Eine medienübergreifende Narratologie

Nicole Mahne gibt einen Überblick über die Anwendung narratologischer Analysekriterien in verschiedenen Medien

Von Christine HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Narratologie ist ein Forschungsgebiet in Bewegung: Aktuelle Ansätze in der Erzähltheorie richten ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf das Erzählen in anderen als schriftbasierten Medien. Dieser bei Vandenhoeck & Ruprecht und als UTB-Lehrbuch erschienene Band liefert dafür das nötige Grundlagenwissen. Der Titel verspricht eine "transmediale Erzähltheorie". Löst die Autorin diesen Anspruch ein? Um es gleich vorwegzunehmen: nein. Dafür bietet dieser Band aber etwas anderes: eine anschauliche praktische Einführung in "transmediale" Analysetechniken.

"Erzählen ist intermedial", stellte schon Werner Wolf im von Vera und Ansgar Nünning herausgegebenen Sammelband "Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär" fest. Und doch erzählt "ein Comic [...] anders als ein Roman, ein Hörspiel anders als ein Film". Wie verändert die mediale Präsentationsform die Möglichkeiten des Erzählerischen? Dieser Frage widmet sich Nicole Mahne in ihrem Band "Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung", in dem sie den narrativen Leistungsmöglichkeiten verschiedener Medien nachgeht.

Dabei geht die promovierte Germanistin davon aus, dass die konkreten Erscheinungsformen des Narrativen an die Darstellungsmöglichkeiten und -grenzen des Erzählmediums gebunden sind. Speziell beim Medienwechsel (zum Beispiel bei einer Romanverfilmung) wird das augenscheinlich. Mahne wendet sich gegen die Annahme einer verlustfreien Übertragbarkeit einer Geschichte, indem sie unterstreicht, dass Medien keine "neutrale[n] Transportbehältnisse für beliebig austauschbare Inhalte" sind, sondern wesentlich "die Ausdrucksform und damit auch den Ausdrucksinhalt des Erzählten" prägen. Sie verfolgt dabei einen transmedialen Ansatz, wobei sie mit "transmedial" in Anlehnung an Irina O. Rajewsky jene Phänomene bezeichnet, die in verschiedenen Medien mit unterschiedlichen Mitteln zum Ausdruck gebracht werden können.

Die Verfasserin beleuchtet verschiedene Medien aus narratologischer Perspektive und zeigt deren narrative Techniken auf. Dabei geht sie von der Prämisse aus, dass die in der literaturwissenschaftlichen Erzählforschung entwickelten Begriffe und Analyseinstrumentarien angepasst und erweitert werden müssen, um den spezifischen Möglichkeiten anderer Medien Rechnung zu tragen. Dessen ungeachtet sind die Beschreibungskategorien, anhand derer sie die Darstellungsmöglichkeiten in den verschiedenen Medien vergleicht, dem Roman entlehnt. Zu hinterfragen wäre dabei, ob nicht eine solche am Roman orientierte Terminologie eine bestimmte Art der Narrativität auch für die anderen Medien voraussetzt. Doch geht Mahne bei den einzelnen Medien dann auch immer wieder explizit auf narrative Techniken ein, die dem Roman nicht zur Verfügung stehen. So verweist sie bei der Besprechung des Films zwar immer wieder vergleichend auf den Roman, beschreibt aber auch Techniken und Effekte, die keine Entsprechung im Roman haben.

Dieser Band stellt einen ambitionierten und geglückten Versuch dar, einen Einblick in eine faszinierende neue Forschungsrichtung zu geben. Mahnes Arbeit verbindet Literatur-, Film- und Medienwissenschaft und ist ein Plädoyer für eine interdisziplinäre und medienübergreifende narratologische Vorgangsweise.

Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der praktischen Anwendbarkeit der Kriterien in der Werkanalyse. Da wird gefragt: "Welche narratologischen Strukturelemente werden im Roman unterschieden?" "Wie wird im Comic erzählt?" Oder auch: "Mit Hilfe welcher Analysekriteria kann die Erzählstruktur von Filmen untersucht werden?"

Im Anschluss an die Einleitung und einen kurzen Überblick über die Geschichte des Erzählbegriffs, die narrative Medien und den Medienbegriff, werden in den nachfolgenden fünf Kapiteln, die mit 100 Seiten den Schwerpunkt des Bands ausmachen, die Medien Roman, Comic, Film, Hörspiel und Hyperfiktion im Hinblick auf ihre narrative Techniken analysiert und ihre narrativen Möglichkeiten und Grenzen beleuchtet. Dabei konzentriert sich die Verfasserin auf die Aspekte Zeit- und Raumgestaltung, Erzählinstanz, Fokalisierung und Perspektive.

Tabellarische Übersichten fassen am Ende eines jeden Kapitels die behandelten Kriterien stichwortartig zusammen. Abgerundet wird dieser Einführungsband durch einen tabellarischen Vergleich der behandelten narrativen Medien, eine Auswahlbibliografie, die die Basiswerke zu den einzelnen Medien angibt, sowie ein Sachwort- und Namensregister.

Die den einzelnen Medien gewidmeten Abschnitte weisen erheblich unterschiedliche Längen auf - so werden Comic und Film auf jeweils circa 30 Seiten besprochen, während für das Hörspiel sechs Seiten als ausreichend betrachtet werden. Die an sich schon mehrere "Medien" (Bild und Text beziehungsweise Ton) kombinierenden Kunstformen Comic und Film erhalten nicht nur die ausführlichste Behandlung, sondern stellen auch die überzeugendsten Kapitel dar, in denen ein relativ umfassender erster Überblick über ihre medienspezifischen Darstellungsmöglichkeiten geboten wird.

Im Kapitel über den Comic diskutiert Mahne vor allem jene Erzählformen, die in anderen Kunstgattungen nicht oder in geringerem Maße darstellbar sind, dabei werden Zeit- und Raumdimensionen am ausführlichsten behandelt. Zahlreiche Beispiele machen dieses Kapitel sehr anschaulich.

Das folgende Kapitel ist dem Film gewidmet, wobei immer wieder auf Parallelen und Unterschiede zum Comic beziehungsweise Roman hingewiesen wird. Der Schwerpunkt liegt auch hier auf Zeit- und Raumdimensionen, dadurch kommt die Behandlung des Elementes "Sprache, Musik und Geräusche" etwas zu kurz - der wichtige Aspekt der Filmmusik als Bedeutungsträger und narratives Element beispielsweise wird gerade nur auf sieben Zeilen erwähnt.

Nach einem kurzen Kapitel zum Hörspiel befasst sich das letzte der Anwendungskapitel mit der Hyperfiktion, einem literaturwissenschaftlichen "Randphänomen", das jedoch gerade als neues Medium auch neue Möglichkeiten für die narrative Darstellung und Vermittlung bietet. Mahne stellt dabei verschiedene digitale Textraummodelle vor und vergleicht die Link-Kategorisierungssysteme. Dieses Medium ist im Vergleich zu den anderen noch weit weniger erforscht, stellt aber gerade deshalb ein "zukunftsträchtiges" Forschungsobjekt dar.

Der Band überzeugt vor allem in den anwendungsorientierten Kapiteln, in denen die begrifflichen und methodischen Werkzeuge für die Analyse von Werken vorgestellt werden, ohne viel narratologisches oder filmanalytisches Vorwissen vorauszusetzen. Es ist der Autorin in diesem kurzen Band gelungen, eine klar strukturierte, leicht verständliche und zielgruppengerechte Einführung in die verschiedenen medienspezifischen Darstellungsformen der wichtigsten narrativen Strukturelemente zu geben, Parallelen und Differenzen zwischen den narrativen Möglichkeiten und Grenzen in verschiedenen Medien aufzuzeigen, ohne medienspezifische Differenzierungen in einer allumfassenden "transmedialen Theorie" aufgehen zu lassen. Von einer (narratologischen Studien oft inhärenten) "Theorielastigkeit" ist hier nichts zu merken.

Eine Fülle von Beispielen illustrieren die diskutierten narrativen Techniken und führen deren praktische Anwendbarkeit bei der Analyse verschiedener Medienprodukte vor. Ein Nachteil dabei ist, dass entsprechend dem Trägermedium Buch die Beispiele lediglich in Textform beschrieben beziehungsweise mit Abbildungen versehen werden können; bei den Kapiteln Film, Hörspiel und Hyperfiktion ist es dadurch nicht mehr möglich, die Beispiele medienadäquat wiederzugeben (ein Problem, dass sich wohl nur durch das Beilegen einer DVD vermeiden ließe).

Die medienspezifische Fachterminologie wird kurz, aber klar erklärt, was nicht nur Studienanfängern zugute kommt, sondern auch die interdisziplinäre Kommunikation zwischen Experten verschiedener Fachgebiete erleichtert.

Dem Vorteil der Praxisbezogenheit steht allerdings der Nachteil gegenüber, dass die im Titel angekündigte "Theorie" zu kurz kommt: der theoretische Teil umfasst gerade einmal dreizehn Seiten. Der theoretisch-methodische Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes wird damit nicht ausreichend fundiert. Von einer Einführung in eine "transmediale Erzähltheorie" kann also nicht die Rede sein. Zwar darf man dabei nicht übersehen, dass auch einige Hinweise auf medienspezifische theoretische Studien in den anwendungsorientierten Kapiteln verborgen sind, aber gerade in einer Einführung hätte man sich ein wenig mehr theoretischen Hintergrund zur Problematik des Begriffs und zum Forschungsstand auf dem Gebiet der Inter- und Transmedialität gewünscht. Ein Überblick über den Stand der Forschung wurde offenbar bewusst zugunsten einer mehr praxisorientierten Darstellung beiseite gelassen. Die Autorin bezieht sich zwar auf aktuelle Arbeiten, trägt aber dabei den zum Teil voneinander abweichenden Forschungsmeinungen zu den Begriffen Inter- und Transmedialität (zum Beispiel bei W. Wolf oder J. Paech) nicht genügend Rechnung. Rajewsky etwa versteht unter "intermedial" eine Kombination von Medien und unter "transmedial" Phänomene, die in verschiedenen Medien in verschiedener Weise auftreten können. Diese werden in Wolfs Terminologie aber nun gerade als "intermedial" bezeichnet. Auf diesen unterschiedlichen Terminologiegebrauch geht Mahne jedoch nicht ein, wenn sie auf Wolfs "Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie" als einen "transmedialen Ansatz" verweist. Auch wenn es im Rahmen eines Einführungsbandes nicht möglich - und auch nicht nötig - ist, auf alle Fragestellungen einzugehen, so sollte doch auf den unterschiedlichen Terminologiegebrauch in den verschiedenen Forschungsarbeiten hingewiesen werden - allein schon, um einer möglichen Verwirrung bei der Lektüre weiterführender Forschungsliteratur vorzubeugen.

Diesen Band als eine Einführung in die transmediale Erzähltheorie zu betiteln ist somit irreführend; ein Titel, der die Praxisorientierung betont (etwa: "Einführung in die narrative Analyse verschiedener Medien") würde dem Inhalt besser entsprechen, und den Lesern deutlicher zeigen, was sie - und dies ist durchaus im positiven Sinn gemeint - erwarten können und dürfen.

Als ein weiterer Kritikpunkt müssen leider auch formale Mängel genannt werden: Silbentrennungsfehler (wie "medie-nunspezifisch"), die das Verständnis unnötig erschweren, banale Tippfehler (deren Häufigkeit gegen Ende des Bandes ansteigt) und andere Flüchtigkeitsfehler (wenn etwa der im Literaturverzeichnis korrekt unter dem Titel "Sixth Sense" angeführte Film im Fließtext zu "Six Senth" wird). Ein aufmerksameres Lektorat wäre für eine Neuauflage anzuraten.

Trotz dieser Einschränkungen kann das Buch jedem Studierenden, der sich mit intermedialen Vergleichen befasst, ans Herz gelegt werden. Es bildet einen guten ersten Einstieg in die narrativen Techniken der verschiedenen Medien. Mit seinem anwendungsorientierten Schwerpunkt liefert dieser Band wertvolle Anregungen und Hilfestellung für Textanalysen beziehungsweise Analysen von Werken in anderen Medien und ist dank seiner leicht verständlichen Sprache auch für Studierende in der Anfangsphase empfehlenswert.

Der Band ist für Studierende verschiedener Fachrichtungen geeignet, die Werke narrativer Medien systematisch, mittels einer klaren Begriffssprache und auf der Grundlage medienübergreifender Fragestellungen analysieren möchten, und ist sicher nicht nur für angehende Literaturwissenschaftler von Interesse. Damit ist er auch ein Beitrag, um interdisziplinäres Arbeiten und Forschen zu fördern.


Titelbild

Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007.
143 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783825229139

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