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"Das Museum der Unschuld" - der neue Roman von Nobelpreisträger Orhan Pamuk

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Er hat neue Symbole für den Zusammenprall und die Vernetzung von Kulturen gefunden", hieß es vor zwei Jahren in der Begründung des Stockholmer Nobelpreiskomitees, als dem türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk die wichtigste Auszeichnung der literarischen Welt verliehen wurde.

So geht es auch in seinem neuen Roman "Das Museum der Unschuld" um die Gratwanderung zwischen europäischer und traditionsorientierter türkischer Lebensweise. Was für Heinrich Böll einst Köln war und für die Frühwerke von Günter Grass dessen Geburtsstadt Danzig, ist für Pamuk Istanbul - das Zentrum seines literarischen Werks.

Bei Handlungsbeginn dieses unkonventionellen Bildungsromans befinden wir uns in den 1970er-Jahren in der Bosporus-Metropole und verfolgen das Leben des 30-jährigen Unternehmersohnes Kemal Basmaci, der gleich zu Beginn des Romans den "glücklichsten Moment seines Lebens" erlebt. Dieses subjektive Glücksgefühl zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman - trotz aller Rückschläge, Verletzungen und schmerzlicher Niederlagen. Auf der letzten Seite konstatiert Kemal: "Jeder soll wissen, dass ich ein glückliches Leben geführt habe."

Nach all dem, was wir auf den dazwischen liegenden 550 Seiten gelesen haben, wirkt dieses Lebensfazit in höchstem Maße selbstironisch. Kemal pendelt anfangs zwischen zwei Frauen. Mit der aus reichem Elternhaus stammenden Sibel ist er so gut wie verlobt, doch plötzlich begegnet er der 18-jährigen Füsun, die sein gesamtes Leben auf den Kopf stellt.

Füsun jobbt als Aushilfe in einer Boutique, in der Kemal für Sibel eine Handtasche kaufen will, deren Preis dem halben Jahresgehalt eines Angestellten entspricht. Fortan beginnt Kemal ein Doppelleben, er begehrt beide Frauen. Doch nach seiner prunkvollen Verlobung gibt ihm die junge Verkäuferin einen Korb. Sie fühlt sich in ihrem Stolz verletzt, meidet fortan jeden Kontakt zu Kemal und heiratet später den unsympathisch und äußerst unattraktiv gezeichneten Regisseur Feridun.

Trotzdem sucht Kemal noch viele Jahre (beinahe zwanghaft) Füsuns Nähe. Gefühl und Verstand fechten einen inneren Kampf in ihm aus. Das wirkt extrem selbstquälerisch, denn Kemal weiß um die Unerreichbarkeit von Füsun.

Das zweite große Thema des Romans ist die manische Sammelleidenschaft des Protagonisten, die erstaunliche Ausmaße annimmt. So etwa trägt der Verliebte 4213 Zigarettenstummel seiner Angebeteten zusammen, weil diese von ihr einmal berührt wurden. Er versucht - und da wird es sogar komisch - anhand der Verformungen der Stummel, Rückschlüsse auf Füsuns jeweilige Gemütslage zu ziehen. Kemal glaubt (es klingt beinahe mystisch) in einer "Welt von Zeichen zu leben, die alle auf Füsun verwiesen." Kemals Sammelsurium und seine geradezu detektivischen Aufzeichnungen über Füsuns Lebensgewohnheiten haben kompensatorischen Charakter. Sie bieten ihm (je nach eigener Stimmung) Trost und Schmerz.

Der 56-jährige Nobelpreisträger Orhan Pamuk arbeitet selbst an einem "Museum der Unschuld". Sein Ziel ist es, viele Dinge des Romans auch in der Realität zugänglich zu machen. Das entsprechende Haus dafür hat er bereits gekauft - in einer Straße, die auch im Roman vorkommt. Für 2010, wenn Istanbul europäische Kulturhauptstadt sein wird, ist die Eröffnung geplant.

Pamuk legt mittels der unglücklichen Dreiecksbeziehung eine vielschichtige Gesellschaftsanalyse vor, in der es um Ehre, Jungfräulichkeit und das Pendeln zwischen türkischer Tradition und europäischer Moderne geht. Aus dem privaten Mikrokosmos der Familien zieht er immer größere erzählerische Kreise und beleuchtet die inhomogene Istanbuler Gesellschaft.

Diese Zerrissenheit spiegelt sich auch in den drei Hauptfiguren wider. Kemal, Füsun und Sibel sind Individuen voller Widersprüche. Die gebildete Sibel, die einst an der Sorbonne studiert hat, kennt nicht einmal den im Roman selbst auftretenden Nobelpreisträger Pamuk, und die stolze Traditionalistin Füsun hat als 16-jährige an einem fragwürdigen Schönheitswettbewerb teilgenommen.

Ob die an Statussymbolen orientierte gebildete Oberschicht oder die in ihren Alltagsriten gefangenen, traditionalistischen Mittelschichtler: Pamuk raubt ihnen allen auf künstlerische Weise ihre Unschuld. Sie alle sind innerlich gespaltene Suchende und schweben orientierungslos zwischen individuellen Sehnsüchten und normativen Zwängen der Gesellschaft.


Titelbild

Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld.
Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Carl Hanser Verlag, München 2008.
476 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446230613

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