Dass Nichts geschieht und nicht etwa Etwas

Christoph Geisers Vollendung des Scheiterns

Von Sarah PogodaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Pogoda

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Relativ früh stellt Christoph Geiser in seinem neuen Buch "Wenn der Mann im Mord erwacht. Ein Regelverstoß" klar, was der Leser im Folgenden erwarten darf und was nicht: "Wir hätten's doch eigentlich, meinen Sie nicht?, mit Figuren zu tun, und die sollten, meinen Sie, womöglich rund sein? Abgerundet, mein' ich, in rundlicher Prosa - und wenn schon nicht rundlich, abgerundet, in sich geschlossen & ruhend, ausgereift, mein' ich, (...( so doch zumindest dargestellt in ihrer Entwicklung & Verwandlung; quasi biographisch, womöglich psycho-logisch, der Einfühlung halber, entwicklungs-psychologisch gar, um der Menschenbildung willen - und uns, um Himmels willen!, reizte nur die Morphä? die Morphosis? Ihre Um-Gestaltung allenfalls, rein morphologisch, ja physio-logisch, als bewegten wir uns nicht einmal mehr im Reiche der Bilder, geschweige denn eines anständigen Menschenbildes, sondern - der Insektenkunde womöglich?"

Um einen bürgerlichen Bildungsroman kann es sich bei diesem "Regelverstoß", so die Zusatzbezeichnung im Untertitel, also wohl kaum handeln. Für Kenner von Geisers Werk ist solch ein Verfahren kaum noch irritierend. Bereits die beiden Vorgängertexte - zusammen bilden sie die "Trilogie des Scheiterns" - "Die Baumeister" und "Über Wasser", verzichteten auf traditionelle Genrezuordnungen. Programmatisch bezeichnete Geiser "Die Baumeister" als eine "Fiktion", "Über Wasser" als "Passagen". Und auch der "Regelverstoß" bezeichnet ein poetologisches Prinzip. Erneut bricht Geiser die Konventionen des Erzählens auf, befreit Sprache, Figuren, Bilder, Bedeutungen und Erzähler und bedient sich der frisch gewonnenen Beweglichkeit mit größter "Textlust", um die Grenzen des Narrativen neu zu setzen. Infolgedessen dreht sich das Produkt dieses literarischen "Appetenzverhaltens" im Wesentlichen um sich selbst. Ohne poetologische Reflexionen ist dieser Text allerdings auch gar nicht möglich, ja er selbst ist in Gänze Poetologie, ist Textdiskurs, "als diskutierten die Bücher längst unter sich & allein! Als wär's ein Diskurs unter Büchern. Und nichts als Bücher. Und hinter lauter Büchern keine Welt? Klassisches Appetenz-Verhalten, zur Auslösung einer Triebreaktion: Stöbern & Blättern."

Wie bereits in den ersten beiden Teilen der "Trilogie des Scheiterns" handelt es sich bei dem Wir-Erzähler um einen zwanghaften Beobachter in einem Zustand annähernd totaler Verinnerlichung. Die Außenwelt ist größtenteils Beobachtungsgegenstand und Anreiz für die Fantasie, kaum aber Interaktionsraum. Diesmal befindet sich der Erzähler in einer Existenzkrise, die sich aus der Angst nährt, die Welt versäumt zu haben. "Was wir empfangen haben von der Welt in jenem Sommer, wüßt' ich nicht mehr zu sagen. (...( [K]eine Erinnerung an den Lauf der Welt in jenem Sommer, obwohl wir täglich mindestens einmal Nachrichten hörten. Keine besondre Appetenz der Welt gegenüber in jenem Sommer, wie es scheint. Als hätten wir von der Welt nichts Besonderes mehr zu erwarten. Als hätten wir der Welt nichts mehr zu bieten! Ja, nichts mehr zu sagen. Als ging die Welt uns nichts mehr an. Als hätten wir's im Grunde abgehakt. Was soll denn da noch kommen...". Unabwendbar scheint die Krise, da der Erzähler von weltlichen Ereignissen in die überlebensnotwendigen Erregungszustände versetzt wird, aus denen heraus sich erzählen lässt. Die Ereignislosigkeit globalen Ausmaßes verstärkt den Weltverlust des Erzählers und fördert damit die omnipräsente Legitimationskrise des Erzählens: Wovon und auf welche Art und Weise ist zu erzählen, wenn die Welt keine Appetenz mehr auslöst?

,Jener' Sommer übrigens, das ist der Sommer 2001, dessen hier konstatierte Ereignislosigkeit mit den Terroranschlägen am 11. September ,plötzlich' endete. Und mit diesem Ereignis, mit dem Ereignis an sich, stößt Geiser den Leser in den Kerndiskurs seines Textes. Der dreht sich unter anderem referierend auf Martin Heideggers Kunstmetaphysik, Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstandes" und Karlheinz Stockhausens ästhetischen Größenwahn, um das ,Ereignis', um das ,Sich-Ereignen' des Lebens, der Kunst, des Todes und also des Erzählens. Geiser verweigert sich dem Realismusschema des ,bürgerlichen Romans' und verläuft sich stattdessen in ästhetischen Diskursen oder biografischen Episoden mit meist sexuellem Charakter - Episoden, die nur über die Partizipation an gemeinsamen Diskursen vereint sind. Doch gerade diese Textbewegungen, diese Gedankenläufe, sind der Regelverstoß, der dem Erzähler ein Erzählen überhaupt ermöglicht. Und zugleich findet er darin zu einer qualitativ neuen Totalität der erzählten Welt: Einer Diskurstotalität.

Der Erzähler stößt während seines Wandelganges durch die Straßen und Museen Berlins und durch die eigene Vergangenheit auf populäre Diskurse der Postmoderne. So analysiert er den Anschlag auf das World Trade Center - anknüpfend an die polemischen Aussagen von Karlheinz Stockhausen und Damian Hirst - als Kunstwerk, überführt den symbolüberfrachteten void-Diskurs des Jüdischen Museums Berlin seiner inneren Widersprüchlichkeit und testet die Möglichkeiten der "Ästhetik des Widerstandes" von Peter Weiss in der heutigen Zeit aus. Vernichtende Erkenntnis des Erzählers ist nicht nur die Substanzlosigkeit und Selbstläufigkeit der Diskurse, sondern vor allem die heutige Funktion von Diskursen an sich: Sie alle sind nichts anderes als Erlösungsversprechungen, Illusionen, Fiktionen, Wahnsysteme, "Visionen des Absoluten, sei's nun der absolute Orgasmus, das (künstliche) Paradies oder das Ende der Geschichte (als ihr Diktat): auch eine abgewickelte Utopie. Fiktion! Wahn."

Die Diagnose lautet: Aufgrund der allmählichen Auflösung aller Gewissheiten und der geschlossenen Weltsysteme - seien es nun die Religionen, das Bürgertum, die politischen Utopien oder die Kunstmetaphysik - fungiert der Diskurs als neuer Ort der Welt- und Selbstvergewisserung, als Flucht aus der vermeintlich unvermeidlichen Bedeutungslosigkeit innerhalb der "Überfülle der Dinge". Damit wird die weltverlorene Erzählerfigur zum Sinnbild der postmodernen Existenz. Die nämlich lebt in Diskursen, die nur Wert haben, weil sie sich in weltlichen Gegenständen zu konkretisieren scheinen. Der Diskurs wird zum Ereignis, ist aber letztendlich nicht weniger Luftschloss, Wolkenkuckucksheim oder Illusion als das Wahnsystem eines pathologisch irren Daniel Paul Schrebers, eines religiös verwirrten Mohammed Attas, eines kunstromantisch verklärten Caspar David Friedrichs oder eines der Symbolfülle verfallenden Daniel Libeskinds - um nur einige zu nennen, die von Geiser angeführt werden.

Geiser setzt die Erkenntnis, dass sich nur noch Diskurse ereignen, in seinem neuen Text konsequent um, indem sich die Fantasie des Erzählers vor allem an den Bedeutungsdimensionen der Diskurse abarbeitet und die wirkliche Welt darin umschließt. Dabei bemüht sich der Erzähler um Gegendiskurse (gerne im Foucault'schen Sinne zu verstehen), in denen dann der 'Regelverstoß' entstehen soll. Doch dieser Versuch, wie sollte es auch anders sein in einer "Trilogie des Scheiterns", scheitert. Denn der Regelverstoß ist vom Diskurs bereits vorgesehen, der Diskurs stabilisiert seine Herrschaft durch das Gewähren dieses Verstoßes - die reglementierte Orgie, das ritualisierte Chaos. Und der Leser dieses Textes wird es bestätigen müssen: Es ist unmöglich, sich dem Erzählen zu verweigern, selbst dann, wenn sämtliche Erzähltechniken ad absurdum geführt werden, findet noch Erzählen statt.

Und hier schließt die Legitimationskrise des Erzählers den Kreis zur Frage des Ereignisses: Denn was ist Geisers Erzählen anderes als ein Sich-Ereignen von Diskursen, so vehement und polemisch auch gegen dessen Regeln verstoßen werden soll? Und birgt sich darin nicht auch ein Erlösungsversprechen? Die Rettung aus der Bedeutungslosigkeit, die sich hinter der ereignislosen Diskurstotalität verbirgt, und somit die transzendente Überwindung der Welthaftigkeit per Dichtung?


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Christoph Geiser: Wenn der Mann im Mond erwacht. Ein Regelverstoß.
Ammann Verlag, Zürich 2008.
300 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783250601098

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