Ein Rinnsal neuer Erkenntnisse

Oliver Hilmes' neu erschlossene Quellen zum Leben der Cosima Wagner sprudeln nur spärlich

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Und noch eine Cosima-Biografie! Nach Joachim Köhlers fiktiver, aber gut recherchierter Lebensbeichte ("Ich, Cosima.", Berlin 2006) hat sich nun auch Oliver Hilmes der "Herrin des Hügels" mit dem Versprechen gewidmet, auf knapp 500 Seiten eine auf den ersten Blick beeindruckende Menge an bislang nicht ausgewerteten Quellen auszubreiten.

Das Leben Cosima Wagners wird dabei in sechs Abschnitten präsentiert, von denen zwei auf rund 100 Seiten ihr Leben vor Richard Wagner beleuchten, ein 110-seitiger Abschnitt ihr Leben mit dem Meister und die restlichen drei auf gut 200 Seiten Cosimas Leben nach Wagners Tod zum Thema haben. Entsprechend der von Hilmes ausgewerteten Quellen ist dieser letzte Teil der interessanteste und auch der Teil, der tatsächlich neue Informationen beisteuert - wenngleich bei weitem nicht in dem Maße, in dem man sich dies nach der Lektüre des recht selbstbewussten Prologs ("die intimsten Quellen sprudeln [...]: unzensierte Briefe und Tagebuchnotizen") erwartet hat. Die eigentliche und nachwirkende Enttäuschung resultiert allerdings aus der Diskrepanz zwischen den doch recht vollmundigen Ankündigungen und dem, was diese fast 500 Seiten zu bieten haben: zu wenig Neues und zu viel Altes und Bekanntes, und dazwischen immer wieder (trotz der außergewöhnlichen Quellenlage!) Spekulationen, Vermutungen, Möglichkeiten, und dies zuweilen sogar an Stellen, an denen nun wirklich Klarheit herrschen sollte.

So manches Mal schießt Hilmes auch über das Ziel hinaus, zum Beispiel, wenn er fälschlicherweise behauptet, die Tagebücher Felix Mottls erstmals auszuwerten. Dieses Verdienst gebührt nicht ihm, sondern Frithjof Haas, der die Tagebücher zur Grundlage seiner Mottl-Biografie gemacht hat (Frithjof Haas: "Der Magier am Dirigentenpult. Felix Mottl.", Karlsruhe 2006).

Andererseits vermisst man immer wieder Kommentare, Stellungnahmen und Erläuterungen. So etwa, wenn der Grund für das Zerwürfnis zwischen Friedrich Nietzsche und Wagner nicht weiter hinterfragt wird oder wenn der massive Plagiatsvorwurf gegen Houston Stewart Chamberlain im Zusammenhang mit dessen 'Grundlagenwerk' ohne jeden weiteren Kommentar im Raume stehen bleibt.

Und schließlich lassen sich das eine ums andere Mal Ungenauigkeiten ausmachen, die sich ein Werk mit wissenschaftlichem Anspruch, wenn überhaupt, nur in homöopathischen Dosen leisten sollte. So finden sich nicht nur gewisse Diskrepanzen zwischen genannter und bibliografierter Literatur, sondern auch Unsachlichkeiten, beispielsweise bei der sensationalistisch-makaber anmutenden Darstellung von Franz Liszts Tod, oder unrichtige Angaben, wie die zur Verortung der Bayreuther Nibelungenkanzlei.

Ein Phänomen des Hilmes'schen Werkes, das ja explizit bestehende Lücken zu schließen trachtet und neue Erkenntnisse vermitteln will, ist das wortreiche Wieder-Ausbreiten von bereits bekannten, aber nicht gänzlich aufgeklärten Affären, Gerüchten und Spekulationen von mäßiger bis geringer Wichtigkeit, zu denen nach geduldigem Durchblättern aller möglichen Quellen nichts Neues beigetragen wird. Ein Beispiel dafür ist die Affäre Carrie Pringle, die auf mehreren Seiten wieder aufgerollt wird, um schließlich festzustellen, dass weder Cosimas Tagebücher, noch die ihrer Tochter Daniela, dazu die fehlenden Erkenntnisse oder doch wenigstens Teile davon zu geben imstande sind.

Überhaupt sind gerade Cosimas Tagebücher (den Kenner derselben wird das kaum überraschen) umso spärlicher in ihrem Informationswert, je konkreter die Frage ist, die man an sie richtet. Diese Erfahrung macht auch Hilmes mehrfach, so zum Beispiel, als er Cosimas Aufzeichnungen zu ihrer Beteiligung an der zweiten Veröffentlichung von Wagners "Das Judentum in der Musik" (1869) 'befragt' und erstaunt feststellt, dass die Aufzeichnungen der Meisterin gerade "in dieser Hinsicht zu vage" sind.

Was nun aber die Hauptperson selbst betrifft, so bestand der ursprüngliche Anspruch des Autors ja darin, ein klares Bild der Cosima Wagner zu zeichnen. Ist dies gelungen? In Ermangelung einer eindeutig bejahenden Antwort muss davon ausgegangen werden, dass das nicht der Fall ist. In der Tat ist das transportierte Cosima-Bild sehr uneinheitlich: zuweilen verschwommen, manchmal gar nur flüchtig, auch fratzenhaft, und immer wieder äußerst ambivalent. Vielleicht ist es gerade darin noch am ehesten wirklichkeitsnah, aber gerade deshalb auch alles andere als klar. Man fragt sich immer wieder, ob Cosima nun Täterin oder Opfer war, und erkennt bei genauerem Hinsehen eine gewisse psychologisch-simplifizierte Entwicklung, denn das Opfer Cosima des ersten Teils wird zur Manipulantin des zweiten und zur Täterin Cosima des dritten Teils - oder etwa doch nicht?

Zuweilen lesen sich die Ausführungen wie die verbissene Suche nach dem Ursprung des Bösen, nach Entwurzelung, Kindheitstraumata und falschen Erziehungsmethoden, nach Antisemitismus und manipulativen Frauenfiguren, nach schwarzen Schafen, die 'schuld' sind an - ja, an was eigentlich? Vielleicht an Hitlers Bayreuth? Dies suggeriert der Autor nämlich bereits in seinem Prolog, in dem er seine Biografie als Vorgeschichte von Brigitte Hamanns Winifred-Biografie (Brigitte Hamann: "Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth", München 2002) vorstellt. Sollte hier etwa versucht worden sein, die im "Dritten Reich" bestehende Intimität des Bayreuther Wagner-Clans zur herrschenden Schicht, oder präziser formuliert die enge Freundschaft zwischen Winifred Wagner und Adolf Hitler aus der historischen Persönlichkeit Cosima Wagners, und nur aus ihr, herzuleiten? Zuzutrauen wäre es dem Autor, denn schließlich ist in seinen Augen Thomas von Kempens Andachtswerk "De imitatione Christi" (ca. 1418) schuld an Cosimas moralischem Masochismus - und Cosima wiederum trägt die Schuld an der Frigidität ihrer Tochter. Wenn doch die Dinge nur immer so einfach wären!

Dabei ist das Buch insgesamt und einschließlich des Apparates sehr gut lektoriert, auch wenn der eine oder andere Lapsus übersehen wurde, so beispielsweise das 'Pesonenregister' im Inhaltsverzeichnis, das es mittlerweile bis in die vierte (!) Auflage geschafft hat. Sprachlich überzeugt ein sehr guter Stil, der aber leider einige Schönheitsfehler in Form von aufgesetzt wirkenden Floskeln, Mode- und Lieblingswörtern (zum Beispiel "verquaste Ideologie", "wabern" [Gerüchte, Verdacht], "peanuts" [Pluralwort!] "Trabanten" [für Cosimas Kinder], "Heugabelduelle", "Managerin", "Politbüro") aufweist.

Weniger überzeugend ist dagegen die eigenwillige Zitierweise, die alle Zitate nicht kursiv und in Anführungszeichen, die Zitate Cosimas hingegen kursiv und ohne Anführungszeichen setzt. Mangels eines entsprechenden Hinweises durchschaut dies der insistent-neugierige Leser aber erst nach einer gewissen Anzahl gelesener Seiten. Unschön, weil mit dem größten Blätteraufwand verbunden, sind auch die als Endnoten kapitelweise sortierten Fußnoten. Zudem fehlt zur Abrundung des Anhangs eine Zeittafel.

Relativieren wir: Hilmes' Buch ist für Biografie-Freunde eine gut lesbare, weil flüssig geschriebene Darstellung einer interessanten und im positiven wie im negativen Sinne facettenreichen Persönlichkeit der deutschen Kulturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Das Werk reiht sich damit, und hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander, nahtlos in die Reihe genau jener neueren Biografien über Bayreuther Persönlichkeiten ein, auf die Hilmes in seinem Prolog so verächtlich herabsieht. Dabei verhält sich sein selbstbewusstes, fast reißerisch anmutendes 'self marketing' zur Seriosität des historisch Fundierten wie der Teufel zum Weihwasser: "Wir [...] lesen von sexuellen Eskapaden, tückischen Erpressungsversuchen, Schweigegeldzahlungen, Selbstmorden, unehelichen Kindern [und] dubiosen Machenschaften [...]." Spätestens an dieser Stelle fragt man sich auch, weshalb sich Hilmes eigentlich so überaus abschätzig über Köhlers Cosima-Biografie äußert.

Der wissenschaftlich interessierte Vielleser wird aber letztendlich nicht nur in seinen Erwartungen enttäuscht, sondern ist auch unangenehm berührt von dieser merkwürdig anmutenden Melange von einem Zuviel an wenig aussagekräftiger Spekulationssemantik, gepaart mit einer morbid-subtilen, verhohlen-voyeuristischen Freude am sexuell Nicht-Normativen (vor allem der männlichen Homosexualität im Gerüchte- und Halbwahrheitenstatus), das Ganze gebettet auf einen Teppich von wiedergekäuten Spekulationen zu Nebensächlichkeiten und lokalisiert im Dunstkreis einer antisemitischen Oase namens Bayreuth. Hat sich dafür das (sicher mühsame und alles andere als kurzweilige!) Studieren der Cosima-Briefe und aller anderen genannten Quellen wirklich gelohnt?

"Was sie [Cosima] nicht ans Licht lassen wollte, durfte niemals aus dem Dunkel des Archivgewahrsams." Dieser Ausspruch, dem Journalisten und leidenschaftlichen Wagner-Kritiker Maximilian Harden zugeschrieben, ist Hilmes' Biografie als Motto vorangestellt, entpuppt sich aber bald als prophetisches Leitmotiv mit umgekehrtem Vorzeichen. Denn vieles ist, den angeblich umfassenden und immer wieder angeführten "bislang unbekannten Quellen" zum Trotz, immer noch im Dunklen geblieben und wird auch weiterhin dort verharren.


Titelbild

Oliver Hilmes (Hg.): Herrin des Hügels. Das Leben der Cosima Wagner.
Siedler Verlag, München 2007.
496 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783886808366

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch