Forscherdrang, Gelehrsamkeit und unerschütterlicher Liberalismus

Hans Feger und Hans Richard Brittnacher geben mit "Die Realität der Idealisten" einen feinen Tagungsband über Schiller und die Gebrüder Humboldt heraus

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sammelband geht zurück auf ein Symposium der Freien Universität Berlin anlässlich des Schiller-Jahrs 2005. Diese bestens besetzte internationale Tagung stand wiederum in Verbindung mit einer FU-Vorlesung desselben Jahres, die unter dem Titel "Die Realität des Idealisten" einen Schiller jenseits der althergebrachten Klischees hatte vorstellen wollen - als einen "modernen" Schiller, der, wie es zur Vorlesungsreihe hieß, "einen vertieften Realitätssinn hervorgebracht hat". Analog dazu ist nun der vorliegende Tagungsband mit "Die Realität der Idealisten" betitelt, wobei die Herausgeber ihre Sympathie für den Gegenstand des Interesses nicht verschweigen: "Friedrich Schiller, Wilhelm von Humboldt und Alexander von Humboldt stehen", so beschließen sie ihr Vorwort, "stellvertretend für Forscherdrang, Gelehrsamkeit, für einen unerschütterlichen Liberalismus, den Begriff eines kosmopolitischen Weltbürgertums und nicht zuletzt für die Idee einer globalen Wissenschaft, die getragen ist von einer Phantasie, der keine Grenzen gesetzt sind und die noch nicht ins Imaginäre entschwinden, sondern Realitäten erforschen will."

In drei Teile ist der Band mit seinen fünfzehn durchweg glänzenden Vortragstexten gegliedert: Der erste versammelt Aufsätze unter der Überschrift "Die Realitätsprüfung des Idealismus: Poesie, Philosophie und Naturforschung bei Schiller und den Brüdern Humboldt". Der zweite beleuchtet die - wechselseitig befruchtende - Korrespondenz zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt ("Dialektik einer Brieffreundschaft"). Und der dritte Teil schließlich ("Politik und Poesie: Konstellation einer Krise um 1800") untersucht die Auswirkungen der Revolutionsereignisse in Frankreich auf die Gedankenwelt der deutschen Idealisten, die ja, wie zu lernen ist, ebenso auch veritable Realisten waren.

Hans Feger stellt als einer der beiden Herausgeber sogleich klar, dass die tagungsleitenden Begriffe "Realismus" und "Idealismus" ihre ideengeschichtliche Kontur erst dann gewinnen, wenn ihre Herkunft aus der Philosophie Kants mitgedacht wird, derzufolge der "transzendentale Idealist" zugleich ein "empirischer Realist" ist. Von enormer Bedeutung sowohl für Schillers Bildungsprogramm, Wilhelm von Humboldts Sprachtheorie als auch für den "Realismus" der Naturwahrnehmung Alexander von Humboldts ist die Instanz der Einbildungskraft, die, so Feger, Kant in der "Kritik der Urteilskraft" "vorausgesetzt, aber nicht eigens thematisiert hat".

Einen schönen Einblick in die Nähe der Naturbeschreibungskunst Alexander von Humboldts zur Landschaftsästhetik Schillers gewährt Jörg Robert. Noch im Spätwerk ("Kosmos") habe Humboldt, obwohl er epistemologisch eine "Differenz von Ästhetik und Naturkunde" statuierte, dem "alten Bund des Naturwissens mit der Poesie und dem Kunstgefühl" aus vermittlungstheoretischer Sicht seine Reverenz erwiesen.

Jürgen Trabant steuert einen gehaltvollen chronologischen Abriss der Genese der Sprachtheorie Wilhelm von Humboldts bei: Zwar hatte Humboldt schon recht früh, im Jahr 1795, in Anlehnung an Herder die Sprache als ein wesentlich kognitives Geschehen verstanden. Doch erst die Lektüre des "Wallenstein" (1800), die in die Zeit seiner ersten Beschäftigung mit dem Baskischen fiel, eröffnete ihm die Einsicht in die poetische Natur der Sprache. Er erkennt sie "als eine Form der Einbildungskraft, also als eine Fähigkeit und Tätigkeit, welche Sinnlichkeit und Verstand synthetisch verbindet". Von nun an weiteten sich die "Grübeleien zur Sprache" aus - bis hin zu den großen Arbeiten über amerikanische Sprachen und zur Kawi-Sprache.

Der Wissensarchäologie Michel Foucaults und dem Dekonstruktivismus Paul de Mans verpflichtet, überzieht Lars Friedrich Alexander von Humboldts "Kosmos" mit einer grandiosen Wolke aus Assoziationen und Dissoziationen, dass man nur so staunt. Humboldts Opus magnum wird mit Diderots Programm der "Encyclopédie" vergleichend in Beziehung gesetzt, und Homers "Ilias" dient als die hauptsächliche Inspirationsquelle der Friedrich'schen "Kosmos"-Deutung. Am Ende lesen wir beeindruckt: "[W]enn im 19. Jahrhundert der um sich selbst drehende Blick des Erkenntnissubjekts in selbstrotierende Maschinen implementiert wird, dann kann im Darstellungscode des Homerischen Gemäldes [des Schilds des Achilleus] davon gesprochen werden, dass die Bewegungsgesetze funkelnder Sternbilder selber in den 'Bädern des Okeanos' versinken: Faraday gelingt der Nachweis von Interferenzphänomenen kraft der Elektrifizierung des 'okeanischen Fluidums'; die Hyperbolisierung des Homerischen Bildes korreliert einem 'Eintauchen der Mathematik ins Unvorstellbare'." Nicht so leicht erklärlich ist hingegen, wie dieser Beitrag sui generis dem Tagungsthema zu subsumieren war.

Die Position der Sprachtheorie Wilhelm von Humboldts im Zusammenhang des philosophischen Idealismus von Leibniz (sic!) bis Hegel lotet Tze-Wan Kwan aus. In seinem Schlusskapitel stellt er die Frage: "Was hat Humboldts Arbeit zum deutschen Idealismus beigetragen?", und formuliert: "[A]ls Idealist hat Humboldt einen Idealismus ohne Absolutum vertreten. Durch seine Sprachanalyse hat Humboldt gezeigt, wie der menschliche Geist aus dem physisch-psychologischen Lautstoff eine sprachlich codierte Welt aufzubauen vermag, in der die sinnlichsten wie auch die idealistischsten Weltgegebenheiten gleichsam zur Sprache kommen dürfen." Nun, hier wäre wie an manch anderer Stelle des ansonsten so vorzüglichen Bandes ein sorgsames Eingreifen der Redaktion oder des Lektorats wünschenswert gewesen; auch zum Schutz des Autors, der uns den herzhaften Satz übermittelt: "Heutzutage vom Geist zu reden, ist eine undankbare Arbeit."

Durch klare Anschaulichkeit und sachliche Transparenz zeichnet sich der Vortrag von Marie-Christin Wilm aus, der die Äquivokation von "Stoff" (einmal als dichterisch zu formendes Material (Roh-stoff), ein andermal als dichterisch geformtes) in der kunsttheoretischen Diskussion in und um Weimar thematisiert. Trotz aller Gemeinsamkeiten in dieser Angelegenheit habe Johann Wolfgang von Goethe auf der "realistischen" Seite dafür gehalten, dass bereits die externe, vorpoetische Wirklichkeit Stoffe von poetischer Dignität bereitstelle. Anders sei es bei Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt: Sie hätten auf der "idealistischen" Seite darauf bestanden, dass "nur die Einbildungskraft des Dichters das Material der Natur zum geformten Stoff machen kann".

Dem um 1800 brisanten Problem der "Vermittlung von Philosophie und Poesie sowie von Prosa und Poesie", in besonderer Hinsicht auf die Kontroverse zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt, gilt der Text Günter Oesterles, der allerdings einige Kenntnis der damaligen Debatten über Möglichkeit und Legitimität eines poetisch-philosophischen Stils voraussetzt. Eine subtile Schlusspointe: Humboldts spätere Hinwendung zu den Stilprinzipien der romantischen Schule sei nicht nur inhaltlich motiviert gewesen, sondern habe auch ein "sozialisationsbedingtes" Pendant gehabt: Während Schillers Sache - in den Augen Humboldts notabene - die der "angestrengte[n] Selbsttätigkeit" gewesen sei, habe er sich selbst als "Genusstyp" verstanden. Dieser Selbstcharakteristik entsprechen, so Oesterle, antiklassizistische Postulate wie etwa das des Waltenlassens von "Kraft" und "Dreistigkeit".

Als einen späten Abkömmling der Querelle des Anciens et des Modernes fasst Rolf-Peter Janz die Humboldt'sche Rezeption der Schiller'schen Werke auf und erläutert so exemplarisch die immensen Schwierigkeiten, welche die kunsttheoretische Reflexion der Klassizisten zu bewältigen hatte, um die Gleichrangigkeit von Antike und Moderne bei unbestritten existierender, wenngleich begrifflich umstrittener Verschiedenheit zu behaupten. Unter wirkungsästhetischen Aspekten habe Wilhelm von Humboldt in seiner Interpretation des "Wallenstein" den Dramenschluss im Sinne des aristotelischen Paradoxes harmonistisch gedeutet, sodass selbst dort "die Schrecken der Tragödie Lust bereiten sollen".

Ulrich Profitlich führt vor Augen, wie das Briefgespräch zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt das "Kardinalproblem der gesamten Kunstphilosophie" umrankt: ob und wie nämlich "das Ideal individualisierbar, 'darstellbar' sei", und hebt den - gemeinhin unterschätzten - Einfluss Humboldts auf die Entstehung der Schiller'schen Dichtungstheorie um die Mitte der 1790er-Jahre hervor: Den kritischen Anregungen des Brieffreundes war es zu danken, dass der Pol des "Individuellen" aufgewertet und dem Ideal der "vollkommenen Poesie" integrierbar wurde.

Auf dem gleichen Terrain wie Profitlich bewegt sich Giovanna Pinna. Ihr Beitrag "Idealität und Individuum. Zum Lyrikbegriff Schillers und Wilhelm von Humboldts" relativiert das Urteil Käte Hamburgers, demgemäß Schiller nie "eine echte Theorie der Lyrik" entworfen habe, indem sie ins Feld führt, man könne nichtsdestoweniger "auf eine im Kontext seiner spekulativen Gattungspoetik quasi genetische Prioriät der Lyrik schließen". Humboldt, der ihm im wesentlichen gefolgt sei, habe aber bald zu einem eigenständigen, psychologisch gefärbten Lyrikverständnis gefunden. Der wahre Künstler, so Pinna zusammenfassend, ist bei Schiller "derjenige, der das Universale in sich aufnimmt und es in einer bestimmten Form zu übermitteln weiß". Humboldt lege demgegenüber "den Schwerpunkt auf die individuellen Eigenschaften des Künstlers selbst, der den Inhalt mit seiner eigenen, unverkennbaren Persönlichkeit besiegeln muss".

Hans-Georg Pott widmet seinen Aufsatz "Pragmatische Anthropologie bei Kant, Schiller und Wilhelm von Humboldt" dem "dritten Charakter" aus den "Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" (3. Brief) und findet dort ein kulturkritisch-utopisches Zentrum des Humanitätsideals: Inmitten des entfremdeten, falschen Lebens pflege der "gebildete Weltmann", eine Nobelexistenz zwischen dem "roh Sinnlichen" und dem "rein Sittlichen", den Vorschein des richtigen. Die "schöne Kunst des kultivierten Umgangs" mit Musik und Tanz und gutem Essen als Statthalterin der, wie es bei Schiller heißt, "unsichtbaren Sittlichkeit"! So lässt man sich den Idealismus wohl gefallen.

Als mit der Philosophie der Pädagogik befasste Wissenschaftlerin sieht Yvonne Ehrenspeck das auf "Bildsamkeit" des Zöglings setzende Erziehungsprogramm Johann Friedrich Herbarts in der Nachfolge der Schiller'schen Kant-Rezeption. Hatte Schiller Kants Postulat: "das Schöne ist das Symbol des Sittlich-guten" (KdU § 59), aus dem transzendentalphilosophischen Ursprungskontext herausgelöst und in "die Dimension des Handelns" überführt, so schließt die Herbart'sche Pädagogik daran an, indem sie, den praktisch-pädagogischen Vollzug im Visier, das ästhetische Urteil als essentiell für die Persönlichkeitsentwicklung erkennt.

Mit sprachlicher wie konzeptioneller Luzidität rekonstruiert Klaus L. Berghahn die biografischen und zeitgeschichtlichen Voraussetzungen des Gedankens Schillers, wonach es "die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert". Man habe die frühen Dramen ("Die Räuber", "Fiesco" und "Kabale und Liebe") nicht so sehr als Aufruf zur politischen Revolution, sondern eher als Explikation der "Dialektik von Macht und Freiheit" anzusehen. Demzufolge ist Schillers spätere Ablehnung des Jakobinismus und sein Programm der Befreiung zur Freiheit durch Kunst qua "Veredlung des Charakters" kaum als eine gründliche Revision früherer Positionen zu werten. Berghahn resümiert: "Der Schein der Kunst leuchtet den Raum künftiger Möglichkeiten aus und eröffnet neue Perspektiven. Er erfrischt, stärkt und motiviert den handelnden Menschen. Das ist mehr, als je von der Ästhetik erwartet wurde, sie wird politisch und utopisch."

Terence James Reed fragt nach dem werkgeschichtlichen Status des Epigramms "Würde des Menschen" ("Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen, / Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst."), das nicht nur innerhalb der mit Goethe gemeinsam verfassten "Xenien" prima facie ein materialistischer Solitär ist. Tatsächlich aber revitalisiert sich hier Schillers früher antiidealistischer Impuls, der schon in seiner medizinischen Dissertation ("Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen") erkennbar war und der nunmehr, im Jahr 1797, da Schiller als "bestallter Akademiker" sich "in den Bahnen der höheren Theorie" bewegte, gleichsam trotzig gegen die professoralen "Hypersubtilitäten" rebelliert.

Der Mitherausgeber Hans Richard Brittnacher nimmt sich unter der Überschrift "Agonie und Anomie" Schillers Fragmente "Der Geisterseher" und "Die Polizey" vor und arbeitet heraus, wie sich der "vormals rebellische Dichter" angesichts der Erosion der alten aristokratischen Ordnung einerseits und des "Terrors" der Französischen Revolution andererseits sowohl vom Rousseau'schen Optimismus als auch von der Idee des politischen Liberalismus à la Wilhelm von Humboldt ernüchtert verabschiedet und - skeptischen Blicks - einem "starken Staat" das Wort redet: "Schiller scheint Einschränkungen der Freiheit aus Angst vor einer nicht mehr kontrollierbaren Entropie der Masse und im Interesse des sozialen Friedens in Kauf zu nehmen."

Am Ende also ein im Feuer der Französischen Revolution geläuterter Schiller. Da hat man nun allen Grund zu fragen, ob und inwiefern dieser Befund mit dem eingangs verliehenen Prädikat des "unerschütterlichen Liberalismus" zusammenstimmt. Doch bietet das besprochene Buch Material genug, auch dieser Frage mit soliden Erkenntnismitteln ausgestattet zu begegnen. Belehrt und dankbar stellt der Rezensent ein geisteswissenschaftliches Werk höchster Güte ins Bücherregal, und zwar in die Abteilung "Besonders wiederlesenswert".


Titelbild

Hans Richard Brittnacher / Hans Feger (Hg.): Die Realität der Idealisten. Schiller und die Gebrüder Humboldt.
Böhlau Verlag, Köln 2008.
284 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-13: 9783412201487

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