Dichtung und Wahrheit im Land der Berge

Essad Beys imaginierter Streifzug durch den Kaukasus

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Nirgends wird das Unglaubliche so rasch zur Wirklichkeit, und die Wirklichkeit so eilig zur üppigen Legende wie dort. Es liegt offenbar in der Natur der Berge, die trockene Wirklichkeit, die einfache Tatsache in ein phantastisches Märchen zu verwandeln, sie mit der Romantik der Bergnebel zu verschleiern."

Wir wollen diesen Worten Essad Beys - alias Lev Abramovic Nussimbaum - Glauben schenken und sie in diesem Falle auch für den Inhalt seines 1930 veröffentlichten zweiten Buches mit dem Titel "Zwölf Geheimnisse im Kaukasus", aus dem das obige Zitat stammt, gelten lassen. Denn in vielleicht keinem anderen Werk des "Orientalisten" sind Dichtung und Wahrheit, Imaginiertes und Reales so miteinander verquickt, wie in diesem, zur Hochphase der Orient-Reise-Literatur publizierten, Band über das "Land der Berge".

Im Gegensatz zu seiner 1929 erschienenen Autobiografie "Öl und Blut im Orient", in der eigene Erlebnisse mit Exkursionen in die Geschichte und Kultur des jeweils gerade bereisten Landes abwechseln und in der somit ein relatives Gleichgewicht zwischen Persönlichem und Allgemeinem herrscht, scheint dieses 2. Buch sehr viel persönlicher zu sein. So bilden die Geschehnisse, die Essad Bey in seinem Buch "12 Geheimnisse im Kaukasus" begegnen, lediglich eine schwache Rahmenhandlung, denn sie dienen nur dazu, das in der Binnenhandlung Erzählte zu legitimieren und anzutreiben.

Worum geht es dabei überhaupt? Essad Bey, der Sohn eines aserbaidschanisch-muslimischen Ölmillionärs aus Baku, erkrankt im Sommer 1916 an Malaria und darf nach langen und zähen Verhandlungen mit seinem Vater schließlich seinen Milchbruder Ali-Bey (also den ehemaligen Mitsäugling seiner kaukasischen Amme) in dessen in den Bergen gelegenes Heimatdorf begleiten, um sich dort von der Krankheit zu erholen. In dieser Phase der Rekonvaleszenz spielt nun gewissermaßen die Binnenhandlung des Buches. Und man merkt: Alles, was bisher geschah, war nur ein Versuch des Autors, einen Vorwand zu finden, um wieder seiner Lieblingsbeschäftigung zu frönen - nämlich Geschichte(n) zu erzählen.

Und Essad Bey liefert eine Erzählung nach der anderen, wahre wechseln mit ausgedachten, uralte mit neueren. So berichtet er von seinen Reisen durch das "Land der Berge" mit dessen unzähligen Völkern, von dem jedes eine eigene Sprache besitzt. Er unternimmt einen Ausflug in die Historie des Sklavenhandels im Kaukasus, spricht über die von den umliegenden Großreichen als Tribut geforderten Sklavenmädchen und -jungen und schwärmt schließlich von Scheich Schamil, der den russischen Invasoren in der Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Dezennien Paroli bietet, bis seine übermächtigen Gegner die Taktik der "verbrannten Erde" anwenden und so allmählich seinen Widerstand brechen.

Wie in "Öl und Blut im Orient" greift der Autor auch in diesem Buch antike, mittelalterliche und moderne Begebenheiten auf und verbindet sie so miteinander, dass der Eindruck entsteht, der Kaukasus sei das Gebiet par excellence, wenn es um die Bildung einer Einheit von Vergangenem und Gegenwärtigem beziehungsweise um das Auftreten der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in besonders krasser Erscheinungsform. So schildert Bey zunächst die Überfälle russischer Revolutionäre, ihre sogenannten "Exe" (Expropriationen), die oft von einem Mann angeführt werden, der nach Lenins Tod Generalsekretär der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion wird. Ein paar Kapitel später wird Alamut beschrieben - die Festung, in der Hassan-i-Sabbah seine Assassinen auf ihre Selbstmordanschläge vorbereitete. Sieht der Autor zwischen beiden Bewegungen vielleicht Parallelen?

Geschichten mit ähnlichen Themen tauchen immer wieder auf, so wenn Essad Bey von Christen berichtet, die den Namen Christi nicht kennen, und dann Kaukasier vorstellt, die sich für die Nachfahren der Römer halten beziehungsweise für die der "Allemanen", der einst aus Syrien eingewanderten Kreuzritter...

Kann man all das, was der Autor so überzeugend und voller Fabulierlust äußert, tatsächlich für bare Münze nehmen? Zwar führt er gelegentlich europäische Wissenschaftler seiner Zeit an, die sich genau mit diesen Themen beschäftigt haben, um seine eigenen Aussagen zu rechtfertigen. Doch dann stellt er seine eigenen Geschichten wieder völlig in Frage, wenn er von Erscheinungen berichtet, die nur schwer vorstellbar sind: "Ganz nahe bei Tiflis liegt Chewsurien, und doch ist das Land frei, unabhängig, kein Polizist wagt sein Opfer nach Chewsurien zu verfolgen. Eine riesige Felsenmauer umgibt Chewsurien und trennt es von der übrigen Welt. [...] Von der Felsenmauer in den Abgrund hinab hängt ein langes Seil. Wer Mut hat, kann das Seil umklammern und sich zu den Chewsuren herablassen. Die Polizei tut es nicht, was sollen auch ein paar Mann in dem freien Chewsurien? [...] Das Seil zu benutzen, wagt nur der Flüchtling, der, wenn er will, in die Gemeinschaft der Chewsuren aufgenommen wird und dann für immer von allen Gefahren geborgen ist."

Versteht der Leser eine solche Textstelle jedoch nicht buchstäblich, sondern im übertragenen Sinne, dann erschließen sich ihm Essad Beys "Zwölf Geheimnisse im Kaukasus": Die vielen, bunten Geschichten voll von landschaftlichen Unzugänglichkeiten und Freiheiten, von männlichen Heldentaten, Abenteuern und zahlreichen ungelösten Mysterien der Völker, bilden so zusammen das, was Tom Reiss in seinem Nachwort als Lev Abramovic Nussimbaums "Orient der Imagination" bezeichnet: Ein fantastisches Märchenland, in das man sich zurückziehen kann, um zumindest eine Zeit lang das auszuleben, was die "Prosa des Lebens" nicht zulässt - und das dann besonders intensiv, wenn man, wie der jüdisch-muslimische Schriftsteller, tatsächlich seine Heimat verloren hat. Vielleicht klammert sich der "Orientalist" gerade deshalb an dieses Bild und beschwört es in seinen späteren Werken immer wieder herauf. In seinen Äußerungen zu Beginn des Kapitels "Beinahe Kitsch und Ende" wird seine literarische Flucht in das "Land der Berge" indirekt thematisiert. Trotz aller Verklärung reißt er auch die Gefahr einer endgültigen "Entzauberung" des Kaukasus an - und damit die seiner selbst: "Viele wunderbare Geschichten hörte ich im Kaukasus von Räubern, Freiheitskämpfern, Schatzgräbern und schönen Frauen. Vielleicht sind viele von ihnen Fabeln. Und dennoch sind sie ebenfalls wahr wie alles, was sich durch Inschriften, alte Manuskripte, vergilbte Archivblätter und Register nachweisen läßt. Wer den Kaukasus kennenlernen will, braucht nicht in alten Pergamenten und fragwürdigen Museumsraritäten zu wühlen. Wichtig ist das, was der Kaukasier über sich und sein Land zu sagen weiß, denn wahrlich, kein Dichter glaubt inniger an die Erzeugnisse seiner Phantasie als der Kaukasier, der beispielsweise seelenruhig auf einen Berg zeigt und erklärt, der Berg sei innen aus reinem Gold. Für ihn ist es die Wahrheit, und jede andere Wahrheit wird er ehrlich entrüstet verwerfen. Den Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit kennt man in den Bergen noch nicht. Wird dort je die traurige Erkenntnis durchdringen, daß nicht alle Berge aus Gold und nicht alle Räuber auch gleichzeitig Ritter sind?"


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Essad Bey: Zwölf Geheimnisse im Kaukasus.
Verlag Hans-Jürgen Maurer, Freiburg 2008.
264 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783929345339

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