Das Rätsel der biologischen Nützlichkeit von Sexualität

Stephanie Catani und Friedhelm Marx geben einen Sammelband über Beziehungen im Werk Ulrike Draesners heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gelegentlich treten AutorInnen in einem Buch sowohl als Behandelte als auch selbst als Beitragende auf, wie Ulrike Draesner unlängst in dem von Simone Irmer und Marcel Schellong herausgegebenen Sammelband "München lesen".

Noch seltener kommt allerdings vor, dass dies innerhalb weniger Monate gleich in zwei Bänden der Fall ist. Draesner hat dieses kleine Kunststück vollbracht. Ermöglicht wurde es ihr durch die Poetikprofessur an der Universität Bamberg, deren Abschluss Anlass für einen von Stephanie Catani und Friedhelm Marx herausgegebenen Sammelband bot, der sich unter dem Titel "Familie Geschlechter Macht" dem Werk der professoralen Literatin widmet, die den Band selbst mit einem Beitrag über ihren Weg "von der Wissenschaft zum Schreiben" eröffnen durfte. Ein Weg, der sie mit den Bamberger Vorlesungen zwar schließlich wieder an die Universität zurück, jedoch keineswegs im Kreis führte.

Erschien die Universität Draesner zu Beginn ihrer Studienzeit nicht als "gesteigerte Schule", sondern als "der Ernst des Lebens" selbst, so sieht sie in ihrem Studium heute eine "Vorbereitungszeit auf das Schreiben", ein "Schutzschild, unter dem ich mich verpuppen und umwandeln konnte." Dabei klagt sie noch im Rückblick über "die Vorstellungslosigkeit in den Köpfen meiner Professoren davon, was es heißt, selbst zu schreiben" - und man wundert sich darüber, dass diese ihre Karriere noch ohne rege wissenschaftliche Publikationstätigkeit betreiben konnten. Oder sollte Draesner hier etwa nur vom literarischen Schreiben sprechen? Eines jedenfalls hat sich seit Draesners Studienzeit gründlich geändert: Dass man, wie sie ihrerzeit, studiert, "um anders als materiell davon zu leben", werden heute wohl nur noch wenige Studierende nachvollziehen können. Noch weniger dürften es sich leisten können. Ganz abgesehen davon, dass dem die Bachelor-Verschulung des Studiums entgegenstünde.

Die in dem vorliegenden Band versammelten wissenschaftlichen Beiträge gelten den Geschlechterbeziehungen und -konstruktionen in Draesners Werk. Sie befassen sich vornehmlich mit der Lyrik, so die Beiträge von Rolf-Bernhard Essig und Karen Leder, und mit "Spiele", dem letzten Roman der Autorin, dem sich mit Michael Braun, Oliver Jahraus und Monika Schmitz-Emans gleich drei Beitragende zuwenden. Das HerausgeberInnen-Duo vergleicht die "Grenzüberschreitung" des Inzests in den Werken von Draesner und Thomas Mann (Marx) und geht der "Dekonstruktion der Geschlechterbinarität" Draesners Roman "Mitgift" nach (Catani).

Im Vorwort konstatieren beide, Ulrike Draesner radikalisiere die literarische Gestaltung einer sozialen Identitätssuche, die vor dem Hintergrund "[v]eränderte[r] Familienstrukturen, die im Begriff der 'Patchwork-Familie' einen Ausdruck gefunden haben, naturwissenschaftliche[n] Experimente[n], psychische[n] und körperliche[n] Grenzerfahrungen sowie d[er] Auflösung tradierter Geschlechterrollen" notwendig werde. Draesners Figuren seien "gezwungen, Familien- und Liebesbeziehungen sowie die Bedeutung von Sexualität im Zeitalter der Gentechnologie und jenseits keineswegs mehr selbstverständlicher biologischer Nützlichkeit neu zu definieren." Was Catani und Marx mit der gewundenen Formulierung von der selbstverständlichen biologischen Nützlichkeit der Sexualität meinen, will sich allerdings auf den ersten Blick nicht so recht erhellen. Doch nicht etwa Kinder?


Titelbild

Stephanie Catani / Friedhelm Marx (Hg.): Familien - Geschlechter - Macht. Beziehungen im Werk Ulrike Draesners.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
156 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835303423

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