Reisen bildet nicht

Parag Khanna überfliegt den Globus

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mitarbeiter der Weltbank sagen im Scherz, sie würden niemals behaupten, sich in einem Land auszukennen, das sie nicht wenigstens überflogen hätten." Sieht man sich die Ergebnisse der vom Westen aufgezwungenen Wirtschaftspolitiken an, so könnte man vermuten, dass es sich um keinerlei Scherz handelt. Wie auch immer: Parag Khanna, der dieses Bonmot zitiert, will eine solche Oberflächlichkeit gerade vermeiden. Er fordert dagegen "wie ein bestimmtes Land zu denken, und sich in seine Lage hineinzuversetzen."

Zwar denken Länder nicht, sondern nur die Menschen, die sich in ganz verschiedenen Lagen befinden. Auch ist es nicht einfach, auf etwa 600 Seiten alle Staaten der "Zweiten Welt" zu skizzieren. Als "Zweite Welt" gelten Khanna jene Länder, die (noch) keine voll entwickelten Industrieländer sind, aber auch nicht als "Dritte Welt" der Weltwirtschaft allenfalls als Rohstofflieferanten oder Mülldeponien dienen, ohne Aussicht auf eine selbsttragende Perspektive. Bei ihm geht es um Osteuropa, Mittelasien, die Türkei, Nordafrika, die arabischen Länder, Südamerika und Südostasien. Im Detail mag die Auswahl verwundern: Indien wird mit allzu knapper Argumentation der "Dritten Welt" zugeschlagen und Südafrika ist nur beiläufig erwähnt. Dass dagegen ein ruiniertes Land wie Birma zur "Zweiten Welt" gehören soll, könnte man bestreiten.

Jedenfalls lässt es die Anlage des Buchs nicht zu, sich in die Perspektive irgendwelcher Länder oder einiger ihrer Bewohner hineinzudenken. Khanna hat alle diese Staaten bereist und die Erfahrungen auf höchstens zwanzig, meist aber eher drei bis fünf Seiten eingedampft. Nur noch Satzfetzen suggerieren plump Authentizität: "räumte ein hoher Beamter des Außenministeriums ein, während er in einer vornehmen Hotellobby nervös andere Angehörige der Führungsschicht grüßte", oder: "meinte ein vietnamesischer politischer Beobachter an einem drückend heißen Tag in Hanoi."

So etwas ist unbrauchbar - wie auch Teile der allzu eiligen Übersetzung des Buchs, dessen Original auch in den USA erst 2008 erschienen ist. Khanna erhebt den Anspruch, Grundlinien der Weltpolitik im 21. Jahrhundert zu skizzieren; so sollte das Ergebnis wenigstens bis zum folgenden Buchmesseprogramm Bestand haben. Schlechte Poesie wie der "kalte Nebel der Angst", der angeblich in Sarajewo wabert, hätte man zwar auch mit einem weiteren Korrekturgang nicht vermeiden können, aber vielleicht sinnlose Sätze wie: "Vor 4000 Jahren verkörperten die ägyptischen Pharaonen den Gipfel der menschlichen Kultur, aber ihre Lebensweise war vom Nil geprägt, dem zweitlängsten Fluss der Erde, der sich aus zwei Flüssen speist, deren Quellgebiet in Äthiopien beziehungsweise Burundi liegt." Man kann freilich nur mutmaßen, ob dem Satz im Original etwas wie ein Gedanke zugrunde lag. Immerhin, manche Vorstellungen vermögen zu erheitern: "Asiatische Werte, Islam und Demokratie brodeln alle zusammen im malayischen Kochtopf, ohne doch jemals überzukochen."

Man vermutete zwar immer schon, dass in solchen Weltgegenden Hunde und Katzen gefährlich leben; aber wenigstens die Demokratie wähnte man vorm Verzehr gesichert. Doch allzu oft musste Khanna auf seinen Reisen feststellen, was er schon früh in Osteuropa erfuhr: "Aber die Regierungen der Balkanländer wissen nicht immer, was gut für sie ist, und bekommen sich laufend in die Haare." An ihrer Stelle meint Khanna die richtigen Strategien zu kennen. Tatsächlich schreibt und urteilt er allein aus seiner Perspektive. Das ist legitim, aber eingestehen sollte man es schon.

Welches Bild der Welt entsteht? Khanna sieht drei Imperien: die USA, die EU und China, die um Einfluss in und Rohstoffe aus der Zweiten Welt konkurrieren. Für die Länder der Zweiten Welt bedeutet dies die Gefahr, zum Kampffeld zu werden, aber auch die Chance, umworben zu sein und sich bei den Konkurrenten jeweils Vorteile zu sichern.

Den drei Imperien sollen drei Modelle von Herrschaft entsprechen: den USA das Modell der ad hoc gebildeten "Koalition", der EU das des "Konsens" und China das der "Konsultation". Khanna, der vor allem für seine US-amerikanischen Landsleute schrieb, demontiert Vorstellungen von der Möglichkeit einer alleinigen US-Hegemonie und gibt nicht nur über die Voraussetzungen und Erfolge der US-Außenpolitik ein vernichtendes Urteil ab, sondern auch den inneren Zustand der USA, die er in Gefahr sieht, aus der Ersten in die Zweite Welt abzusteigen. Der innenpolitischen Warnfunktion des Buchs entspricht, dass die beiden anderen Blöcke vielleicht homogener und stabiler gezeigt werden, als sie tatsächlich sind.

Instruktiv wirken besonders die dem chinesischen Imperium gewidmeten Abschnitte. In welchem Maße China bereits in Asien und der arabischen Welt ökonomisch und politisch präsent ist, wird eindrucksvoll, doch ohne Panikmache und ideologische Scheuklappen vorgetragen. Khanna ist vorurteilsfrei genug, bestimmte Dogmen westlicher Entwicklungspolitik beiseite zu lassen. Ein Aufstieg ist nur dort möglich, wo der Staat in der Wirtschaft eine große Rolle spielt. Auf der anderen Seite des Globus führt Khanna den relativen ökonomischen Erfolg Chiles nicht, wie üblich, auf den Liberalismus der Pinochet-Diktatur zurück, sondern sieht die Grundlagen schon in der Zeit davor und selbst unter der Regierung des Sozialisten Salvador Allende ausgebildet.

Demokratie ist keineswegs geringgeschätzt, doch vor dem Hintergrund historischer Möglichkeiten gesehen. In dieser Sicht erscheint China, bei allen Problemen, weniger als rückständig denn als sich langfristig entwickelnd. Bestimmte Hysterien, wie etwa die Begeisterung für ein freies Tibet, teilt Khanna nicht. Ein Blick in den Atlas zeigt unter geostrategischem Gesichtspunkt die Bedeutung der Provinz: Sie ist Chinas Landverbindung zu den mittelasiatischen Rohstoffen und damit, aus Sicht der konkurrierenden Imperien, ein verletzbarer Punkt des Gegners.

Man erfährt auch manches Interessante über Staaten, die sonst am Rande der Aufmerksamkeit stehen. Doch fragt sich, wenn man auf den Teil zu Europa blickt, wie zuverlässig das Berichtete ist. Dass sich die griechische Militärdiktatur, die von 1967 bis 1974 herrschte, Geplänkel mit Makedonien geliefert habe, ist angesichts dessen, dass es diesen Staat erst seit 1991 gibt, nicht recht überzeugend. Etwas großzügig zählt Khanna, wenn er mit dem Beitritt Zyperns, der Tschechischen Republik, Estlands, Ungarns, Lettlands, Litauens, Maltas, Polens, der Slowakei und Sloweniens zur EU dieser an einem einzigen Tag über 100 Millionen neue Bürger zuschreibt; grob gerechnet, dürfte es sich um 73 Millionen handeln. Kurzerhand schreibt er über die Außenpolitik der EU - als schlügen nicht die Staaten der Union in wichtigen Fragen immer wieder unterschiedliche Wege ein. Das mag auch daran liegen, dass Großbritannien, jedenfalls in Khannas Welt, ähnlich Russland und der Türkei eine "privilegierte Partnerschaft" mit der EU anstrebt. Dass der Euro nicht das Zahlungsmittel in der EU, sondern in einigen ihrer Staaten ist, mag aus der fernen US-Perspektive noch nicht aufgefallen sein. Wahrscheinlich also überprüft man auch die Nachrichten aus anderen Teilen der Welt besser nicht allzu genau.

Zudem irritieren Widersprüche. Verschmelzen die imperialen Zentren mit ihren Peripherien, wie die USA mit Lateinamerika? Das behauptet die Einleitung, während im Lateinamerika-Abschnitt gerade betont wird, dass der US-Einfluss dort abnehme. Beruht das wirtschaftliche Wachstum in Ostasien auf dem Fehlen jedweder Risikoscheu, oder gehen, gerade einmal acht Seiten später, die Asiaten "an Bord des Globalisierungsflugzeugs, allerdings mit angeschnallten Sicherheitsgurten"?

Zuweilen feiern trübe kulturalistische Stereotype fröhliche Auferstehung. Der Libanese, zum Beispiel, ist "leidenschaftlich und zugleich oberflächlich, egoistisch und fatalistisch, gebildet und materialistisch, dekadent und rastlos". Damit aber ist er immerhin erfreulicher als der "Homo balcanicus, der in seinem Gehabe etwas von einem Schlägertyp hat" und "die Motoren seiner PS-starken Autos und Motorräder aufheulen" lässt. Man wünscht sich an solchen Stellen, Politikwissenschaftler blieben zuhause an ihren Schreibtischen und verbrächten nicht lärmgeplagt Nächte in irgendwelchen Belgrader Hotels. Selbst das aber schützte nicht vor Erkenntnissen wie den folgenden: "Da China sich als Hüter der Wahrheit betrachtet, werden Kompromisse mit anderen Mächten eher als taktische Schachzüge denn als wechselseitig bindende Versprechen betrachtet." Dass Kompromisse ebenso lange halten wie das Machtverhältnis, das sie erzwang, soll indessen auch in anderen Weltgegenden schon beobachtet worden sein.

Man möchte ja wohlwollend sein. Khanna, der in den USA als "Director of the Global Governance Institute" amtiert, mag Bush nicht und ist wohl auch im Vergleich zur Außenpolitik der Clinton-Zeit als Linksabweichler einzuordnen. Er glaubt weder an das Dogma des vorgeblich segensreichen Neoliberalismus noch an die Menschenrechtsrhetorik, die nur dann zum Einsatz kommt, wenn es konkurrierende Mächte zu bekämpfen gilt. Er hat sogar eine Ahnung von sozialen Menschenrechten, die ärmere Staaten manchmal als zweitrangig behandeln müssen, um politische Rechte zu garantieren. Er hofft auf den Wohlfahrtsstaat.

All das verweist sicher auf die einzige Alternative zur herrschenden Barbarei. Doch verführt dies Khanna nicht nur zum verklärenden Blick auf die EU, wo tatsächlich die Führungsmacht Deutschland eben durch Sozialabbau ihre intern überlegene Position festigt und sich Beitrittskandidaten einem rigiden Programm der Entstaatlichung unterziehen müssen. Die Kräfteverhältnisse der Welt sind so nur sehr bedingt zu erfassen. Man mag Khannas Buch, mit einem gewissen Misstrauen, den einen oder anderen Gedanken entnehmen, doch bleibt es bei einer allzu oberflächlichen Wahrnehmung.


Titelbild

Parag Khanna: Der Kampf um die Zweite Welt. Imperien und Einfluss in der neuen Weltordnung.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt.
Berlin Verlag, Berlin 2008.
623 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783827005991

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