Eine Groteske des falschen Bewusstseins

Zur Erstveröffentlichung von Gisela Elsners "Otto der Großaktionär"

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Otto ist, wie schon der Romantitel ankündigt, Großaktionär: Immerhin fünf Aktien des FATA-Konzerns nennt er sein eigen. Bei diesem Unternehmen arbeitet er als "Tierbetreuer". Betreuung heißt hier, in Testreihen für Ungeziefervertilgungsmittel das Ungeziefer eben jenen Mitteln auszusetzen. Weil sich aber die Ratten, allen Berechnungen zum Trotz, als recht zäh erweisen, muss Otto als der "Tiervertilger", der er eigentlich ist, zu gröberen Methoden greifen: Das Viehzeug wird per Beil geköpft. So stimmt wenigstens das Ergebnis mit dem der Wissenschaft überein. Als der Abteilungsleiter die "Tierbetreuer" verdächtigt, die Versuchsreihen zu sabotieren, muss eine andere Mordmethode her: Mit einer Nylonschnur werden die erstaunlich lebenskräftigen Tiere erwürgt.

So lassen sich zwar überzeugend verendete Kadaver vorweisen, doch dauert die allseitige Zufriedenheit nur kurz. Bei den Käufern des Produkts überleben die Ratten, der Absatz bricht ein, und am Ende ist Otto arbeitslos. "Ohne das ma's merkt, sinkt ma immer tiefer", konstatiert seine Frau.

Mit "Otto der Großaktionär" legen der Verbrecher Verlag und die Herausgeberin Christine Künzel eine so unerwartete wie wichtige Ergänzung des Werks von Gisela Elsner vor. Im Nachlass fand sich dieses Romanmanuskript, das wohl zwischen 1986 und 1988 entstand. Es hat, und darin ist es einzigartig in Elsners Werk, einen Arbeiter zur Hauptfigur; und es verdeutlicht die fast singuläre Stellung der Autorin in der westdeutschen Literatur dieser Zeit. Empfindsam-sentimentale Subjektivismen fehlen ebenso wie postmoderne Spielereien oder Mythisierungen der Welt à la Peter Handke oder Botho Strauß. Statt dessen findet sich ein genauer Blick auf soziale Verhältnisse. Elsner wendet sich gegen gesellschaftliche Missstände, doch weder im Sinne eines konstruktiven Reformismus noch in Form eines mitleidsheischenden Jammerns. Ihre Literatur ist im besten Sinne radikal, insofern sie das Übel sprachlich durchschaubar zu machen versteht.

Sie steht darin Elfriede Jelinek nahe - zu erklären wäre also, warum Jelinek sich in prekärer Zeit trotz massiver Kritik im Geschäft zu halten verstand und Elsner vor ihrem Suizid 1992 an den Rand des Literaturbetriebs gedrängt wurde. Wahrscheinlich sperrt sich Jelineks Werk einer reduktionistischen, auf eine postmoderne Inszenierung des Körpers bezogenen Lesart weniger als Elsners deutlicher Antikapitalismus.

Wie bei Jelinek, so spielt auch bei Elsner die Sprache eine große Rolle dabei, Herrschaftsverhältnisse zu entlarven. Wo aber bei Jelinek das Sprachspiel bis hin zum Kalauer, das virtuose Jonglieren mit verfremdeten Redewendungen im Vordergrund stehen (und in manchen neueren Werken zum Selbstzweck tendieren), da scheint bei Elsner eine bedenkliche Schwerfälligkeit die Freude an der Lektüre zu beeinträchtigen. Jede erste Seite jedes ihrer Bücher schreckt ein wenig ab: Satz-Ungetüme erstrecken sich über viele Zeilen und haben doch so gar nichts von Thomas Manns raunend-schmeichelndem Erzählton. Ganze Blöcke von Wörtern, die der Leser längst begriffen hat, werden wiederholt, wo jede Stilfibel zur eleganten Verkürzung raten würde. Doch entsprechen die vertrackten Formulierungen genau den vertrackten Verhältnissen; und bald entsteht ein Lesefluss, in dem das Hochkomische der Sprache zutage tritt. Die umständliche Formulierung ist Elsners satirisches Mittel, die umständlichen und falschen Verhältnisse durchschaubar zu machen; und das falsche Verhalten der von ihnen Betroffenen. Peter Hacks' Kritik, Elsner benötige zu viele Wörter für einen Witz, nimmt dessen verknappte Formulierungskunst zum Maßstab und verfehlt den Umstand, dass auf den vielen Worten eben der Witz beruht.

Otto der Großaktionär ist schon durch den Buchtitel als Repräsentant eines falschen Bewusstseins bezeichnet. Zwar fährt er einen reparierten alten Mercedes, der fast so aussieht wie der gepanzerte Wagen des Direktors, und kassiert Dividenden. Doch die reichen nicht einmal, seinen Trinkkumpanen einige Schnäpse auszugeben. Sein halbseidener Sohn, der einen Sozialaufsteiger markiert, ohne es zu sein, will bald mit den ihm peinlichen Eltern kaum mehr etwas zu tun haben. Vor allem: Otto stinkt. Er stinkt wie alle Arbeiter der Ungeziefervertilgungsmittelfabrik, die nicht, als Alternative, unter einem rosa Ausschlag leiden. Die Fabrik, wennschon ihre Produkte die Ratten leben lassen: die Menschen in ihr sterben über kurz oder lang.

Otto identifiziert sich mit der Klasse der Besitzer - am Arbeitsplatz in der Fabrik, die ihn zu einem winzigen Anteil gehört, wird er behandelt wie der letzte Dreck. Diese Umstände machen ihn zu einer komplexen Figur. Er ist sowohl der autoritäre Charakter, der sich mit den Oberen identifiziert und Ansätze von Widerstand bekämpft, als auch der Saboteur, der von oben gezwungen und gegen die objektiven Interessen der Oberen eine korrekte Überprüfung der chemischen Berechnungen verhindert. Zuletzt kämpft er gegen alle: gegen rebellischere Kollegen wie auch gegen den unmittelbar Vorgesetzten.

In seiner Not wird er etwas wie eine Ich-AG - auch wenn Elsner dieses Wort noch nicht kennen konnte. Gegen Bezahlung nimmt er an Tests in jenem Teil der Fabrik teil, dem nach dem Misserfolg der Ungeziefervertilgungsmittel die Zukunft gehört: dem, so der Fabrikjargon, "Auschwitzel". Hier geht es um die Bekämpfung von Menschen. Otto lässt sich mit chemischen Kampfstoffen besprühen, fällt Mal um Mal in eine Ohnmacht, die er am Ende gar noch als wohltuende Pause empfindet, während schwächere Versuchsteilnehmer in die Notaufnahme gebracht werden müssen.

Die Nähe von Kapitalismus und Faschismus ist Thema besonders der späteren Bücher von Elsner. Der Faschismus wird als Herrschaftsform aktuell, wenn die erprobten demokratischen Mittel nicht mehr ausreichen, eine grundsätzliche Änderung der Gesellschaft zu verhindern. Wie verhält sich das in "Otto der Großaktionär"?

Das Buch ist zum einen eine Abrechnung mit einem Terrorismus à la RAF. Die Tochter des Fabrikbesitzers inszeniert sich als Rächerin der Entrechteten und steigert ihre Gewalttaten bis hin zu einem Bombenanschlag auf die Pförtnerloge der Fabrik ihres Vaters, der dem Pförtner einen Arm kostet und so der Fabrikleitung die Möglichkeit einträgt, eine Großentlassung ohne Proteste durchzuziehen. Nicht individuelle Gewalt ist also die Lösung, vielleicht aber etwas, was im Roman nur ganz vermittelt vorkommt: Massenproteste, vor denen die Mächtigen soviel Angst haben, dass den Produkten im "Auschwitzel" die Zukunft gehört.

Wie stellt sich das zwanzig Jahre später dar? Die Herausgeberin Christine Künzel akzentuiert in ihrem Nachwort die Aktualität des Textes. Sie wendet sich begrüßenswert deutlich gegen den immer noch vorherrschenden Neoliberalismus und kann in Einzelaspekten wie anhand der allzu lange gehegten Überzeugung Ottos, es komme auf die individuelle Leistung an, durchaus Parallelen zu aktuellen Ideologien aufzeigen. Doch insgesamt merkt man, wie es doch sogar einem sehr klugen Buch an prognostischen Qualitäten mangelt.

Manche Zahlen Elsners, zielten sie auch auf gerechtfertigten Hass, wirken aus heutiger Sicht doch fast rührend. Zwei Millionen Arbeitslose wären heute ein Triumph der Regierung und kein Anlass mehr zum Protest. Dass, wie Elsner damals als Argument nutzen konnte, ein Vorständler im Monat soviel verdient wie ein Arbeiter in einem Jahr, würde wohl kaum mehr der linke Flügel der Linkspartei als Fernziel formulieren wollen. Wer den Jahresverdienst eines Managers auf das Lebenseinkommen eines Arbeiters begrenzen will, gilt heute wohl als Kommunist. Der Chemiewaffen des "Auschwitzel" bedurfte es nicht: Die Verschlechterungen der letzten Jahrzehnte wurden von Wirtschaft und Politik ohne ernsthafte Kämpfe durchgesetzt.

Ideologisch ist heute vielleicht einiges anders als Elsner es schildert. Zwanzig weitere Jahre Massenarbeitslosigkeit haben den Aspekt der Schande, davon betroffen zu sein, abgeschwächt. Der Ton auf dem Amt dürfte heute nur mehr selten so ruppig sein wie von Elsner dargestellt. Der Krieg der Herrschenden gegen die Verarmten ist heute im Stil verbindlicher, in der Sache aber, zumal nach den Reformen der Agenda 2010, konsequenter. Die Bittsteller sind zu Kunden geworden, die aber umso schneller aufs Existenzminimum herabgezwungen werden.

Der Kernpunkt aber stimmt nach wie vor: das Ineinander von Zustimmung und zynischer Sabotage, das die Komplexität von Otto Rölz ausmacht, besteht immer noch. Es mag anders aussehen, denn die kleinbürgerliche Solidität, die Otto erstrebt und beinahe erreicht, tritt als Muster zurück. Sie wird durch asozialen Verfall bei den Unteren wie durch postmodernes Lebenskünstlertum bei jenen, die noch auf einen Aufstieg hoffen, ersetzt. Auch was das Vertrauen in die große Politik angeht, dürfte es damit nicht so weit hersein wie vor zwanzig Jahren. Die Zustimmung zum Konkurrenzkampf aber besteht heute als medial vermittelte fort; der Zuschauer jeder casting show kann sich als kleiner Personalchef fühlen.

Fast durchschaut man das System, doch irgendwie macht man mit und will sich identifizieren. Man sehnt sich danach, gute Arbeit abzuliefern - doch die Verhältnisse erzwingen Schlamperei, und schludert man erfolgreich (was man nie gewollt hat), so fühlt man sich doch als kleiner Sieger im großen Betrugsgeschäft.

Elsners Roman ist klug, scharfsichtig, brillant formuliert und sowohl Lesevergnügen als auch Mittel zur Erkenntnis der Welt. So fragt sich, weshalb die Autorin das Manuskript, anders etwa als den fast gleichzeitig entstandenen Roman "Heilig Blut", nicht einmal zu publizieren versucht hat. Vielleicht ist sogar, der Einschätzung der Herausgeberin entgegen, nicht einmal von einem fertigen Roman zu sprechen: Immerhin hat Otto bis zum Ende noch nicht alle seine Aktien verloren und wird auf den letzten Seiten mit einem Streit mit Ottos Frau, die weiterhin arbeitet und also stinkt, eine neue Konfliktlinie eröffnet. Möglicherweise also hat Elsner Ottos Niedergang nicht bis zum Ende beschrieben und drängten sich andere Projekte wie der noch bei weitem nicht in seiner Bedeutung gewürdigte Roman "Fliegeralarm" in den Vordergrund. Elsners Spätwerk stellt noch viele Fragen und ist ein Schatz der neueren deutschen Gegenwartsliteratur, der gerade erst gehoben wird.


Titelbild

Gisela Elsner: Otto der Grossaktionär.
Herausgegeben von Christine Künzel nach der Typoskriptfassung.
Verbrecher Verlag, Berlin 2008.
172 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426093

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