der Schwierigkeiten, die die moderne Literatur bereitet und leider bereiten muß, überdrüssig ist, genießt diese Lektüre mit besonderer Genugtuung: Er versteht alles, langweilt sich selten und braucht sich nicht zu genieren, da er tatsächlich Beachtliches liest und man ihm überdies einredet, er habe es mit dem Gipfel der Weltliteratur zu tun.

Vor allem aber: Hier gelten noch moralische Gesetze, hier, in diesen mit großer Souveränität erzählten Prosawerken, herrscht, was in der deutschen Literatur fast nur auf der Ebene von Luise Rinser und Stefan Andres zu haben ist - der Glaube an das Gewissen und die Redlichkeit des Individuums, an Freundschaft und Kameradschaft, an eheliche Treue und reine Liebe, an die Unzerstörbarkeit des Menschen, der sich gerade unter den schrecklichen Bedingungen als edel, hilfreich und gut erweist.

So erfüllen die Romane des einsamen Mannes aus Rjasan in der bürgerlichen Welt Westdeutschlands eine Funktion, an die er nicht einmal gedacht haben kann. Aber vermutlich geht ihn das alles nicht sonderlich an, denn nicht für den Westen, den er überhaupt nicht kennt, hat er seine Bücher verfaßt. Und vermutlich sind für ihn Fragen der Ästhetik nebensächlich oder gar gleichgültig. Offenbar fühlt er sich einer einzigen Aufgabe verpflichtet: dem zu dienen, was er als die Wahrheit erkannt hat.

Daß er dieses Ziel mit äußerster Entschiedenheit und Kompromißlosigkeit verfolgt, das ist bekannt. Er hat 1967 in einem Brief an den sowjetischen Schriftstellerkongreß erklärt: "Ich bin bereit zu sterben, damit die Wahrheit lebe." Wie Solschenizyns Bekenntnis - ich scheue mich zu sagen: Programm - von seinem ganzen Werk beglaubigt wird, so auch dieses Werk von seinem Leben, von seinen Leiden. Ihn dafür zu loben, steht uns, die wir im Westen schreiben, nicht zu.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: DIE ZEIT, 1.5.1970. Wir danken Marcel Reich-Ranicki für die Genehmigung zur Nachpublikation in literaturkritik.de. Die bibliographische Angabe zu dem 1970 erschienenen Buch lautete: Alexander Solschenizyn: "Im Interesse der Sache", Erzählungen, aus dem Russischen von Mary von Holbeck, Leoni Labas, Elisa Marin, Christoph Meng und Ingrid Tinzmann; Bücher der Neunzehn 183, Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied; 454 S., 12,80 DM. Das Buch ist nicht mehr lieferbar, aber bei Amazon.de antiquarisch erhältlich.